GREEN DAY

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American Idiots?

Vor zehn Jahren waren es GREEN DAY, die mich durch „Basket Case“ und ihr Album „Dookie“ mit Punkrock bekannt machten. 2004 ist das neue GREEN DAY-Album „American Idiot“ mein Album des Jahres. „American Idiot“ reißt mich zu Begeisterungsstürmen hin, vereint es doch politische Themen mit einer persönlichen Sichtweise, so dass GREEN DAY an keiner Stelle als Prediger auftreten, sondern einen Anstoß zum Nachdenken geben. „American Idiot“ beschreibt die Suche von „Jesus of Suburbia“ nach seiner Individualität, einem Charakter der in einem neunminütigen Song vorgestellt wird. Auf dieser Suche ist „Jesus of Suburbia“ einer Vielzahl von Ängsten und Gefühlen ausgesetzt, die durch die Songs auf „American Idiot“ auf großartige Art und Weise vertont sind. GREEN DAY sind mit „American Idiot“ tiefgängiger und besser, als sie je waren. Zehn Jahre nach „Dookie“ mache ich einen zweiten Kniefall vor Billie Joe Armstrong, Tre Cool und Mike Dirnt. Anfang Oktober war das Trio auf Promo-Reise, einen Stopp machten sie in den Berliner MTV-Studios, wo ich Bassist Mike mit feuchten Händen gegenüber saß.

Eure Shows in Bochum und Potsdam waren eher kleine Konzerte mit wenigen hundert Besuchern. Was gefällt dir besser, diese Art von Shows oder größere Shows, etwa der Auftritt auf dem Reading Festival, wo ihr dieses Jahr Headliner wart?

„Ob uns eine Show gefällt, hängt nicht von der Anzahl der Zuschauer ab, sondern von der Energie, die sich im Laufe des Sets entwickelt. Was ich damit sagen will ist, dass eine Show vor zehn Zuschauern uns genauso viel Spaß machen kann wie ein Auftritt beim Reading Festival, wo viele tausend Menschen sind. Ich fand es dieses Jahr wirklich gut in Reading, ebenso sehr habe ich es genossen, in Bochum vor 700 Leuten zu spielen. Die Show in Bochum war eine der heißesten Shows, die wir jemals gespielt haben. Außerdem war das Publikum klasse. Der Funke sprang über, die Leute machten mit und kannten fast alle Texte des neuen Albums.“

„American Idiot“ ist in vielen Ländern auf Platz 1 der Charts eingestiegen. Wie geht es euch mit dem Erfolg?


„Wir können den Erfolg kaum fassen. Dass ‚American Idiot‘ unser erstes Album wird, das von 0 auf Platz 1 einsteigt, haben wir niemals erwartet. Wir sind verblüfft, wenn du es so willst. Mit dieser Verblüffung geht eine große Freude einher. Denn der Erfolg des Albums zeigt, dass viele Menschen eine Beziehung zwischen sich und der Geschichte, die auf ‚American Idiot‘ erzählt wird, aufbauen können, und genau das wollten wir damit erreichen.“

Du erwähntest gerade die Geschichte, die auf „American Idiot“ erzählt wird. Der zweite Song auf dem Album, „Jesus of Suburbia“, stellt eine fiktive Person vor. Welche Rolle spielt diese Figur in der Geschichte des Albums?

„Diese Figur und ihre Erlebnisse sind das zentrale Thema auf dem Album. Die 13 Songs auf ‚American Idiot‘ beschreiben die Reise des ‚Jesus of Suburbia‘. Das Stück besteht aus fünf kurzen Songs, die diesen Charakter vorstellen. Gleichzeitig sind die fünf Songs der Startpunkt der Reise. Er verlässt sein Zuhause, die ‚City of the Damned‘, ist fertig mit sich und der Welt, woraufhin er sich auf die Suche macht, um seine Individualität zu finden.“

Der Song „Jesus of Suburbia“ ist neun Minuten lang. Welche Textpassage ist die prägnanteste für diesen Charakter?

„Die ersten beiden Zeilen: ‚I am the son of rage and love, the Jesus of suburbia‘. Die ersten acht Worte beschreiben seine Situation. Er ist hin und her gerissen zwischen Liebe und Zerstörung. Wenn man es etwas weiter fassen will, kannst du hier einen Bezug zum Cover der Platte herstellen. Das Cover zeigt eine Hand, die eine rote, herzförmige Handgranate hält. Der Zwiespalt des ‚Jesus of Suburbia‘, sowie die Message des Covers ist, dass du an der Liebe festhalten kannst oder, dass du zerstören kannst. Zwei Möglichkeiten, um mit dir und deiner Situation fertig zu werden.“

Wie seid ihr an das Schreiben des Songs heran gegangen?

„Wir hatten kein Bild einer bestimmten Person vor Augen, als wir den Song schrieben. Billie Joe schrieb die ersten beiden Zeilen und von da an entwickelte sich der Song von ganz allein. Viele Charaktereigenschaften des ‚Jesus of Suburbia‘ spiegeln Billie Joe wider, da er vieles, was er im Leben erlebt hat, in diesen Song gesteckt hat. In dem Song stecken aber auch Eigenschaften von mir und Tre Cool. Nimm den dritten Teil von ‚Jesus of Suburbia‘, ‚I don’t care‘, der spiegelt mich wieder.“

Welche Bedeutung hat der Song „American Idiot“ für die Figur „Jesus of Suburbia“?

„Da ‚American Idiot‘ der erste Song auf dem Album ist, beschreibt er das gesellschaftliche Klima, in dem ‚Jesus of Suburbia‘ lebt. Der Song stellt die politische Situation dar, der ‚Jesus of Suburbia‘ ausgesetzt ist. Es ist aber nicht zu vernachlässigen, dass der Song ‚American Idiot‘ auch Gefühle ausdrückt. Die Gefühle missverstanden zu werden, verwirrt, ängstlich und wütend zu sein, schwingen in dem Song mit. Diese Gefühle gehen mit der politischen Situation einher und legen den Grundstein für ‚Jesus of Suburbia‘ und für seine Suche nach sich selbst, also den Rest des Albums.“

Neben „Jesus of Suburbia“ gibt es einen zweiten Kunstfigur auf dem Album: St. Jimmy. Was für ein Typ ist St. Jimmy?

„Der Song ‚St. Jimmy‘ ist ein straighter, drei Minuten langer Punkrock-Song, also sehr viel kürzer als ‚Jesus of Suburbia‘. Es ist schwer zu sagen, was für ein Typ ‚St. Jimmy‘ ist. Denn dieser Charakter könnte eine Metapher für die selbstzerstörerische Seite von uns allen sein und für die selbstzerstörerische Seite von ‚Jesus of Suburbia‘.“

Das alles klingt, als ob „American Idiot“ nicht unbedingt ein politisches, sondern eher ein sehr persönliches Album ist.

„‚American Idiot‘ liegen politische Gedanken zugrunde. Dennoch ist es ein persönliches Album, auf dem es darum geht, dich selber, dein Herz und das, was du wirklich willst, zu finden. Wenn du das gefunden hast, kannst du alles vergessen, was dich irritiert, stört und einschränkt. Es geht auf ‚American Idiot‘ sehr viel um Beziehungen. Die Beziehung zwischen ‚Jesus of Suburbia‘ und ‚St. Jimmy‘ zum Beispiel. Genauso die Beziehung, welche ‚Jesus of Suburbia‘ zu Frauen aufbaut. Uns geht es um darum auszudrücken, wie diese Beziehungen die Charaktere berühren, ob die Beziehungen sie glücklich oder wütend machen und ob sie die Charaktere positiv oder negativ beeinflussen. Durch die Gefühle von ‚Jesus of Suburbia‘ wollen wir Bezug zu den Gefühlen aller Menschen herstellen, und somit kann man sich selber in der Person ‚Jesus of Suburbia‘ wieder finden. Folglich steht die Individualität eines jeden von uns im Mittelpunkt der Platte und wir werden durch ‚Jesus of Suburbia‘ und seine Reise verkörpert.“

Dadurch habt ihr, finde ich, ein zeitloses Album geschaffen, das auch nach den US-Wahlen relevant sein wird.

„Genau das ist der Grund, warum wir nicht Bush oder einen anderen Politiker auf dem Album nennen oder ansprechen. ‚American Idiot‘ hat keine politische Agenda. Ich wünsche, dass Bush abgewählt wird, dieser Wunsch wird auf dem Album aber nicht schwarz auf weiß geäußert. Ich hoffe, dass Menschen durch ‚American Idiot‘ beginnen, selber zu denken und sich eine Meinung zu bilden. Gerade in der politischen Situation, in der sich die USA momentan befinden, ist dies sehr wichtig. Viele Menschen sehen keinen Sinn darin zu wählen, da sie sich allein und machtlos gegenüber der Regierung oder gegenüber einem etwaigen Wahlbetrug fühlen. Gerade diese Menschen können durch ‚American Idiot‘ angesprochen werden, und umso mehr Menschen angesprochen werden, umso weniger fühlt sich jeder Angesprochene allein. Daraus kann folgen, dass die Menschen wieder Mut fassen, wählen gehen und die Regierung vielleicht abwählen. Daher ignoriert ‚American Idiot‘ die politische Lage der USA nicht, es spiegelt viele Aspekte des Lebens in den USA aus einer persönlichen Sichtweise wider.“

In letzter Zeit wurde deutlich, dass sich viele Punkbands aus Amerika, auch wenn sie gegen die Bush-Administration sind, als Patrioten verstehen. Du bzw. GREEN DAY auch?

„Das ist eine schwere Frage. Einerseits finde ich, dass Patriotismus Bullshit ist. Denn es ist Zufall, wo du geboren bist, und daher weiß ich nicht, warum man darauf stolz sein sollte. Andererseits sind Demokratie und die Idee, die hinter der Unabhängigkeitserklärung steht, sehr gute Ideale, sofern man sie lebt. Im Moment werden diese Ideale von wenigen Menschen in den USA gelebt, denn sobald du etwas gegen die Regierung oder den Irakkrieg sagst, wirst du als unpatriotisch bezeichnet, und davor haben viele Amerikaner Angst.“

Wie stehst du zum Irakkrieg?

„Ich stehe nicht hinter dem Irakkrieg. Aber ich stehe hinter den amerikanischen Soldaten, die im Irak stationiert sind.“

Warum?

„Ganz einfach: Weil ich respektiere, dass diese Kids ihr Leben dafür riskieren würden, dass ich in Sicherheit leben kann. Deswegen will ich, dass sie sicher sind. Was den Irakkrieg aber angeht, so sind die Soldaten bei der Rekrutierung angelogen worden. Ihnen wurde gesagt, dass sie nur im absoluten Notfall einen Auslandseinsatz machen müssen. Diesen absoluten Notfall gab es im Irak nicht und somit sind die amerikanischen Truppen ohne Grund in den Irak geflogen worden. Ich denke, dass sie so schnell es geht nach Hause kommen müssen.“

Es ist nun zehn Jahre her, dass „Dookie“ euch weltweit bekannt gemacht hat. „Dookie“ war euer erstes Album für Warner, nachdem ihr Lookout Records verlassen hattet. Denkst du, ihr hättet auf ein anderes Independent-Label anstelle eines Major Labels gehen können?

„Nein, ich denke nicht. Wir hatten damals das Gefühl, dass wir auf dem besten Punkrock-Label der Welt sind. Wir lieben Lookout Records nach wie vor, und wären wir damals von Lookout beispielsweise zu Epitaph gegangen, hätten wir Lookout verarscht. Als wir zu Reprise/Warner wechselten, wuchsen wir zu einer Band, die den Rahmen von Punkrock-Clubs und -Labels sprengte. Neben Lookout hätten wir uns also auch selbst verarscht, wenn wir der Form halber auf einem Independent-Label geblieben wären. In gewissem Sinn gab es keine Alternative. Was uns neben einem Major zur Wahl stand, war GREEN DAY aufzulösen. Das hätte alles beendet, aber ich werde den Teufel tun und in einem Schnellimbiss arbeiten, wenn ich doch Musik machen will. Nach wie vor haben Punkrock und die Punkrock-Szene große Relevanz für uns. Im Herzen sind wir Punkrocker und waren es immer. Hätten wir die Band aufgelöst, weiß ich nicht, wie es für uns als Menschen geendet hätte.“