Derek Zanetti legte 2009 in Pittsburgh los, versteckte seine Solo-Aktivitäten (ein Mann, seine Lieder und seine Gitarre) hinter der Namenskulisse eines aus Obdachlosen bestehenden Chores, ist eng mit den Polit-Punks ANTI-FLAG befreundet und wird von denen protegiert, zuletzt war er im Januar 2020 mit denen auf Tour. Zudem veröffentlichte er seine beiden letzten Alben auf deren A-F-Label. Das neue, „This Land Is Your Landfill“, kommt allerdings auch über das UK-Label Hassle und man muss kein Hellseher sein, um eine Idee davon zu bekommen, dass es nach zehn Jahren nun endlich mal ein bisschen weiter nach oben gehen könnte für Derek, der auf diesem Album mit einer „richtigen“ Band zusammenarbeitet.
Du bist weder obdachlos noch spielst du Gospelmusik, und da du allein auf einer Bühne stehst, zählt das nicht wirklich als Chor. Also ...?
Es geht mehr um die Idee. Punkrock soll ein gemeinschaftliches Unterfangen sein, deshalb hat sich das Bild eines – nicht religiösen – Gospelchors für mich gut angefühlt. Eine Gruppe Fremder, die gemeinsam Lieder der Hoffnung singen. Ein Haufen Spinner auf Reisen. Und ja, in den letzten zehn Jahren war ich als Solokünstler unterwegs. Und ich war in der Lage, auf Tour zu gehen, zu reisen und mir meine kühnsten Träume zu erfüllen, nur durch mich und meine Gitarre. Jetzt ist die Zeit reif, die Songs mit einer lauten, schnellen, krassen Punkrock-Band zu präsentieren.
Du trittst auch immer noch solo auf, aber das neue Album ist weitgehend eine Band-Sache. Du hattest früher schon „Band-Lieder“, aber wie organisierst du den Wechsel zwischen beidem? Und was ist mit den „Publikumserwartungen“? So ein akustischer Liederabend ist ja nicht dasselbe wie ein Punk-Konzert.
Es war einfach irre, vom Solo-Auftritt zur vollen Band zu wechseln. Letztes Jahr haben wir 31 Shows zusammen gespielt und die Resonanz war umwerfend. Wir buchten eine erste Serie von Shows mit RAMONA, einer Band auf Red Scare Industries, in lauter kleinen DIY-Clubs mit unseren Freunden und treuen Unterstützern. Wir spielten in Cafés, Proberäumen, Plattenläden, überall dort, wo wir eine coole Show veranstalten konnten. In meinem Kopf existierten die Songs immer als komplettes Bandarrangement. Ich freue mich, dass ich jetzt auch anderen zeigen kann, wie es in meinem Kopf klingt. Dazu kommt die Direktheit der Texte. Ich glaube, das ist es, was die Leute packt und in den Song hineinzieht. Durch die Band wirken die Stücke einfach viel einladender und ansprechender. Als ich hörte, wie gut sie als Band funktionieren, wusste ich, das wird etwas Besonderes.
Ich war ziemlich beeindruckt von der Show mit ANTI-FLAG, wie du die Menge im Griff hattest. Was ist der Trick, um mit dem Alleinsein auf einer großen Bühne umzugehen?
Ich schlottere vor Angst, kotze meine Eingeweide aus und schwitze erbärmlich. Wenn ich cool, ruhig und gesammelt wirke, ist das ein Schock für mich. Ich versuche, jeden Auftritt, ob groß oder klein, wie eine Keller-Punk-Show zu gestalten: intensiv und aufregend, einladend und überwältigend. Ich möchte zum Publikum eine Verbindung aufbauen, die über die oberflächliche Beziehung zwischen zahlendem Zuschauer und Band hinausgeht. Wenn Punkrock wirklich eine egalitäre Angelegenheit ist, in der wir alle zusammen ein gemeinsames Ziel verfolgen, dann sollten wir uns doch kennen lernen, oder? Bringt euch ein, schließt Freundschaften, leistet euren Beitrag für die Gemeinschaft. Wenn wir als Fremde kommen und als Fremde gehen, haben wir eine große Chance vertan, das Leben eines anderen Menschen zu verändern. Oder aber Punkrock ist nur ein Schaulaufen für alternde Millennials, die auf einen nostalgisches Kitzel hoffen. Darauf geschissen.
Wie ist dein Verhältnis zu den ANTI-FLAG-Jungs ... und warum jetzt der Wechsel zu Hassle?
Pittsburgh ist eine kleine Stadt. Und Punkrock ist noch kleiner. Bei einer so kleinen Szene und einer Nischenmusik wie Punkrock, da kennt jeder jeden. Chris #2 – früher spielte er in einer GREEN DAY-Coverband – bat mich mal, eine Show zu eröffnen. Nach dem Auftritt sagte er mir, er würde gerne mein nächstes Album produzieren und veröffentlichen. Wir arbeiteten etwa ein Jahr lang sehr hart und brachten „I Used To Be So Young“ dann auf A-F Records heraus. Meine zweite Veröffentlichung auf dem Label war „The Homeless Gospel Choir Presents Normal“, ebenfalls produziert von Chris #2. Und meine dritte Platte, „This Land Is Your Landfill“ kommt in Nordamerika ebenfalls auf A-F Records raus. Hassle tritt in Großbritannien und Europa auf den Plan, damit die Kids, wenn sie meine Alben kaufen, jetzt nicht mehr 25 verdammte Euro Porto bezahlen müssen, um die Platten aus Pittsburgh geschickt zu bekommen. Und es wird einen physischen Vertrieb im Vereinigten Königreich und in ganz Europa geben. Was super cool ist.
Wo kommst du musikalisch her? Wie lange machst du schon, was du tust? Und was hast du getan bzw. tust du, außer deine Lieder zu spielen?
Ich bin in einer streng religiösen Familie aufgewachsen, deshalb durfte ich nie die Musik hören, die ich wollte. Ich durfte nur Sachen hören, die auf einer vorab genehmigten familienfreundlichen Liste standen und die keinen Punkrock enthielt. Ich entdeckte Punkrock 1994, als ich zum ersten Mal „Dookie“ von GREEN DAY hörte. Ich war elf Jahre alt und hatte keine Ahnung, dass es da draußen noch andere Außenseiter-Kids gibt, die unbedingt irgendwo dazugehören wollen. Aber wegen der strengen religiösen Ansichten meiner Eltern war es mir nicht erlaubt, mich an Punkrock-Aktivitäten zu beteiligen. Trotzdem verbrachte ich einen Großteil meiner Zeit damit, heimlich Punkbands zu hören und schlich mich raus, um Punk-Konzerte zu besuchen. Ich bin jetzt seit elf Jahren permanent auf Tour und es läuft fantastisch, jedes Jahr ist ein bisschen besser als das letzte. Neben dem Schreiben von Songs und dem Touren arbeite ich an einem Buch über einen religiösen Kult aus meiner Heimatstadt, das im Laufe des Jahres erscheinen soll.
Du singst in „Social real estate“: „Jesus, save me from the Christians“. Worum geht es da?
Ich dachte, es wäre lustig, es so zu betonen wie bei einem Fluch: „Jesus! Rette mich vor den Christen!“ Religion ist etwas, dem man in der amerikanischen Politik nur schwer entkommt. Jeder wirft diesen Köder aus, drängt sich nach vorne und missbraucht seine religiöse Identität, um sich einen politischen Vorteil zu verschaffen. Aber nur solange es keine Umstände macht. Ich habe die Heuchelei bei den letzten Präsidentschaftswahlen erlebt, und das hat in meinem Kopf ein Art Alarm ausgelöst. Denn mir wurde bewusst, dass Politiker, die Religion nutzen, um Menschen zu kontrollieren, demselben Muster folgen wie religiöse Führer, die politisch argumentieren, um Menschen zu kontrollieren. Ich fand das so dermaßen abgefuckt und abstoßend und ekelhaft, dass ich dem einen Punk-Song widmen musste.
Was ist die Geschichte in „Global warming“?
Es ist eine neue Band mit einem neuen Sound und der ist schnell und laut, und so wollten wir uns gleich zu Anfang präsentieren. Außerdem wollen wir aber auch auf den katastrophalen Schaden aufmerksam machen, den wir dem Planeten zufügen, durch den Gebrauch von Einwegplastik, durch den ganzen Dreck im Wasser und der Luft. Ich fand, ich sollte mal klarstellen, wie rückständig und kaputt das herrschende System ist. Und obendrein hat Billy Kottage, unser abgedrehter Kumpel von den INTERRUPTERS, hier für uns Posaune gespielt.
Und „A dream about the internet“?
Das ist ein Fiebertraum über die ätzende Natur der sozialen Medien. Wie wir permanent unter Beobachtung stehen durch diese ewig um sich selbst kreisende Endorphin-Maschine. Wenn hingegen die Mächtigen bei irgendeinem Fehlverhalten erwischt werden, aus dem Amt gejagt oder an den Pranger gestellt werden, kann sie niemand zur Rechenschaft ziehen, sie kaufen sich einfach ein Haus irgendwo anders und tun so, als wäre die Vergangenheit nie geschehen.
„Punk as fuck“ – wer? Du?
Wir. Alle. Zusammen! Aber sicher! Sobald wir die verdammte Stimme in unserem Kopf, die uns einflüstert, wir seien nicht gut genug, zum Schweigen bringen können, haben wir gewonnen. In einer Welt, die einem permanent zu verstehen gibt, dass man nichts taugt, ist einfach man selbst sein so verdammt Punk, mehr geht fast nicht. Punkrock, das bedeutet mehr als nur Frisuren, Bandshirts oder Lederjacken. Mit dem Song richten wir uns an ganz normale Menschen, die keinen Bock mehr haben auf das, was das System ihnen bietet, und etwas Neues erschaffen wollen. Ich hoffe, wir bleiben dann alle ein Leben lang Punk as fuck.
© by - Ausgabe # und 4. November 2021
© by Fuze - Ausgabe #82 Juni/Juli 2020 und Christian Biehl
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #149 April/Mai 2020 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #134 Oktober/November 2017 und Paul Drießen
© by Fuze - Ausgabe #67 Dezember/Januar 2017 und Christian Heinemann
© by Fuze - Ausgabe #82 Juni/Juli 2020 und Christian Biehl
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #149 April/Mai 2020 und Joachim Hiller