Am 21. April erscheint „Plagueboys“, das neue, dritte Album der finnischen Band GRAVE PLEASURES, deren Post-Punk mit New-Wave-Ästhetik sich auch gut als „apokalyptischer Pop“ beschreiben lässt. GRAVE PLEASURES wurden einst von Frontmann Mathew Joseph McNerney nach dem Ende von BEASTMILK gegründet, 2015 erschien das Debüt „Dreamcrash“, 2017 folgte „Motherblood.“, 2019 das Livealbum „Doomsday Roadburn“. Ich sprach mit den beiden Gitarristen Juho Vanhanen und Aleksi Kiiskilä.
Bezieht sich der Titel „Plagueboys“ eures neuen Albums auf die Pandemie oder stand er schon vorher fest?
Aleksi: Er ist keine direkte Referenz, aber natürlich hat die Pandemie unser Denken so sehr beeinflusst, dass sie vermutlich etwas damit zu tun hat.
Juho: Ich denke, dass der Titel – wie alles, was Mat schreibt – eine gewisse Dualität besitzt. Ich rate und interpretiere da nur und würde sagen: sicherlich, aber nicht nur. Viel auf dem Album nimmt auf aktuelle Ereignisse Bezug. Aber einiges ist auch einfach Zufall, vieles kommt auch von dieser Kriegsthematik.
Zum Album heißt es, es sei ein „danceable gothic pop-feast of existential disintegration“. Was bedeutet das?
Juho: Ich fühle definitiv diese „existential disintegration“. Und weil man nie weiß, wann alles endet, sollte man auch immer im Auge behalten, dass alles zwei Seiten hat: Es kann nicht nur Untergang und Düsterkeit geben. Es gibt immer eine, ich würde nicht sagen „humoristische“ Seite, aber man kann sich Dinge anschauen, die man total ernsthaft verfolgt, und dann sehen, dass das, was man da tut, eigentlich ziemlich lächerlich ist. Alles hat immer zwei Seiten.
Aleksi: Speziell, wenn man das Gesamtbild anschaut. Wenn man etwas aus seiner eigenen Perspektive betrachtet, kann es völlig anders aussehen als im Gesamtkontext.
Juho: Auch wenn man Songs schreibt. In manchen Stücken gibt es dann beispielsweise 80% Traurigkeit und Finsternis, aber 20% sind auch: Hey, ich sitze gerade in meinem Keller und spiele Gitarre, das ist eigentlich auch ein bisschen lächerlich. Da kann ich nicht so tun, als ob alles total finster wäre. Man ist beim Songwriting von so vielen Dingen um sich herum beeinflusst.
Wie entstehen eure Songs? Ist es so, dass ihr zuerst die Musik schreibt und Mat dann seine Lyrics?
Juho: Mat macht zu vielen Tracks die Demos, also Musik und Text, da macht er, denke ich, beides gleichzeitig. Aber oft ist es so, dass Aleksi oder ich Songteile haben, die wir Mat schicken. Wenn er denkt, dass er dazu etwas beitragen kann, macht er ein Demo aus einigen Gesangsparts. Das höre ich mir an und denke oft: Oh, er findet also, diesen Part könnten wir so verwenden, verstehe. Dann arrangiere ich es etwas um. Ich mag es, wenn die Musik etwas vom Text aufnimmt, wenn du hören kannst, dass in dem Stück etwas passiert, das mit den Lyrics korrespondiert. Deshalb finde ich es sehr wichtig, sich diese Ideen hin- und herzuspielen. Auch im Studio sollte man die Lyrics vor Augen haben und überlegen, wie der Song und generell die Klanglandschaft darauf reagieren können. Ich glaube, heutzutage wird oft so produziert, dass es einen bestimmten Sound für eine bestimmte Art von Musik gibt. Dann macht man einen Song genau so und denkt nicht weiter darüber nach. Aber ich denke, es ist sehr wichtig, darüber nachzudenken, warum man einen bestimmten Sound haben will, und ihn nicht nur zu erzeugen, weil er Teil eines Genres ist. Ich denke gerne über den Song in seiner Ganzheit nach.
Aleksi: Wenn wir etwas schreiben, gibt es immer viel Kommunikation. Es ist nicht so, dass einer einen Song macht und fertig. Manchmal macht Juho ein Demo, aber dann verbringen wir viel Zeit damit, daran zu arbeiten. Es gibt bei uns nicht den einen Weg, ein Lied zu schreiben. Und um noch mal die Idee der Dualität aufzugreifen: Ich mag es, nicht nur Dinge zu betonen, die man in einem instrumentalen Demo hört. Wenn Mat Lyrics dazu schreibt, kann er eine weitere Ebene entwickeln, so dass sich ein schöner Kontrast ergibt, zum Beispiel zwischen Spaß und etwas wirklich Dunklem.
Wie ihr darüber redet, das erweckt den Eindruck, dass ihr klassisch ausgebildete Musiker seid.
Juho: Nein, sind wir nicht. Aber ich höre viel klassische Musik, eher moderne klassische Musik. Ich verstehe aber, warum du das fragst.
Aleksi: Einige von uns haben an einer Schule Produktionstechnik gelernt, aber das ist etwas ganz anderes ...
Juho: Wenn man über klassische Musik spricht, geht es ja auch oft um diese Metaebenen. Für mich ähnelt das auch dem Sprechen über Bilder, darüber, was man darin sehen kann. Ich mag die Idee, dass Kunst im Grunde eins ist, aber man verschiedene Richtungen hat. Man kann aber auf dieselbe Art darüber reden. Wenn wir allgemein über Musik sprechen, dreht sich die Diskussion meistens um eher technische Themen, Genres und so weiter. In der klassischen Musik geht es mehr darum, was ein Stück bedeutet und was innerhalb eines Stücks musikalisch passiert.
Wenn du sagst, dass das Songwriting bei euch einer Art Dialog gleicht, wie wisst ihr dann, dass ein Stück fertig ist? Das könnte ja ewig hin- und hergehen ...
Aleksi: Das kann ewig hin- und hergehen. Wenn wir im Studio sind, verwenden wir ziemlich viel Zeit dafür, verschiedenste Dinge auszuprobieren, bevor ein Song fertig ist.
Juho: Ich denke, dass es eine generelle Richtung gibt, in die man gehen möchte. Wenn man einmal die richtige Richtung gefunden hat, gibt es nur noch unterschiedliche Wege, von denen nicht nur einer richtig ist. Und manchmal ist die Entwicklung auch nicht abgeschlossen. Ein Song kann sich immer noch verändern, wenn wir ihn live spielen. Ich würde sagen: Ein Stück ist fertig, wenn man keine Zeit mehr hat. Das kann also auch etwas Gutes sein. Speziell für mich, da ich produziere, aber gleichzeitig in der Band bin. Ich schau mir dann wieder das Gesamtbild an und dafür ist es gut, wenn man nicht schon seit Jahren an einem Song herumbastelt.
Aleksi: Was wirklich hilft, ist, sich daran zu erinnern, was das ursprüngliche Ziel war. Man kann sich sehr schnell beim Mischen oder Aufnehmen verlieren. Dann muss man sich noch einmal daran erinnern, worum es eigentlich geht und wohin man eigentlich will.
Wenn es für eure Musik immer verschiedene Möglichkeiten gibt und ein Stück dann fertig ist, wenn ihr keine Zeit mehr habt: Gibt es Songs, bei denen ihr im Nachhinein denkt, dass ihr sie gerne anders veröffentlicht hättet?
Juho: Natürlich. Noch nicht beim neuen Album, aber das wird sicherlich in einem Jahr oder so der Fall sein.
Juho, du hast das Album auch mitproduziert, richtig?
Juho: Ich war der Produzent und Niko, der es gemischt und aufgenommen hat, war der Co-Producer. Ich produziere auch Sachen für andere Bands und habe 2017 unser letztes Album „Motherblood“ koproduziert. „Plagueboys“ war für mich eine Herausforderung, weil ich nicht nur der Produzent, sondern auch ein Bandmitglied bin und einige der Songs geschrieben habe. Der Produzent sollte eigentlich der letzte sein, der sich die Songs anhört, er sollte unvoreingenommen sein. Ich musste also sehr emotional, aber gleichzeitig absolut pragmatisch und akribisch sein. Ich habe diese Herausforderung gerne akzeptiert und es hat wirklich Spaß gemacht.
Wie hat das praktisch funktioniert?
Juho: Wenn ich Songs schreibe, versuche ich, nicht über andere Sachen nachzudenken, ich arbeite intuitiv. Dann brauche ich eine Pause, in der ich mir das Demo nicht anhöre. Optimalerweise vergesse ich es sogar ganz. Dann kann ich es mit anderen Augen sehen. Man muss also intuitiv und analytisch handeln, aber nicht gleichzeitig. Es fällt mir natürlich leichter, Mats oder Aleksis Stücke zu produzieren, weil ich sie mir einfacher unvoreingenommen anhören kann und sie nicht so gut kenne. Das ist wichtig, wenn ich als Produzent auf die Sachen schaue. Es gibt also auch hier zwei Seiten.
Aleksi: Du wandelst zwischen den Welten ...
Juho: Ja, manchmal. Ich versuche aber, dieses „Dazwischen-Sein“ zu vermeiden, weil man dann anfängt, alles, was man macht, zu hinterfragen. In der Realität bin ich irgendwo in der Mitte, aber ich versuche zu differenzieren.
Das Cover zu „Plagueboys“ ist vermutlich auch absichtlich offen für Interpretationen, oder?
Juho: Die Idee von Mat und Tekla Vály, der das Artwork gemacht hat, hat viel mit dem Roman „Herr der Fliegen“ zu tun, wo einige Kinder allein auf einer Insel sind und ihre eigene Zivilisation gründen, es ist ziemlich brutal. Und die Typen auf dem Cover sehen aus, als ob sie sich in einer fernen Zukunft befinden. Die Gesellschaft ist kollabiert und etwas Neues beginnt. So kann man es auch betrachten: Es zeigt einen Neuanfang, den Start einer neuen Zivilisation.
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