Früher war alles besser? Ein bisschen vielleicht. Glitterhouse-Mitbegründer Rembert Stiewe erzählt von den frühen Jahren des Labels, das zu Beginn mal ein Fanzine war, dann zum Mailorder von selbstimportierten australischen Garagenpunkplatten erweitert wurde, die ersten eigenen Platten veröffentlichte und schließlich als europäischer Lizenznehmer von Sub Pop und Amphetamine Reptile durch die Decke ging.
Rembert, ihr seid zwar inzwischen sehr expandiert, ursprünglich habt ihr aber Anfang der Achtziger in einem recht überschaubaren Rahmen als Fanzine angefangen. Wie kam es dazu?
Reinhard Holstein und ich haben uns durch Zufall kennen gelernt, weil unsere damaligen Freundinnen Schwestern waren. Wir haben uns bei einer Familienfeier getroffen und waren uns erst total unsympathisch, hatte ich das Gefühl. Aber je länger der Abend dauerte und je mehr Alkohol im Spiel war, zeichnete sich immer deutlicher ab, Mensch, da ist ja noch eine verwandte Seele, noch jemand, der sich in unserem kleinen Kaff für Musik jenseits des Mainstreams interessiert. Ich war damals ungefähr 17, er zwei Jahre älter und hatte dementsprechend schon eine weit größere Plattensammlung und viel zu erzählen. Irgendwann hat Reinhard dann gefragt, ob ich nicht bei seinem Fanzine einsteigen wollte. Ich musste mir erst mal von ihm erklären lassen, was ein Fanzine ist, haha. Damals hatte er erst eine Ausgabe von The Glitterhouse rausgebracht, in einer Auflage von 25 Exemplaren. Ab der zweiten Ausgabe war ich mit dabei, Format war A5, Auflage 50 Stück. Das hat sich immer weiter gesteigert, lief auch recht erfolgreich und wurde nach ein paar Jahren mit dem TNT zum Howl fusioniert.
Wie aktiv wart ihr als Glitterhouse-Gründer als Schreiber für das Howl?
TNT war ja spezialisiert auf Undergroundfilme und Splatter, also all den Kram, an den wir hier auf dem Land gar nicht rankamen. Wir kamen tatsächlich von der rein musikalischen Ecke, hatten aber schon immer ein Faible für abseitige Unterhaltung und kruden Humor, dementsprechend passte das super. Die Jungs vom TNT kamen alle eher aus der süddeutschen Ecke und die haben wir auf diesem Wege quasi erst kennen gelernt. Das hat als Howl eigentlich ganz gut funktioniert mit uns. Reinhard war neben zwei Leuten vom TNT Mitherausgeber, ich war nur noch als Schreiber aktiv. Und geschrieben haben sonst eigentlich auch die meisten, die auch schon für das The Glitterhouse geschrieben hatten, das war ein recht überschaubarer Schreiberstamm, so sieben, acht Leute. Für The Glitterhouse hatte Reinhard immer das Meiste geschrieben, ich habe noch viel beigetragen, außerdem zwei, drei andere Vielschreiber plus einige sporadische Unterstützer. Das hat sich beim Howl nicht wesentlich geändert, da wurden im Grunde zwei Redaktionen zu einer gemacht, die Zahl der beteiligten Personen war höher und das Heft konnte mit einer gewissen Regelmäßigkeit rausgebracht werden. Wir hatten ja schon recht gute Kontakte als Label, deswegen war es dann auch recht simpel, eine 7“-Single/EP beizulegen.
Also war das Howl noch mal eine Art Schub?
Ja, nicht nur für uns, das Howl hat der gesamten Fanzine-Landschaft, glaube ich, noch mal so ein bisschen Schwung gegeben. Weil es ein etwas breiteres Spektrum abgedeckt hat oder auch, weil die beiden abgedeckten Themenbereiche ganz gut zusammengepasst haben. Diese Splatter-Jungs arbeiten ja inzwischen fast alle bei Pro7/Sat.1, teilweise in richtig guten Positionen, was heißt: Man muss sich in seiner Jugend nur genug Quatsch angucken, dann kann man da Karriere machen, haha. Das Howl war auch für sein riesengroßes, sperriges Format bekannt, das konnte man auf dem Klo kaum lesen.
Und aus dem Fanzine wurde dann nach und nach mehr?
Es ist tatsächlich so, dass wir über die Fanzine-Kontakte zum Label gekommen sind. Damals war das ja noch so, dass wir – ohne Internet – immer noch ganz viele Briefe durch die Welt geschickt haben an irgendwelche Bands, über die wir in anderen Fanzines gelesen hatten. Und irgendwann fragten dann vermehrt speziell die aus den USA, ob wir nicht jemanden in Europa kennen würden, der ihre Platten veröffentlichen möchte oder könnte. Eine richtig gute Infrastruktur gab es ja damals nicht, was die Herstellung angeht. Ein paar kleine, gute Labels, die sich auf Garage spezialisiert hatten vielleicht, aber sonst ... Da haben wir uns gedacht, das kann ja keine Raketentechnik sein, lass uns das doch machen. Es war dann wirklich so, ich war noch Schüler, Reinhard war Angestellter und wir haben beide 4.000 Mark in den Hut geschmissen. Mein Großvater hatte damals einen Sparvertrag aufgelöst und dankenswerterweise auf seine drei Enkel verteilt. Ich habe dann das ganze Geld in die Firma, die noch keine war – wir hatten noch kein Gewerbe angemeldet oder so – investiert und wir haben angefangen, Platten zu machen. Der Weg vom Fanzine zum Label war also ein sehr direkter. Wobei das ja auch jahrelang noch parallel weiterbestanden hat. Sowohl das The Glitterhouse-Fanzine als auch den Nachfolger Howl gab es ja noch zu Zeiten, als wir schon bei Glitterhouse-Katalog Nr. 100 oder so waren.
Eure erste LP „Declaration Of Fuzz“ war gleich ein ziemlicher Erfolg. Kam das überraschend?
Ja, auf jeden Fall. Wir hatten ja überhaupt keinen Vertrieb. Wir hatten eine Platte gemacht und wussten jetzt gar nicht, wie wir die am besten an die Leute bringen. Und das war dann tatsächlich so, dass wir die Kisten mit den Platten in den Kofferraum gepackt, damit in ein paar Plattenläden gefahren sind, die wir kannten, und dort gefragt haben, ob die welche für den Verkauf wollen. Dann lief natürlich auch einiges über Post und Spedition. Aber der Erfolg war schon größer als erwartet. Die Platte kriegte auch in den einschlägigen Fanzines viele Reviews. Die Idee an sich war ja nicht wirklich neu, aber es gab zu der Zeit nicht wirklich ein deutsches Label, das sich um diese Art Bands gekümmert hätte. Es war ja auch recht schwierig, erst mal genügend brauchbare Bands zusammenzubekommen, um einen qualitativ ordentlichen Sampler zusammenstellen zu können. Verkauft haben wir davon in mehreren Auflagen schätzungsweise 3.000 bis 4.000 Platten. Aber von Verkaufserwartungen hatten wir ja keine Ahnung. Wie von allem anderen auch, haha.
Es war aber doch ein schöner Einstieg.
Eindeutig. Es hat uns auch vieles vereinfacht, weil uns daraufhin auch viele Demos zugesandt wurden. Heute ist ein Demo in der Post ja die Geißel der Menschheit, aber früher hatte man ja kaum eine andere Möglichkeit, an Bands heranzukommen, die noch nichts veröffentlicht hatten. Aufgrund dieser Compilation haben wir viele Kontakte zu neuen Bands geknüpft, auch zu vielen deutschen Bands, die wir damals noch hauptsächlich veröffentlicht haben. Dadurch sind wir überhaupt erst richtig wahrgenommen worden, das Fanzine war wohl auch einem kleinen Kreis bekannt, aber als Label wurde man dann schon ernster genommen.
Was waren eure gemeinsamen musikalischen Nenner zur Glitterhouse-Gründungszeit?
Also gemeinsame Parameter zu Anfang war eigentlich alles, was mit Sixties und Garagenpunk zu tun hatte. Einmal die Originale aus den USA, die SONICS, QUESTION MARK AND THE MYSTERIANS, etc. Aber natürlich auch diejenigen, die dann Anfang der Achtziger so ein erneutes Revival des Sixties-Punk einleiteten: MIRACLE WORKERS, CHESTERFIELD KINGS, FUZZTONES und so weiter. Das war die eine Seite unserer musikalischen Vorlieben, dann gab es aber auch parallel immer noch eine etwas andere, eher New-Wave-beeinflusste Richtung, GUN CLUB, WIPERS wären da zu nennen, beides Lieblingsbands sowohl von Reinhard als auch von mir. Das hatte dann natürlich auch viele Berührungspunkte. Man ist zu Festivals gefahren, da spielten die FLESHTONES und die NOMADS, aber auch GUN CLUB. Das passte damals auch alles zusammen. Auch die australischen Existentialisten und Undergroundrocker wie BIRTHDAY PARTY und Co. Die australische Garagenrock-Szene war sowieso ein großer Einfluss, das war eine recht eigenständige Richtung, die klangen alle eine Ecke härter als die US-Amerikaner oder die Schweden. Aber die Geschmäcker entwickeln sich ja manchmal in eine andere Richtung und irgendwann hat man vielleicht auch schon so viel Krach gehört, dass man auch mal mehr Wert auf einen Song gelegt hat. Ich bin zwar immer noch der Meinung, dass die SONICS und die UNDERTONES die besten Songwriter aller Zeiten waren, alles, was in 2:30 Minuten nicht erzählt ist, muss auch nicht erzählt werden, war damals mein Standpunkt, aber irgendwann ging der Horizont dann auch ein bisschen weiter. Das kann man ja auch am Labelprogramm ablesen. Wir hatten dann irgendwann die Grunge-Zeiten mit Sub Pop oder die Noise-Zeiten mit Amphetamine Reptile als Lizenzlabel zum Beispiel, aber dann hatten wir auch eine Singer/Songwriter-Phase, in der wir fast nur noch ältere Herren mit akustischen Gitarren veröffentlicht haben. Jetzt ist es gerade wieder etwas breiter gefächert, mit dunklem Underground neben Song- und Soundbasiertem aus Skandinavien. Da muss man einfach offen bleiben, auch als Fan. Dies- und jenseits der eigenen Scheuklappen passiert immer noch eine Menge Interessantes.
Wie habt ihr euren Informationsfluss zu Beginn ins Rollen gebracht?
Es gab ja zu der Zeit noch nicht die Veröffentlichungsflut wie heute und wenn man fünf Zeitschriften und Zines im Abo hatte, hatte man eigentlich schon einen ganz guten Überblick. Das OP Magazine war anfangs beispielsweise eine gute Quelle, das hatte einen unglaublichen umfangreichen Reviewteil. Die haben wahrscheinlich alles besprochen, was ihnen zugeschickt wurde. Das habe ich wirklich verschlungen. War natürlich total winzig geschrieben, das Platzproblem kennt ja jeder Fanzinemacher. Tonträger hat man dann in der Großstadt, auf Plattenbörsen, Sixties-Allnightern oder eben über die einschlägigen Mailorder gekauft. Irgendwann dann auch über US-Mailorder. Dazu musste man extra auf der Bank DM in US-Dollar umtauschen, damit man das dann per Post bar bezahlen konnte, und wenn man Glück hatte, hat man dann nach ein paar Wochen auch ein Päckchen bekommen. Das war schon ein echtes Erlebnis, eine Platte nach so langer Wartezeit endlich in den Händen zu halten und zu hören.
Wann ist Glitterhouse für euch zu einem Vollzeitjob geworden?
Anfangs war das ja nur ein Hobby, aber irgendwann hat man gemerkt, dass das immer mehr Aufwand wird. Reinhard hat erst nur noch halbtags in seinem richtigen Job gearbeitet und ihm wurde irgendwann gekündigt. Zu dem Zeitpunkt wurde Glitterhouse als Gewerbe angemeldet. Er hat das dann fulltime gemacht und ich nur so ein bisschen nebenher in der Freizeit. Dann gab es einen Kumpel, der eine 20-Stunden-Anstellung bekam, weil einfach so viel zu tun war. Das war aber noch nix, von dem man wirklich leben konnte, die Miete bezahlen konnte man davon eigentlich kaum. Richtig Vollzeit wurde es tatsächlich, als Sub Pop in unser Leben trat. Reinhard ist irgendwann in die Staaten gereist, war auch in Seattle, weil er da was drüber gelesen und auch von der ersten GREEN RIVER-Platte gehört hatte. Also ist er einfach bei Sub Pop ins Büro gegangen, hat sich vorgestellt und ihnen eine Lizensierung für Europa angeboten. Da hatte Reinhard schon immer Trüffelschwein-Qualitäten. Wir hatten zwar nie NIRVANA und nie SOUNDGARDEN, die hatte uns schon jemand weggeschnappt, so’n Mist. Aber wir hatten zum Beispiel MUDHONEY und das war für mich so die erste Grunge-Band. Es war auch das erste Grunge-Konzert auf europäischem Boden, als wir MUDHONEY gemeinsam mit Sub Pop rübergeholt haben, um auf den Berlin Independence Days aufzutreten. Ab da hat sich alles geändert, da hatte man plötzlich als kleine Klitsche Titelseiten auf den englischen Weeklys, NME, Melody Maker; MUDHONEY auf der ersten Seite. Und auf einmal überrollen dich die Vertriebe mit Anfragen. Das war der Zeitpunkt, an dem uns klar wurde, dass wir tatsächlich auch ohne anderen Job davon leben können. Schon ein geiles Gefühl, wenn auf einmal alle deine Platten haben wollen. Aber das ging ja irgendwann auch wieder vorbei.
Eure Zusammenarbeit mit Amphetamine Reptile und Sub Pop hat relativ zeitgleich begonnen und wieder aufgehört. Stand das in einem direkten Zusammenhang zueinander?
Nein, das war reiner Zufall. AmRep und Sub Pop kannten und schätzten sich zwar auch, haben auch teilweise Split-7“s zusammen gemacht, aber das waren schon zwei völlig verschiedene Szenen. Auch AmRep war wieder ein Ergebnis von Reinhards Trüffelschwein-Nase, der hat da immer sehr schnell sehr tief gegraben. Wir haben ja immer auch andere Fanzines gelesen und da stolpert man da schon mal über ein Review von beispielsweise den GOD BULLIES und dann bestellst du dir das eben mal. Reinhard hat dann Kontakt mit Tom Hazelmyer aufgenommen, so ist das ins Rollen gekommen. Irgendwann lernte man sich persönlich kennen und hat Touren organisiert. Erst kamen die Bands einzeln oder in Zweier-Paketen hier rüber, CHAOS und GOD BULLIES haben mal eine Pakettour gespielt, kann ich mich erinnern. Dann haben wir 1991 mit „Ugly American Overkill Tour“ eine ganze Package-Tour gemacht. Das war wirklich gigantisch, fünf von diesen Bands in einen Nightliner gepackt, wir waren etwa 23 Leute und es gab nur 16 Betten ... War super, haha. Das war das erste Mal, dass HELMET in Europa waren. Die haben jeden Abend als Letztes gespielt, HALO OF FLIES, Tom Hazelmyers Band, immer als Erstes. Das hatte den einfachen Grund, dass der HALO OF FLIES-Bassist die anderen Bands mischen musste. Die anderen Bands dazwischen, GOD BULLIES, SURGERY und TAR, haben sich immer abgewechselt. Das war eine ganz legendäre Geschichte, nur wenige Gigs, und immer wenn man morgens aufwachte, war man in einer neuen Stadt in einem anderen Land. Mit einer Horde bekloppter Amis, die es in Europa natürlich super fanden, und man musste immer versuchen, die so ein bisschen zusammenzuhalten, damit auch alle drin waren, wenn der Bus losfuhr. Ich habe Merchandise und ein bisschen Tourbegleitung gemacht, man war jung, es war einfach eine schöne Zeit.
Und wie war Hazelmyer so als Typ, man hört da immer recht wilde Storys?
Echt ein super Typ! Ich habe Hazelmyer damals erst so richtig kennen gelernt, Reinhard kannte ihn ja schon von einem Besuch in Minneapolis. In seinem Leben hat er ja immer so eine eigene auch recht sture Herangehensweise. Das AmRep-Artwork wurde auch immer von ihm selbst gemacht, vom Design her war das seiner Zeit schon ein bisschen voraus. Das war so eine Mischung aus Pop Art und Linolschnitt, sehr dirty und direkt, teilweise auch bewusst politisch inkorrekt. Der hatte echt einen hohen Anspruch in allen Belangen. Seine Bands waren auch immer noch eine ganze Ecke kaputter oder besser: weniger greifbar als die Sub Pop-Bands. Da war keine dabei, die irgendwann mal einen Hit hätte schreiben können oder irgendwas Zugängliches, das im Radio läuft. HELMET sind wohl die Bekanntesten, aber die waren wirklich alle toll. SURGERY hätten wahrscheinlich noch am ehesten auch auf Sub Pop sein können. Und wenn ich DIE NERVEN höre, denke ich immer an TAR. Wir haben nicht viel von diesen Bands verkauft, das war aber auch total egal. Das hatte also alles gar nichts mit dem Sub Pop-Deal zu tun. Tom Hazelmyer fand das auch alles gut, was Sub Pop machte, auch als das erfolgreicher wurde. Aber er hätte sich nie irgendwie angebiedert und hätte irgendwas gesignt, das in Richtung Grunge geht. Davon hat er sich schon immer ein bisschen abgegrenzt. In seinem Logo steht im Hintergrund ja ganz fett Noise und das war immer seine Botschaft: Das muss richtig Krach machen, das muss extrem sein, muss den Leuten auch mal wehtun. Das hatte alles Ecken und Kanten und einige Bands musste man sich wirklich erarbeiten. Live waren alle ein Spektakel, das kann man einfach so sagen. Ich habe noch nie eine schlechte Amphetamine Reptile-Live-Band gesehen. Das war wirklich faszinierend, die auch in der Dichte zu sehen.
Ihr habt euch 1995 von Sub Pop getrennt. In einem Interview hast du mal gesagt, dass ihr als Lizenznehmer zunehmend das Gefühl hattet, nur noch die ausführende Instanz für andere zu sein.
Ja, das war das Ende eines schleichenden Prozesses. Wir hatten zwar immer auch unsere eigenen Releases herausgebracht, MONSTER MAGNET hatten wir zum Beispiel selbst gesignt, SISTER DOUBLE HAPPINESS und CODEINE, also auch ganz großartige Acts. Aber man ist eben so zugeschmissen worden mit Lizenzreleases, Sub Pop hat ja derartig viel zu der Zeit rausgebracht, dass man zu eigenen Releases kaum noch gekommen ist. Wenn man dann die Direktive bekommt, passt auf, wir bringen jetzt das neue Album von SPRINKLER heraus, einer Band, die noch nie in Europa getourt ist, und wir wollen drei Singles auskoppeln, dann ist das schon heftig. Damals ist dann ja jede Single im CD-Format, als 7“ und als 12“-Maxi herausgekommen, man hat also alleine mit der Produktion von den Dingern ein bisschen was zu tun ... Und irgendwann war das einfach so eine schiere Menge und es waren ja so gesehen auch nicht die eigenen Kinder. Wenn die nie hier tourten, dann fehlte dir oft der Bezug, selbst wenn man die Musik gut fand. Wir haben sie eben veröffentlicht, weil wir Sub Pop Europa waren, aber wir konnten uns nicht so richtig da dranhängen. Und es war einfach auch viel dabei, das man nicht veröffentlicht hätte, wenn man selbst die Entscheidung hätte treffen können. Nach der Trennung hatten wir wieder viel Platz für eigene Entscheidungen. Und leider auch viel Platz im Büro, weil man viele Leute entlassen musste. Aber der Grund, warum wir das Label machten und machen wollten, war ja, weil wir uns selbst die Freiheit nehmen wollten, das zu veröffentlichen, was wir auch mögen. Und das ging jetzt wieder. Aber als Sub Pop gesagt hat, wir ändern das hier und wir verkaufen an ein großes, böses Majorlabel, da haben wir natürlich geschluckt, weil wir wussten, dass wir da nicht mehr dabei sein werden. Wenn dir etwa 80% des Umsatzes wegfallen, dann geht das natürlich an die Existenz, das war alles nicht so ganz einfach. Zumal von 15 Leuten acht entlassen werden mussten, das kannten wir vorher nicht. Wir haben uns ja auch nicht als Unternehmer verstanden, sondern als Fans, deren Struktur durch Glück und ein bisschen Talent im Aufspüren von guten musikalischen Acts und Strömungen so groß geworden war, dass man das schon hätte professionell nennen können. Aber wir sind ja nie angetreten, um eine nur auf Profit ausgerichtete Plattenfirma zu werden.
Auch mit Amphetamine Reptile war es 1995 vorbei.
Ja, das war eigentlich eine interessante, aber völlig andere Entwicklung. Bei Sub Pop war es ja doch so, dass wir irgendwann indirekt dem großen Scheckbuch zum Opfer fielen, weil die Sub Pop-Betreiber gemerkt haben, unser Stern sinkt gerade, was Verkaufsfähigkeit angeht, also wenn verkaufen, dann jetzt. Ist ja auch alles nachvollziehbar und richtig gemacht. Bei Amphetamine Reptile war es anders. Das war zwar finanziell gesehen längst nicht so erfolgreich wie Sub Pop, hat aber in Europa eine überschaubare und nette Struktur geschaffen. Da hatten wir hier im Hause extra für Amphetamine Reptile jemanden angestellt, Anthony X. Martin, ein US-Amerikaner, der sieben Sprachen fließend spricht, auch in einer AmRep-Band gespielt hat und vor seinem Start bei uns in Spanien gelebt hat. Der ist dann nach Beverungen gezogen, hat erst mal ein Praktikum bei uns gemacht, um reinzuschnuppern, und hat dann nach und nach immer mehr der im Zusammenhang mit AmRep anfallenden Arbeitsaufgaben übernommen. Musikalisch haben wir uns dann langsam von AmRep entkoppelt. Er kümmerte sich um AmRep, wohnte auch hier im Haus, und wir haben uns immer weniger damit beschäftigt, irgendwann haben wir eigentlich nur noch die Abrechnung übernommen. Und das war dann der Punkt, an dem wir gesagt haben, Anthony macht hier eigentlich die ganze Arbeit, dann sollte er das vielleicht auch offiziell übernehmen. Dann haben wir mit Tom Hazelmyer darüber beraten und gemeinsam entschieden, dass das der beste Weg ist. Anthony hat das dann auch noch eine Zeit lang von unserem Hauptsitz aus gemacht, hat aber dann irgendwann gesagt, ich muss hier aus Beverungen weg in eine Großstadt. Kann ich auch nachvollziehen, er hatte vorher in Barcelona gelebt, haha ... Dann ist er nach Hamburg gezogen und hat da auf dem Kiez irgendwo auf einer Parallelstraße zur Reeperbahn ein kleines Ladenbüro aufgemacht, hat da auch Poster von Frank Kozic verkauft. Das war also eine absolut runde Sache. Wenn man so will, eine schleichende inhaltliche Trennung, eine emotionale Abkopplung unsererseits einhergehend mit der Möglichkeit, dass es weitergeht. Wir wollten schon, dass das auch gut aufgehoben ist, und das war es auch. Anthony hat das dann noch etwa zwei Jahre weiterbetrieben. Dann hat er aufgegeben und parallel dazu wurde auch AmRep USA inaktiver. Hazelmyer hatte zu der Zeit gerade eine Sportsbar eröffnet und einfach anderes zu tun. Mit Anthony verschwand AmRep erst mal aus Europa, es gab kein europäisches Label, das es lizensieren wollte, und die Vertriebe wollten es nicht importieren, weil die Stückzahlen nicht vielversprechend genug waren. HELMET waren ja dann auch irgendwann auf einem Majorlabel und von den anderen AmRep-Bands hat man kaum noch was in Europa gehört. Irgendwann hat die Zeit und die Entwicklung das Label ein wenig überrollt.
Von Barcelona nach Beverungen, ein krasser Schritt ... Welche Rolle hat bei Glitterhouse euer Standort in der ostwestfälischen Provinz gespielt?
Eine mehrschichtige: Zum einen vertrete ich die Theorie, dass gerade aus der Provinz viele kreative Prozesse erwachsen können, weil es den Leuten einfach saulangweilig ist. Etwas anderes als Classic-Rock-Bands war in Beverungen nicht zu sehen, wenn man sich aber trotzdem aus welchem Grund auch immer mit Underground-Musik beschäftigen wollte, musste man sich wirklich sehr viel kümmern, um überhaupt einen Zugang zu bekommen. Um Konzerte sehen zu können, musste man viel mehr auf sich nehmen, als das in der Großstadt der Fall gewesen wäre. So ist man dann schnell mit Gleichgesinnten aus der Gegend in Kontakt gekommen. Christof Ellinghaus, der City Slang-Gründer, kommt beispielsweise auch aus Beverungen. Es gab ja auch in den Achtzigern viele provinzielle Enklaven, aus denen super Musik kam. Man ist ja in der Provinz ein wenig stur und nicht unbedingt abhängig von Szenen. Ich weiß nicht, wie sich das musikalisch entwickelt hätte, wenn wir in Hamburg, Köln oder Berlin gewesen wären. Da hätte man zwar schneller neue Entdeckungen machen können, wäre aber wahrscheinlich auch nicht so in Ruhe gelassen worden und hätte sich selbst mehr Druck aufgebaut. Jemand hat uns mal als „weltgewandte Bauern“ bezeichnet, das trifft es wirklich total. Das trägt auch ein bisschen zum Image der Firma bei, das hat auch alles so etwas Familiäres oder das sind doch die, die es schon so lange gibt, wie machen die das eigentlich? Aber damals brauchtest du, um ein Label zu machen, eigentlich nur ein Telefon und ein bisschen billigen Lagerplatz. Das Fax kam auch gerade auf und das konntest du eigentlich von überall machen. Auch in Hamburg hätte man einen Brief schreiben müssen, um die MIRACLE WORKERS in den USA zu erreichen. Zum Nachteil wird der Standort eigentlich erst, wenn die Sache größer wird und du Leute brauchst, die schon Erfahrung in dem Job haben. Da muss man dann schon etwas länger suchen.
Gab es etwas auf eurem Weg, das du rückblickend gerne ein wenig leichter gehabt hättest?
Ja, schon. Damals gab es diese ganze Branche ja noch nicht. Es gab nur ein, zwei Vertriebe und ein paar Labels, da war fast niemand, der dir was beibringen konnte, das musste man sich – ohne Internet – alles selbst draufschaffen. Für unsere erste Veröffentlichung mussten wir dann erst mal gucken, wie man überhaupt Platten presst. Und weil es nicht das große Buch des Plattenpressens gab, sind wir tatsächlich erst mal ins Postamt, wo alle Telefonbücher deutschlandweit im Eingangsbereich hingen, dicke Schwarten in so einem grauen Kunststoffrahmen. Reinhard hat sich dann Berlin gekrallt und ich mir Hamburg und wir haben gezielt nach den Schlagwörtern „Schallplatten“ und „Tonträger“ Ausschau gehalten. Und irgendwann hatte ich dann tatsächlich ein Schallplattenpresswerk gefunden, bei dem wir dann auch angerufen und nachgefragt haben, wie man denn eine Platte macht, haha. Die Informationen waren einfach nicht frei verfügbar, das war schon sauanstrengend, sich das selber draufzuschaffen, und hat auch ein bisschen gedauert. Heute ist das schon wesentlich einfacher, da gibt es kein „Herrschaftswissen“ mehr.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #127 August/September 2016 und Anke Kalau