Zugegeben, das Baltikum war in musikalischer Hinsicht bisher für mich terra incognita – zumal was Punkrock angeht. Umso mehr überraschte und freute es mich, als Schreiber für das Ox nun die lettische Band HAVE NO HEROES aus Riga kennen gelernt zu haben, die auf dem schwedischen Label Black Star Foundation (IDLE CLASS, ATLAS LOSING GRIP) beheimatet ist. Sänger und Gitarrist Konstantins beantwortet gerne meine Fragen zur Band sowie zur Punkrock-Szene in Lettland und berichtet, wie es sich in direkter Nachbarschaft zu einem Kriegsschauplatz lebt.
Mit „Letters To Nowhere“ legt ihr euer zweites Album vor. Das deutsche Publikum kennt euch aber sicherlich noch nicht so gut. Bitte stell dich und die Band doch mal vor.
HAVE NO HEROES sind eine vierköpfige Punkrock-Band aus Riga, Lettland. Wir haben vor etwa fünf, sechs Jahren angefangen, aber wir alle haben bereits Erfahrungen in verschiedenen Bands und Projekten gesammelt. Eigentlich fing es genau so an: Unser Schlagzeuger Oly und ich spielten seit einiger Zeit zusammen in einer Punkband namens FREELANCERS. Ich spielte Bass und sprang regelmäßig für den Sänger ein, der damals als Seemann die Hälfte des Jahres weg war. Ein ziemlich beschissener Umstand, um größere Pläne zu schmieden, wie du dir sicher vorstellen kannst. So zerfiel die Band nach einiger Zeit. Aber Oly und ich, wir lassen uns beide nicht so schnell unterkriegen. Also beschlossen wir, eine neue Band von Grund auf neu aufzubauen. Wir hatten einige Ideen für neue Songs, ziemlich schnell wurden daraus Demos und das Rad begann sich zu drehen. Wir fanden unseren Gitarristen Kris und Viesturs als Bassist und fingen an, die neuen Stücke zu proben. Nun, vielen mag die Idee, 2018 eine neue Skatepunk-Band zu gründen, verrückt erscheinen, aber Oly und ich standen seit unserer Kindheit auf Punkrock. Also gab es absolut kein Zögern. Wir hatten eine anständige Menge Songs für das erste Album und beschlossen es aufzunehmen, bevor irgendjemand je von uns gehört hat, und einfach aus dem Nichts damit aufzutauchen und zu sehen, was passiert. Ziemlich beknackt, ich weiß, haha, aber es hat wirklich funktioniert! So etwas haben wir definitiv nicht erwartet. Im Grunde wussten wir nicht wirklich, wie wir das Album promoten und wie wir bei Social Media vorgehen sollten. Das war größtenteils Mundpropaganda, vielen Dank an unsere Hörer dafür!
Was macht ihr neben der Band, um euren Lebensunterhalt zu bestreiten? Habt ihr klassische Brotjobs?
Ja, wir alle haben unsere normalen, täglichen Jobs. In Lettland ist es fast unmöglich, von der Musik zu leben, wenn man in einer Punkrock-Band spielt. Ich denke aber, ich habe eine gute Balance gefunden. Als Grafiker und User-Interface-Designer zu arbeiten, ist ebenfalls eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Und das ist etwas, was mir wirklich gefällt. Ich gestalte auch alle Artworks und Visuals für HAVE NO HEROES. Oly und Kris arbeiten im Medizinbereich und Viesturs macht irgendetwas mit Autos.
Wie aktiv ist die lettische Punkrock-Szene generell? Oder gibt es gar eine länderübergreifende baltische Szene?
Nun, wie bereits erwähnt, leben hier in Lettland nur etwa zwei Millionen Menschen. Daher ist die Szene überhaupt nicht groß. Wir hatten früher eine wirklich starke Punk/Hardcore-Szene in Städten wie Cesis, Valmiera, Smiltene und Riga. Doch das ist schon lange her und die in den Bands involvierten Personen sind erwachsen geworden und machen größtenteils gar keine Musik mehr. Aber es gibt immer noch ein paar Bands, die die Sache am Laufen halten. Außerdem bemerke ich zunehmend, dass bei jüngeren Leuten ein großes Interesse an alternativer Musik besteht und das ist eine großartige Sache. Die Musik, die sie spielen, kann nicht als Punk oder Hardcore definiert werden, aber es ist etwas sehr Interessantes und Frisches. Es fühlt sich an, als würden sie einfach alle alternativen Genres in einen Topf werfen und schließlich etwas Interessantes finden. Darin liegt viel Potenzial und ich denke, es ist der Beginn einer Art Wiederbelebung der Szene. Leider gibt es im Baltikum keine grenzüberschreitenden Aktivitäten, wir halten aus irgendeinem unbekannten Grund nicht so eng zusammen. Was das betrifft, sollten wir auf jeden Fall besser werden und öfter in Litauen und Estland spielen.
Was bedeutet Punk für dich wie für euch als Band?
Für mich steht Punk für Zusammenhalt, Inklusivität, DIY-Ethos, Ehrlichkeit und vieles mehr. Damit schwimmen wir meistens gegen den Strom oder unsere Werte passen nicht gut in das bürgerliche Weltbild und gelten daher als rebellisch oder eben punkig. Es kommt aber darauf an, sich nicht einfach irgendein Etikett anzuheften, sondern tatsächlich zu versuchen, entsprechend zu handeln. In musikalischer Hinsicht ist es mir wichtig, dass die Leute unsere Botschaft auch verstehen. Ich schreibe nicht nur über Politik, sondern auch viel über die Kämpfe, die es bedeutet, anders zu sein und nicht dazuzugehören. Vielleicht helfen diese Songs einigen Leuten, durch schwierige Zeiten zu kommen, einfach weil sie sich nicht mehr so allein fühlen.
Euer erstes Album „Plastic World“ habt ihr noch komplett in Eigenregie produziert. Mit „Letters To Nowhere“ seid ihr nun beim schwedischen Label Black Star Foundation untergekommen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?
Es passt einfach perfekt zusammen, muss ich sagen. Ich bin froh, dass wir uns das DIY-Ethos, das wir hatten, als wir „Plastic World“ veröffentlichten, bis heute bewahren konnten. Emil hilft uns aber, ein größeres Publikum mit unserer Musik zu erreichen, und das sehr erfolgreich. Emil ist ein toller Typ und seit Jahrzehnten in der Punk/Hardcore-Szene unterwegs, also verstand er uns auf Anhieb.
Bis auf „Žanra beres“ sind alle Songs auf dem Album auf Englisch. Ich finde, Lettisch ist eine tolle Sprache und ihre Melodie passt gut zu eurem Sound. Warum singt ihr nicht häufiger in eurer Muttersprache?
Wir möchten einfach, dass unsere Botschaft von einem größeren Publikum und auch international gehört wird. Ich würde zustimmen, dass Lettisch eine großartige Sprache ist. Das ist genau der Grund, warum wir auf unseren Releases immer mindestens einen Song auf Lettisch haben. Es ist bestimmt cool, alle Songs ins Lettische zu übersetzen. Irgendwann sollten wir das mal tun, haha.
Ich tue mich sehr schwer mit Heldenverehrung oder derartigem. Auch deshalb mag ich euren Bandnamen so sehr. Habt ihr Helden – musikalisch, literarisch, politisch?
Ich habe keine Helden und mache mir auch nichts draus. Ich glaube lieber an mich selbst, an meine Taten und deren Folgen. Natürlich gibt es viele Dinge, die ich liebe, musikalisch oder literarisch, aber es ist eine schlechte Idee, ein Individuum zu verehren, einfach weil es viel mehr Faktoren als einen genialen Verstand gibt, die zur Entstehung dieser Dinge geführt haben.
Inwieweit wirkt sich der aktuelle Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auf die lettische Gesellschaft und euer eigenes Leben ganz direkt aus?
Die ganze Situation ist einfach beschissen und eine sehr große Tragödie. Es gibt viele Lettinnen und Letten, die Verwandte in der Ukraine haben oder auf andere Weise mit dem Land verbunden sind. Wir versuchen, so viel wie möglich zu helfen. Benefizkonzerte spielen, Kleider und Geld spenden, Unterkünfte organisieren. Dies ist eine echte Bedrohung, nicht nur für uns, die wir so nah sind, sondern für die ganze Welt, auch was die Zunahme von psychischen Erkrankungen angeht. Die Auswirkungen auf die lettische Gesellschaft sind erheblich. Es ist kaum zu glauben, aber die russische Propaganda erreicht zum Teil auch die hier lebenden Menschen und das kann unvorhersehbare Folgen haben.
Eure Texte sind zum Teil sehr politisch. Was bewegt euch neben dem Krieg noch auf politischer Ebene?
Glaub mir, hier gibt es jede Menge Inspiration, haha. Nun, meistens versuche ich, die aktuelle Situation hinsichtlich des Erbes zu reflektieren, das das Sowjetregime in unserer Gesellschaft hinterlassen hat. Es mag nicht so offensichtlich sein, aber die Sowjetzeit hat einige schwere Wunden verursacht, die nicht so schnell heilen werden. Die Idee, dass alle Menschen gleich sind und ihr Leben dem Aufbau des Kommunismus widmen, hat sich um 180 Grad gedreht und das machte sich nach dem Aufstieg des Kapitalismus in übertriebener Weise bemerkbar. Die Leute wurden gierig und egozentrisch, versuchten anzugeben und taten alles, um anderen etwas zu beweisen. Unsere Behörden sind aus den gleichen Gründen verdammt korrupt. So wie jemand mit einer schwierigen Kindheit höchstwahrscheinlich versuchen wird, dies im späteren Leben zu kompensieren, so geschieht das hier auf gesellschaftlicher Ebene: Aus verordneter Gleichheit wird Missgunst und damit beginnen alle Probleme.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #164 Oktober/November 2022 und André Hertel
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