Analysen und Kommentare zu den Ereignissen von Genua gibt es genügend. Dies hier stellt eher einen persönlichen Bericht dar, so wie ich es vor Ort erlebt habe. Nicht mehr.
Warum fahren 200.000 Leute nach Genua? Eine Frage, die zahlreiche Reporter den noch zahlreicheren Leuten vor Ort immer wieder stellten und ihnen ihre Mikros vors Gesicht drückten. Dabei ist es fast unmöglich, diese Frage auch nur ansatzweise in weniger als zehn Minuten zu beantworten. Wer sich auch nur oberflächlich mit den Auswirkungen von Kapitalismus, der Globalisierung und der mit ihr einherschreitenden Neoliberalisierung der Märkte beschäftigt, wird schnell zu dem oft genannten und auch zutreffenden Fazit kommen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen den Industrieländern und dem Trikont immer größer wird. Die menschenverachtenden Auswirkungen der Neoliberalisierung aber allein auf diese Schlagworte zu reduzieren, wäre falsch. Schließlich zeigen diese sich in fast allen Bereichen. So wird besonders am G7-Treffen (in Genua G7 plus Russland) die undemokratische Struktur dieses Systems deutlich. Nicht nur, dass demokratische Grundrechte immer weiter abgebaut werden, sondern sich im Gegenzug ein Kontrollstaat mit immer weiterführenden Rechten für Polizei und Nachrichtendienste herausbildet. Außerdem enthält der G7-Gipfel keinerlei demokratische Legitimation. Genau wie WTO, IMF und Co. kontrolliert niemand die G7. Hinzu kommt, dass die sieben reichsten Länder der Erde Entscheidungen treffen (offiziell nur Vorschläge genannt), die die gesamte Menschheit betreffen und besonders die strukturellen Abhängigkeiten der sogenannten Dritte Welt-Länder vorantreiben, ohne das diese auch nur ansatzweise die Chance hätten, diese Vorgänge zu beeinflussen. Wer sich tiefgehender mit diesen Themen beschäftigen will, kann die unten angegebenen Links nutzen.
Gründe gibt es also genug, um seinen Unmut auf die Straße zu tragen, und so mache ich mich zusammen mit einem Freund am 14.7. auf den Weg nach Genua. An der italienischen Grenze, an der nach dem Aussetzen des Schengener Abkommens wieder Kontrollen stattfinden, gibt es die ersten Probleme. Allerdings nicht aufgrund unserer Fahrt zum G8-Gipfel. So teilen uns die Grenzbeamten mit, dass wir die Grenze nicht in Chiasso passieren könnten, sondern zum Grenzübergang nach Varese zu fahren hätten, da ihr Computer ihnen mitgeteilt habe, dass meine Begleitung seinen Militärdienst abzuleisten habe. Auf unsere Beteuerungen, dass er gar kein Italiener sei, sondern nur sein Vater und er seinen Militärdienst bzw. Ersatzdienst sowieso in Deutschland ableisten werde, reagieren die Beamten etwas verwirrt. Nach kurzer Besprechung dürfen wir dann aber doch noch nach Italien einreisen, mit dem Hinweis, das wir ja dann auf dem Rückweg mal bei Varese vorbeischauen könnten. Irgendwie hatten wir den Eindruck, dass auch die Polizia-Typen genau wussten, dass wir das eh nie machen würden und ihnen das eigentlich auch scheißegal war.
Sonntagmittag kommen wir dann in Genua an. Aber am Convergence Point, dem großen Infopoint während des Gegengipfels, sind nur vier Leute des GSF (Genoa Social Forum - in diesem haben sich mehr als 900 Gruppen aus den verschiedensten politischen und sozialen Spektren zusammengeschlossen, um die Proteste gegen den G8-Gipfel zu organisieren) anwesend, die uns nach Sciorba verweisen, einem Stadion, das als Lager dient. Dieses wird aber erst um 19:00 Uhr geöffnet, und so sind wir die ersten Demonstranten, die das Lager betreten.
Am Montag war dann erst mal Stadterkundung angesagt. Desweiteren tagte bereits seit Freitag auch schon der Gegenkongress, auf dem täglich verschiedenste Vorträge gehalten und Diskussionen zur Globalisierung geführt wurden. Dabei reichte das Spektrum vom Schuldenerlass über Agrarfragen bis hin zur Problematik der medizinischen Versorgung in Anbetracht der Medikamentenpatente in der Dritten Welt. Bedenkt man die Unhomogenität der Antiglobalisierungsbewegung, so sind diese Gegen- oder Alternativgipfel besonders wichtig, weil hier gemeinsame Gegenstrategien entwickelt und diskutiert werden können. In meinen Augen war der Gegengipfel sehr erfolgreich und hat sowohl mir persönlich, als auch der gesamten Bewegung viel gebracht. Dabei war es besonders interessant, auf Tausende von Leuten zu treffen, mit diesen zu diskutieren, Ideen auszutauschen und täglich zu erleben, wie breit gefächert der Widerstand ist. Leider hatte ich den Eindruck, dass einige Gruppen scheinbar grundsätzlich nicht an diesen Gegengipfelveranstaltungen teilgenommen haben, weil sie wohl größtenteils von reformistischen Gruppen getragen wurden. Auch wenn ich ebenfalls diesen reformistischen Ansatz falsch finde, so ist es unheimlich wichtig, den Austausch der Gruppen zu fördern, da sonst bald wieder alle Gruppen ihren eigenen Weg gehen. Man sollte die Chance, die diese unglaublich breit gefächerte Widerstandsbewegung bietet, auch nutzen!
Montag: im Gegensatz zum Sonntag, an dem die Lage noch sehr entspannt wirkte, taucht nun an jeder Ecke in der Stadt Polizei auf und kontrolliert alles wahllos, was irgendwie nach Demonstrant aussieht. So auch uns. Als wir an einer Bushaltestelle stehen, hält ein Polizeiauto, fordert unsere Pässe und vermerkt unsere Namen in einer Liste, in der schon andere Namen eingetragen sind. Am späten Nachmittag gehen wir dann zum Carlini-Stadion, in dem Bekannte von uns untergekommen sind. Das Carlini-Stadion ist das offizielle Lager der „Tute Bianche“ („komplett weiß“), die aus der Ausweglosigkeit der Autonomen Bewegung („Tute Nerde“/„komplett schwarz“) neue Strategien entwickelten, und deren blinden Aktionismus und oft vertretenen Gewaltfetischismus ablehnen. Als wir am Stadion ankommen, ist dort helle Aufregung: Polizei vor dem Stadion, und ein Typ erzählt mir was von „a box with two clocks on it“. Bombenalarm. Alle ins Stadion rein, ein Spezialkommando rückt an und zündet die Bombe. Ein kleiner Knall und alles vorbei. Es wird erzählt, dass es nur eine Attrappe war. Ein Mann soll versucht haben, den Koffer erst ins Stadion zu stellen, wurde dort aber aufgrund seines auffälligen Verhaltens rausgeschmissen. Kurze Zeit später wird in den Medien berichtet, das an eine Polizeistation eine Briefbombe geschickt wurde und ein Polizist verletzt wurde. Ratlosigkeit und Wut macht sich breit, die Bombe wird natürlich uns und dabei explizit den radikalen Gruppen zugeschrieben. Aber welche linken Gruppen würden Bomben verschicken? Nach all der Medienhetze im Vorfeld, scheint dies nun perfekt ins Bild der „Krawalltouristen“ zu passen. Ein ganz mieses Spiel. Aufgrund der beiden Bomben ist die Polizei nun nervöser und aggressiver.
Dienstag morgen werden wir unsanft aus dem Schlaf gerissen. 7:00 Uhr morgens, Zivicops in unserem Stadion, Passkontrolle, alle aufstehen. Erneut werden unsere Namen in vorgefertigten Listen notiert, eine rechtliche Grundlage scheint es nicht zu geben, aber wen interessiert das schon. Für alle Fälle steht auf einem Parkplatz hinter dem Stadion eine Hundertschaft der paramilitärischen Carabinieris (ungefähr das, was Schily aus dem BGS machen will) bereit, in voller Riotausrüstung. Wie wir später erfahren, gab es auch in anderen Lagern Kontrollen. Die Tute Bianche können verhindern, dass eine Hundertschaft ihr Stadion stürmt und lassen nur vier Polizisten ins Lager. Trotzdem ein klares Zeichen der Polizei: „Wir beobachten euch, fühlt euch nicht zu sicher“. Polizeiwillkür.
Die Stadt wimmelt jetzt von Bullen, Soldaten werden in der Stadt stationiert. Im Laufe des Tages wird erneut eine Bombe gefunden, zudem wird die Altstadt bzw. die „rote Zone“ mit fünf Meter hohen Zäunen abgeriegelt. Selbst Anwohner müssen sich ständigen Kontrollen unterziehen. Ein Engländer äußert in einem Gespräch mit mir, dass ihn die Zäune an die Berliner Mauer erinnern, eigentlich ganz passend, wie ich finde. Nur dass diesmal das Volk ausgesperrt wird, damit die Politiker in Ruhe über das Schicksal der Welt entscheiden können. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand.
Abends erfahren wir dann noch, dass die Bombe am Carlini-Stadion gar keine Attrappe war, sondern scharf und mit einem Zeitzünder versehen war, der nur noch wenige Minuten bis zur Zündung benötigte. Wenn ich bedenke, dass ich mich nur ca. 20 Meter von der Bombe entfernt aufhielt, wird mir etwas mulmig zumute.
Auch am Mittwoch geht der Bombenspass weiter. Heute sind es gleich zwei Bomben, die gefunden werden: eine irgendwo unter einem Wohnmobil und eine andere in direkter Nähe des Manu Chao-Konzerts, welches am Abend stattfindet. Irgendwie ist es total klar, dass hier jemand Bomben legt, um die Antiglobalisierungsbewegung zu diskreditieren. Besonders, weil bei mindestens zwei Bomben mehrere hundert Aktivisten gefährdet waren. Ich halte von Verschwörungstheorien nicht viel, aber wer hinter diesen Anschlägen steckt, kann sich eigentlich jeder denken.
Vor dem Konzert am Abend (siehe Konzertberichte) stirbt Genova aber weiter aus. Die Geschäfte, die bis jetzt noch offen hatten, schließen nun auch für mehrere Tage, und alles wird verrammelt. Trotz alledem scheinen die Genuesen keine wirkliche Angst vor den Demonstrationen zu haben. Meistens wird uns gegenüber sogar eine ehrliche Sympathie gezeigt.
Als eines der Highlights des Gegengipfels tritt zudem heute José Bové auf, und auch wenn ich leider nur noch den Schluss mitbekomme und auch sonst in vielen Fragen nicht mit Bové übereinstimme, so fand ich seine Rede schon ziemlich beeindruckend. Durch das folgende Konzert entspannt sich die Situation zumindest von der Seite der Demonstranten her wieder etwas.
Als wir spät abends in unser Lager zurückkehren, bin ich überrascht, in welch kurzer Zeit sich das Lager gefüllt hat. Sonntag kaum 20 Leute, werden es bis Freitag rund 2.000. Und was sich bereits von Anfang an andeutete, wird jetzt besonders deutlich. Das Lager ist sehr bunt gemischt, von christlichen bis zu anarchistischen Gruppen ist alles vertreten. Zudem ist die Stimmung immer gut und entspannt. Es ist einfach wunderbar, ständig von Leuten umgeben zu sein, die sich über mehr Gedanken machen, als „wann die nächste Feier steigt“ (oder „wann man eine neue Platte kaufen kann“; hallo Punkrock?). Es wimmelt nun wirklich in der ganzen Stadt nur so von Aktivisten.
Am Donnerstag ist dann die erste große Demo für die Rechte der Flüchtlinge und offene Grenzen. Für mich persönlich ein sehr wichtiges Thema, schließlich sind die Flüchtlinge auch so was wie die ersten Opfer der Globalisierung. So können Güter und Kapital zwar grenzüberschreitend ohne Probleme zirkulieren, Flüchtlingen wird aber jeglicher, oft lebensrettender Grenzüberschritt nach Europa verwehrt. Nicht zuletzt durch das Schengener Abkommen und durch die rigiden Kontrollen der Außengrenzen, ist es für Flüchtlinge praktisch unmöglich geworden, z.B. legal nach Deutschland zu flüchten.
Die Demonstration, an der mehr als 50.000 Menschen teilnehmen, verläuft super. Die Stimmung ist gut, die Teilnehmer sind bunt durchmischt und es gibt etliche kreative Aktionen. An der Demo selber nehmen auch viele Flüchtlinge teil. Leider wurde z.B. eine Delegation von The Voice aus Deutschland aufgrund der rassistischen Residenzpflicht an der Grenze zur Schweiz festgehalten. Sehr angenehm ist auch, dass die Polizei kaum Präsenz zeigt, vom Auftaktort mal abgesehen. In Italien scheint es völlig unüblich zu sein, dass die Polizei wie in Deutschland provokativ Spalier läuft. Teilweise tangiert die Demoroute die rote Zone. Neben den bereits bekannten Zäunen hat die Polizei an vielen Stellen nun auch riesige Wände aus Containern gebaut - das haben sie wohl bei der schwedischen Polizei abgeguckt.
Die Reaktionen der Anwohner sind durchweg grandios. Einige schließen sich spontan an, andere jubeln der Demo zu und dauernd hängen irgendwelche Leute ihre Unterwäsche aus dem Fenster. Dafür muss man wissen, dass Berlusconi angeordnet hat, dass alle Satelliten-Schüsseln und Wäscheleinen während des G8-Gipfels in Genua entfernt werden sollten, da sie das Stadtbild angeblich negativ beeinflussten... An diese Anordnung haben sich zwar eh nur wenige Leute gehalten, aber nun werden auch noch aus etlichen Fenstern triumphierend Unterhosen geschwungen. Die Solidarität der Genuesen zeigt sich auch sonst ständig: da sind die alten Herren, die uns am Freitag mit geballter Faust aus ihrem Fenster anfeuern, weiterzukämpfen; da sind die Frauen, die die Demonstranten mit Wasser versorgen und da sind die grandiosen Busfahrer, die Demonstranten weitab ihrer Linie aufsammeln und auch schon mal über ihre Arbeitszeit hinaus weiterfahren, damit wir nicht so weit zu unseren Lagern laufen müssen. Auch nach den schweren Verwüstungen vom Freitag und Samstag brechen die Sympathiebekundungen nicht ab. Man kann diesen Leuten nur dankbar sein.
Nach dieser friedlichen Demo gehe ich eigentlich mit ziemlich optimistischen Gefühlen schlafen. Da macht es auch nichts mehr aus, dass es nun sintflutartig regnet und die Zelte in Sciorba absaufen. Was soll´s, die Vorbereitungstreffen für die morgigen Direct Actions lassen hoffen. Es gab unglaublich viele kreative Ideen.
Das Konzept am Freitag sieht nun so aus, dass durch viele Demonstrationen mit verschiedenen Routen und durch dezentrale, direkte Aktionen versucht wird, in die rote Zone einzudringen. Den Herrschenden soll so gezeigt werden, dass wir uns nicht aussperren lassen, und sie ihre Entscheidungen nicht über die Köpfe der Menschheit hinweg fällen können. Wir entscheiden uns, am Pink March teilzunehmen. Konzept ist hierbei, dass man sich nicht von irgendwelchen Organisationen vereinnahmen lassen will, dementsprechend sind hier auch alle Banner und Fahnen von eben solchen unerwünscht. Unterstützt werden die Demonstranten durch eine Sambagruppe und die „revolutionären Cheerleaders“. Dabei einigt man sich darauf, sich absolut pazifistisch zu verhalten. Im Gegensatz zu so manch anderen pazifistischen Märschen kommt hierbei aber auch die radikale Kapitalismuskritik nicht zu kurz.
Vom Convergence Point aus geht es los. Aufgrund des großen (Musik-)Lärmpegels, den die Demo verursacht, bleiben viele Leute stehen, einige schauen irritiert, andere klatschen Beifall und einige tanzen sogar am Straßenrand mit. Die Stimmung ist super und sehr entspannt, die Leute bewegen sich wie auf einer riesige Party mit politischer Aussage auf die Zona Rossa zu. Auf dem Weg dorthin stoßen wir immer wieder auf andere Demonstrationszüge. Insgesamt sind seit dem Morgen rund 180.000 Aktivisten unterwegs, um die rote Zone zu stürmen. Auf halbem Weg, so gegen 12:00 Uhr, kann man aus den nun tiefergelegenen Teilen der Stadt, von denen wir aufgebrochen sind, eine riesige schwarze Rauchwolke aufsteigen sehen. Irgendwie versuchte man sich zu beruhigen, kann ja auch irgendetwas anderes sein. Kurz vor dem Zaun, der von martialisch aussehenden Carabinieris bewacht wird, kreuzt die Demo der Rete Lilliput unseren Weg. Diese haben ihre Hände zum Zeichen ihrer Gewaltlosigkeit in weiße Farbe getaucht, und es bewegt sich nun ein riesiges Meer aus nach oben gestreckten weißen Händen auf die Absperrung zu. Und obwohl unser Demonstrationszug ziemlich lange warten muss, bleibt die Stimmung gut. Auch kommt es zu keiner Konfrontation. Aber irgendwie tut sich nicht mehr viel. Vor der Polizeiabsperrung tanzen einige Christen im Kreis und trällern fröhlich ihre Weisheiten, der Pink March kann sich aber nicht weiterbewegen.
So entschließen wir uns, erst mal auf eigene Faust herumzugehen und uns nach Möglichkeit einer entschlosseneren Gruppe anzuschließen. Als wir die Strasse verlassen, kann ich gerade noch sehen, wie sich der Pink March doch noch auf die Absperrung zubewegt. Wir irren nun einige Zeit ziellos herum und kommen dann wieder in die Nähe unseres Ausgangspunktes. Irgendwas brennt hier in der Nase und meine Augen tränen leicht. Wie wir später erfahren werden, hat die Polizei kurz nach unserem Aufbruch den Pink March mit Tränengas angegriffen und auf die Leute brutalst eingeprügelt. Einer Frau, die wir im Lager treffen, wurde dabei der Arm gebrochen, auf der Polizeistation erhielt sie weitere Schläge.
Vorsichtshalber entfernen wir uns. Plötzlich sehen wir eine weitere Rauchwolke aus der Stadt aufsteigen. Mit mehreren anderen Demonstranten bewegen wir uns durch das Strassengewirr auf diese zu. Als wir um eine Ecke biegen, ist sie auf einmal direkt vor uns, eine völlig verwüstete Strasse, massig brennende Mülltonnen und Autos. Es ist weit und breit niemand zu sehen, weder Polizei noch Demonstranten. Der Wind fegt ein paar Blätter über die Strasse, es ist fast ganz still. Diese Szenerie wirkt so irreal, dass ich mir ein bisschen wie in einem Film vorkomme. Wir gehen weiter. An der nächsten Kreuzung brennt es wieder in den Augen - Tränengas. Dazu mischt sich der beißende Rauch von brennendem Plastik. Nach weiteren Minuten treffen wir auf eine große Demo. Helle Aufregung, in der Ferne sieht man Polizei. Wie ich in Erfahrung bringen kann, ist die Demo gerade von der Polizei attackiert worden. Auf der Kreuzung steht ein ausgebranntes Polizeiauto. Wir gehen weiter und kommen mitten in die nächste Auseinandersetzung. Schwere Zusammenstöße. Es ist kaum auszumachen, was passiert. Weiter vorne sieht man ständig die CS-Gas-Patronen durch die Luft fliegen, die auf die Leute geschossen werden. Und auch wenn die weißlichen Tränengaswolken noch weit entfernt sind, so brennen mir schon wieder die Augen und die Atemwege. Leute, die aus den Wolken torkeln, ringen nach Atem, das Zeug ist die Hölle. Wir entschließen uns weiterzugehen. Ich frage mich, wie es weitab der roten Zone zu Krawallen kommen konnte. Dabei gehe ich davon aus, dass hier der „Höhepunkt“ der Auseinandersetzungen stattgefunden hat. Während unseres Weges werde ich aber eines besseren belehrt: überall getrashte Banken, Versicherungen und Maklerbüros. Das finde ich ja noch ganz okay, trifft halt wenigstens die richtigen. Warum aber auch normale Autos oder kleine Lebensmittelläden zerstört werden, kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Auf einmal befinden wir uns im Rücken der Polizei - wir fragen uns sowieso, warum die Demo nicht längst gekesselt wurde. Es hat den Anschein, als ob die Polizei die Auseinandersetzungen künstlich am Leben erhalten will, indem sie den Leuten immer wieder ein Rückzugsgebiet zur Verfügung stellt.
Die Kämpfe gleichen nun einem riesigen Katz und Maus-Spiel: die Polizei schießt mit Tränengas, rückt zurück, die Gegenseite rennt nach vorne, attackiert die Polizei, rennt zurück und dann ist die Polizei wieder am Zuge. Nach einiger Zeit schaue ich auf die Uhr: schon fünf Stunden vergangen. Ich fange an, die CS-Gas-Hülsen in meiner direkten Umgebung zu zählen. Bei 50 höre ich auf, die ganze Strasse ist übersät mit ihnen. Plötzlich fahren Cops mit Gewehren auf, die anderen Carabinieris jubeln ihnen zu und feuern sie an. Sie hämmern mit ihren Gewehren und CS-Gas-Wummen auf ihre Autos und brettern auf die Demonstranten zu. Es ist widerlich. Wir folgen ihnen. An der nächsten Kreuzung steht dann (wieder mal) ein brennendes Polizeiauto, waren wohl doch nicht so erfolgreich. Ein Demonstrant neben mir findet eine Gewehrpatronenhülse auf dem Boden. Mir wird schon wieder mulmig und wir sind ratlos, wohin wir gehen sollen. Wir entschließen uns, zum IMC zu gehen.
Auf dem Weg dorthin ist auch alles zerstört und immer wieder hängt Tränengas in der Luft. Die gängigen Presseagenturen berichten schon von den Ausschreitungen, manchmal überraschend kritisch. Bei Reuters dann der Schock: ein Demonstrant sei erschossen worden. Scheiße, die Leute können es nicht fassen. Einige fangen an zu weinen. Ich bin fassungslos und wütend. Vor zwei Stunden war ich da auch noch drin. Ein Gedanke kommt auf: diese Schweine, jetzt erschießen sie uns schon.
Wir treffen unsere Bekannten wieder. Eine Sorge weniger, alles klar bei ihnen. Die Stimmung ist allgemein gedrückt, am Convergence Point sitzen die Leute ratlos rum. Die Krankenwagen rasen immer noch im Minutentakt an uns vorbei. Es geht das Gerücht um, dass ein bestimmtes Lager von der Polizei heute nacht geräumt werden soll. Die meisten Leute flüchten schon, so auch unsere Bekannten. In unserem Lager bleibt alles ruhig.
War der gestrige Tag ein Erfolg oder nicht? Es wird überall diskutiert. Aber auch mit einer Nacht dazwischen ist es immer noch nicht ganz zu begreifen, auch wenn der Ablauf jetzt wenigstens einigermaßen klar ist. Wir hören, dass zwei Leute gestern in die rote Zone eingedrungen sind, die Attac-Demo sogar ein Loch in den Zaun bekommen hat; aber wer kann sich darüber jetzt noch freuen?
Aus schwarzen Müllsäcken basteln wir uns Trauerbinden und machen uns auf zur gemeinsamen Demo aller Gruppen. Als wir dort ankommen, ist die Stimmung gereizt, die Polizei steht provokativ am Demorand. Mit einigen anderen Leuten bewegen wir uns unter „Assassini“-Rufen auf die Polizei zu. Diese ziehen sich daraufhin panikartig zurück, ein Carabinieri zeigt uns den Mittelfinger, schon fliegen die ersten Steine und Flaschen. Mist, ich habe den Eindruck, dass einige Leute nur darauf gewartet haben. Kurze Zeit später brennen schon wieder Barrikaden und Autos, die Polizei deckt die Leute mit Tränengas ein und schießt auch auf das Gelände des Convergence Point. Völlig überflüssig! Das Tränengas strömt in die Zelte, die Leute fliehen panikartig. Es wird versucht, Ketten zu bilden, um die Straßenschlacht von der Demo zu trennen, die kurz vor dieser nach rechts abbiegt. Immer wieder rennen Leute angsterfüllt in die Demo, sobald die Polizei ein Stück vorrückt. Wir haben die Befürchtung, dass die Leute in Panik geraten und sich gegenseitig tottrampeln. Es scheint so zu sein, dass die Polizei die Demo verhindern und in viele voneinander getrennte Gruppen aufteilen will. Viele erzählen, dass die Demo an verschiedenen Stellen mit Tränengas beschossen wurde. Genau wie am Freitag sollen auch diesmal wieder explizit pazifistische Gruppen attackiert worden sein. Unser Versuch, wieder den Demonstrationszug zu erreichen, scheitert. Als wir zurückgehen, sehen wir was passiert, wenn nur ein kleiner Teil der Menge in Panik gerät. Den gesamten Corso Italia runter zeigt sich ein Bild der Verwüstung. Wie ein Reporter erzählt, ist die Polizei vorgerückt und hat in die Demo geprügelt. Überall Blut, einige Blutlachen sind riesig groß. Auf der ganzen Strasse liegen Fahnen, Transparente und Plakate, selbst Taschen und Fotoapparate. Die Menschen scheinen um ihr Leben gelaufen zu sein. Erneut wird mir bewusst, wie knapp es wieder für uns war und wieviel Glück wir hatten.
Aus der Stadt steigen überall Rauchwolken auf. Später fahren wir zurück nach Sciorba. Wir wollen versuchen, noch heute abend einen Bus nach Deutschland zu bekommen. Jemand hat uns von einem Platz mit vielen deutschen Bussen erzählt. Also machen wir uns mit dem Auto auf den Weg. An einer Ampel steht dann ein blauer Alfa neben uns, aus dem uns einige Typen erstaunlich interessiert angaffen. Kaum ist die Ampel grün, zieht der Wagen an uns vorbei und zwingt uns zu stoppen. Carabinieri, scheiße! Alles aussteigen, Pässe zeigen. Hände hoch, an die Wand stellen, meine Beine werden mir auseinandergetreten. Mit einem Knüppel werde ich an den Beinen abgetastet und mit Schlägen in die Seite wird überprüft, ob ich etwas unterm T-Shirt habe, netterweise ist es die flache Hand. Unsere Sachen werden alle auf die Strasse gekippt und das Auto durchsucht. Ich habe dabei noch Glück, da meine Sachen auf einem separaten Haufen landen. Die der anderen werden einfach zusammengekippt. Eine überall ausliegende und massenhaft gedruckte Karte mit der roten Zone und den Demoverläufen sorgt für helle Aufregung unter den Cops. Genauso erregt ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo von No Idea Records deren Aufmerksamkeit. Ständig werden wir nach zwei Worten gefragt: „Black Block?“. Auf ein Handy wird mit einem Knüppel geschlagen, einen Film steckt einer der Carabinieri ein. Der Aufdruck eines Beutels von Green Hell wird genauestens protokolliert, warum auch immer. Wir haben alle gehörig Schiss, dass sie uns wegen irgendeines fadenscheinigen Grundes mitnehmen. Ihre Prügellust an Gefangenen war uns da schon mehrmals zu Ohren gekommen. Genauso plötzlich wie sie gekommen sind, hauen sie dann aber auch wieder ab. Nur die Polizia-Leute sind jetzt noch da. Diese sind im Vergleich zu den Carabinieri richtig freundlich.
Den besagten Platz mit den Bussen finden wir natürlich auch nicht mehr und fahren so zurück zum Lager. Es ist jetzt schon späte Nacht und das Lager ist schon leerer, da viele schon abgereist sind. Dann kommt die nächste Schreckensnachricht: das IMC ist von der Polizei gestürmt worden und die Leute dort sind brutalst verprügelt worden. Angst macht sich breit, die Cops sollen angeblich auch in die anderen Lager kommen. Viele Leute wollen abhauen. Es wird aber davon abgeraten, alleine durch Genua zu ziehen. Den ganzen Abend über sind kleine Gruppen von der Polizei wahllos festgenommen worden. So wird der Entschluss gefasst, gemeinsam im Lager zu bleiben und es morgen geschlossen zu verlassen. Mitten in der Nacht kommt dann noch der Bürgermeister des Stadtviertels in dem wir sind, und bekundet die Solidarität der Einwohner Genuas mit den Demonstranten. Auch einige Reporter treffen ein. Man fühlt sich wieder etwas sicherer, wenigstens schaut die Öffentlichkeit auf die Geschehnisse. Trotzdem geht kaum jemand aus Angst vor der Polizei schlafen. Zu deutlich sind die Schilderungen vom Überfall auf das IMC und von Leuten, denen im Schlaf der Kiefer gebrochen wurde.
Um 5.00 Uhr morgens übermannt uns dann doch noch die Müdigkeit und wir legen uns schlafen. Andere spielen immer noch Fußball, um sich wach zu halten und im Notfall die anderen zu wecken. Ich gehe mit der Gewissheit schlafen, dass nachher noch die Cops kommen und hier Rache an uns nehmen wollen.
Aber sie kommen nicht - glücklicherweise - die Erleichterung ist allen anzusehen. Die Busfahrer erklären sich bereit, uns zum nächsten, weit außerhalb liegenden Bahnhof zu bringen. Was hätten wir ohne die praktische Solidarität dieser Fahrer der orangenen Busse wohl gemacht?
Dann sitze ich im Zug nach Mailand, gesund glücklicherweise, wenn auch oft nur knapp davongekommen.
Ich denke an den Mann, den wir im IMC kennengelernt haben. Eigentlich war er auf dem Weg nach Korsika, hat aber auf dem Weg dorthin Leute kennengelernt, die nach Genua fuhren. Deren Schilderungen und einige Broschüren überzeugten ihn, seinen Urlaub zu verschieben und auch gegen die kapitalistische Globalisierung zu demonstrieren. Und so richtig schön passend für den Schluss meinte er dann noch: „Das ist die erste Demo meines Lebens, aber bestimmt nicht die letzte“. Das macht Hoffnung.
Voi G8
Noi 6.000.000.000
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #44 September/Oktober/November 2001 und Simon Brüggemann