HENRY ROLLINS

Foto© by Ross Halfin

Das Leben ist zu kurz, um sich zu wiederholen

Der einstige Frontmann von BLACK FLAG und ROLLINS BAND hat sich – von kleinen Ausnahmen wie Gastauftritten abgesehen – aus dem Band-Musikgeschäft weitgehend zurückgezogen. Nur unterbrochen durch die Corona-Pandemie zieht Rollins seit Jahren schon durch die Lande mit einer One-Man-Show, die längst schon nichts mehr mit einer Lesung zu hat, wie das vor vielen Jahren mal der Fall war. Sein wohl bekanntestes Buch ist „Get in the Van“ von 1994, so was wie seine Memoiren aus der Zeit mit BLACK FLAG.

Heute – zuletzt auf deutschen Bühnen im März live zu erleben – sind Rollins’ Auftritte eher eine Form von Stand-up-Comedy minus Comedy. Über zwei Stunden lang, ohne auch nur einen Schluck Wasser zu trinken oder die geringste Pause zu machen, rattert er seine Geschichten und Anekdoten in halsbrecherischer Geschwindigkeit herunter, lässt dem Publikum kaum Gelegenheit mal zu klatschen. Erlebnisse on the road damals wie heute, Ian MacKaye, die Asche seiner Mutter und Gänse in einem Satz, ein finnischer Stalker, Generationenkonflikte, Erkenntnisse aus seinen Reisen in die ganze Welt – Rollins zieht Verbindungen, appelliert und vibriert vor Spaß daran, seine Geschichten herauszuballern wie einst Hardcore-Songtexte. Rollins bei so vielen Worten zu einem „normalen“ Interview zu bewegen gestaltet sich seit Jahren schon schwierig, aber für ein paar über Nacht per Mail beantwortete Fragen war er zu haben.

Was motiviert dich, auf Lesereise zu gehen und von Stadt zu Stadt zu tingeln, in Hotels zu schlafen, obwohl du sicher viel mehr Menschen erreichen könntest, wenn du zu Hause bleibst und Podcasts aufnimmst?

Ich stehe auf der Bühne und spreche. Die meiste Zeit übernachte ich in einem Bus und gelegentlich in einem Hotelzimmer. Ich absolviere 58 Auftritte in 66 Tagen. Stattdessen einen Podcast aufnehmen? Warum spielt eine Band nicht einfach ihr Set und stellt ein Video davon auf ihre Website, anstatt zu touren? Und warum gehst du auf ein Konzert, wenn du dir das auch easy auf dem Laptop ansehen könntest?

Du hast mit einem der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Hubert Selby Jr., zusammengearbeitet und warst mit ihm befreundet. Wann und wie hast du ihn für dich entdeckt, hat er dich irgendwie künstlerisch geprägt? Und warum ist Selbys Werk auch fast zwanzig Jahre nach seinem Tod noch relevant?
Lydia Lunch und einige andere haben mir vor etlichen Jahren sein Werk ans Herz gelegt. Ich fand dann ein gebrauchtes Exemplar von „Last Exit to Brooklyn“ in einem Buchladen in Seattle. Ich habe es gelesen und es hat mich wirklich gepackt. Einige seiner anderen Titel musste ich mir ausleihen, da ich sie im Handel nirgends finden konnte. Ich las „The Room“, „The Demon“ und „Requiem for a Dream“ und wollte mit ihm sprechen. Ich fand ihn in L.A. im Telefonbuch unter 213 653 7614. Also rief ich ihn an und er stimmte zu, sich mit mir zu treffen. Daraus entwickelte sich eine langjährige Freundschaft, bis zu seinem Tod 2004. Ich hielt die Rede bei seiner Gedenkfeier. Er ermahnte mich immer, ehrlich zu sein, mein Ego zu überwinden und mich der Wahrheit verpflichtet zu fühlen. Ich glaube, Selby hat seine ganz eigene Version der englischen Sprache geschaffen, und betrachtet man seine Werke in der Rückschau, mit ihrer eigenwilligen Interpunktion, spürt man, was für ein origineller Geist er war.

Über die Jahre habe ich viele Leute getroffen, die durch deine Texte nachhaltig beeinflusst wurden. Für einige waren deine Songs offenbar der nötige Tritt in den Hintern, um endlich ihre selbstzerstörerischen Gewohnheiten hinter sich zu lassen. Wie kommt es, dass du mit deinen Texten so oft exakt den richtigen Nerv triffst?
Ich habe einfach über die Probleme und Konflikte geschrieben, mit denen ich selbst zu kämpfen hatte. Wenn du ehrlich davon berichtest, was du durchmachst, können sich oft auch andere damit identifizieren. Anders kann ich das nicht erklären. Ich denke, wenn du den richtigen Moment findest, kannst du dich auch für eine größere Idee öffnen, und darin können sich vielleicht auch andere wiederfinden. Es geht darum, andere mitzunehmen, ohne es darauf anzulegen.

Punk und Hardcore, wo auch deine Wurzeln liegen, gelten allgemein als progressiv. Welche Rolle spielt die Szene in einem Amerika, in dem Entwicklung rückwärts zu laufen scheint, zum Beispiel in Bezug auf das Abtreibungsrecht?
Punkrock basierte für mich schon immer auf den Bürgerrechten. Dass Roe v. Wade gekippt und damit nach fünfzig Jahren das Recht von Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, wieder abgeschafft wurde, erscheint mir als das signifikante Problem unserer Zeit. Das ist ein Rückschritt in ein dunkleres und brutaleres Kapitel der amerikanischen Geschichte.

Wir haben einige gemeinsame Lieblingsbands: RUTS und RUTS DC, THE MARK OF CAIN – und SUICIDE. Was macht diese Bands so bemerkenswert?
Bei RUTS war es einfach die großartige Kombination von Talenten. Eine fantastische Rhythmussektion, ein großartiger Gitarrist, ein charismatischer Sänger, die es zusammen geschafft haben, etwas zu bewegen. Nur weil begabte Leute zusammenkommen, bedeutet das nicht, dass es unbedingt funktioniert. Die RUTS waren eine herausragende Band. SUICIDE sind eine Nummer für sich. Sie sind ihr eigenes Genre. Ich bin froh, dass die zwei noch zu ihren Lebzeiten sehen konnten, wie viel Einfluss sie hatten. THE MARK OF CAIN sind eine absolut großartige australische Band, mit John Scott als Hauptsongwriter. Als wir vor vielen Jahren mit ihnen gespielt haben, schenkten sie mir ihr „Battlesick“-Album und ich war sofort ihr Fan. Diese Bands klingen einfach unverwechselbar. Das ist einer der Gründe, warum sie so großartig sind.

Welche aktuelle Musik begeistert, kickt, motiviert dich?
Ich mag Tamar Aphek und hoffe, dass sie bald was neues veröffentlicht. Das letzte Album von AUTOMATIC, „Excess“, fand ich auch großartig. Außerdem kann ich jetzt endlich wieder auf Tour gehen, was nach drei Jahren eine große Sache ist. Bis jetzt habe ich 124 Lesungen absolviert und noch etwa 80 vor mir.

Von Zeit zu Zeit hast du Gastauftritte bei anderen Bands wie RUTS DC. Könntest du dir vorstellen, selbst noch mal eine Band, ein Album oder dergleichen in Angriff zu nehmen? Und wie sähe deine Traumbesetzung aus?
Solche Projekte kommen für mich ehrlich gesagt nicht infrage. Ich habe den Song mit RUTS DC aufgenommen, weil sie meine Freunde sind und es eine große Ehre ist, mit ihnen in demselben Stück zu hören zu sein. Aber eigentlich ist Musik etwas, das ich vor langer Zeit gemacht habe, und ich blicke nicht zurück und es liegt mir auch fern, wieder etwas anzufangen, womit ich schon lange abgeschlossen habe. Das Leben ist zu kurz, um sich zu wiederholen.

Wie kanalisierst und organisierst du all deine verschiedenen Aktivitäten? Und wie voll sind deine Tage?
Ich habe festgestellt, dass ich eine Menge erledigen kann, wenn ich mir einen Zeitplan mache und mich daran halte. Wenn ich nicht auf Tour bin, besteht der Tag im Grunde aus zwei Schichten. Dazu gehört eine Menge Schreibtischarbeit, die zwar nicht spannend ist, aber notwendig, um Buchprojekte zu Ende zu bringen. An sechs Tagen die Woche bin ich im Fitnessstudio, das sich in der Nähe meiner Wohnung befindet und 24 Stunden am Tag geöffnet hat, so dass das Training manchmal zu sehr merkwürdigen Zeiten stattfindet, aber ich schaffe es. Am Wochenende setze ich mich manchmal zum Schreiben in ein Café, einfach um mal etwas anderes zu sehen. Abends sitze ich meistens vor den Boxen und höre Musik. Dieses relativ einfache Vergnügen hat für mich nie seinen Reiz verloren. Wenn ich unterwegs bin, dreht sich alles um die Show, die normalerweise um 20 Uhr beginnt. Sechs Trainingseinheiten pro Woche, eine Mahlzeit am Tag, nachdem die Veranstaltung vorbei ist. Nach dem Training arbeite ich bis etwa eine Stunde vor dem Auftritt an neuen Texten. Ich arbeite jeden Tag. Es geht also um gute Organisation und einen stetigen Arbeitsfluss. Ich muss nicht besonders schnell arbeiten, aber immer vorankommen. Ein Schlüssel dafür ist, Ablenkungen so weit wie möglich auszuschalten. Für mich sind das menschliche Interaktionen, die nicht Teil der Arbeit sind.

Was steht als Nächstes an?
Bis Anfang Juli stehen eine Menge Auftritte an und dann gibt es eine Menge Arbeit zu erledigen, um ein Buchmanuskript für die Veröffentlichung im Dezember fertigzustellen, und einige andere Projekte, die eher langfristig angelegt sind und etwas an Fahrt aufnehmen werden.