Ian MacKaye war einst der Frontmann von MINOR THREAT, gründete mit Dischord Records eines der dienstältesten und renommiertesten Labels und verwirrte die internationale Szene 1987 mit FUGAZI. Ich erinnere mich noch genau, wie Leute nach deren erster Europatour nicht gerade begeistert dreinblickten: mit dem straighten Hardcore, den man von der MINOR THREAT-Ikone erwartet hatte, warteten FUGAZI nicht auf, und so ganz schien die Zeit noch nicht reif zu sein für die Vision von MacKaye, Joe Lally, Brendan Canty und Guy Picciotto von einem Sound, der die Klischees und Standards des US-Hardcores hinter sich lässt, ohne dessen Roots in musikalischer wie ideeller Hinsicht zu vernachlässigen. Doch bald schon waren diese Startschwierigkeiten vergessen, und obwohl sich FUGAZI bis heute den gängigen Vermarktungsschemata verwehren - keine T-Shirts, keine teuren Konzerte, keine Interviews mit den großen Kommerzmedien -, hatten sie - plötzlich war die Zeit sehr wohl reif dafür - Anfang der Neunziger mit "Waiting room" einen Hit, der in jeder Alternative-Disco gespielt wurde. Obwohl ich keine genauen Zahlen kenne, kann man wohl vermuten, dass sich seit dieser Hochphase der Mythos FUGAZI nicht unbedingt an hohen Verkaufszahlen festmachen lässt - und Stars des Kalibers AT THE DRIVE-IN, die FUGAZI immer als Vorbilder bezeichnet haben und für die Musik auch immer mehr als nur die Musik war, verkauften mal eben eine Million Platten. Doch während sich ATDI womöglich als schnell verglühender Shooting Star erwiesen, sind FUGAZI das genaue Gegenteil, das musikalische Äquivalent zum ökologischen Prinzip der Nachhaltigkeit: FUGAZI waren und sind und werden sein.
Mit der EP "Furniture Number 5" sowie dem Album "The Argument" meldeten sich FUGAZI im Oktober zurück, und Ian MacKaye hatte ein knappes Stündchen Zeit, sich mit mir über FUGAZI und Dischord und den Anschlag auf das Pentagon zu unterhalten.
Ian, seit eurem letzten Album sind drei Jahre vergangen. Das ist ganz schön lang in Zeiten, da alle paar Monate "the next big thing" angesagt ist, aber FUGAZI hat schon immer ausgezeichnet, dass ihr nie von Trends und Marketingplänen abhängig wart.
So sehe ich das auch. Wir müssen uns um sowas nicht kümmern, wir haben ja unser eigenes Label. Die Band gibt´s jetzt seit 14 Jahren, wir haben immer alles so gemacht, wie wir das wollten, und in gewisser Weise ist es ein Luxus, aber andererseits auch ein angenehmer Nebeneffekt, wenn man alles D.I.Y. macht.
Ist es für euch überhaupt ein Thema, beim Rennen um die Gunst des Publikums mitzumachen? Andere Bands bringen jedes Jahr ein Album raus, sind ständig medial und auf den Bühnen präsent - ihr nicht.
Das ist für mich überhaupt kein Thema, darüber denke ich gar nicht nach. Neue Fans zu gewinnen oder so, das interessiert mich einen Scheiss. Wir machen Musik, wir dokumentieren das und veröffentlichen es - und wenn das jemanden interessiert, schön, wenn nicht, scheissegal. Mein Denken bewegt sich nicht in Begriffen von "Reetablierung" von FUGAZI oder dem Gewinnen neuer Fans. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, wie ich über Musik denke. Musik ist eine Ausdrucksform des menschlichen Geistes, die älter ist als die gesprochene Sprache. Manche Menschen sind nun in der Lage, Musik zu schaffen, andere wollen diese hören, und manchmal sind das die gleichen Leute. Wir sind eine Band, wir sind Freunde, es macht uns Spass zusammen zu spielen, wir sehen es als Herausforderung an Musik zu machen und die Welt, in der wir leben, treibt uns an Musik zu machen. Und es ist schön zu sehen, dass es da draussen in der Welt Leute gibt, die sich für uns interessieren. Wir hoffen, dass unsere Musik wiederum andere Leute inspiriert, so wie wir von anderen Musiker inspiriert wurden.
Und wie passen FUGAZI in eine Welt, in der vor allem Bands präsent zu sein scheinen, die alles andere als originell und kreativ sind, sondern vor allem vermarktbare Produkte?
Ich denke, das ist kein neues Phänomen, obwohl ich schon das Gefühl habe, dass sich die Kommerzialisierung in den letzten Jahren noch weiter beschleunigt hat. Andererseits war die Welt auch noch nie frei von Leuten, die zu ihrem eigenen Nutzen eine Sache ausbeuten. In erster Linie hat jeder einzelne für sich zu entscheiden, wie er an etwas herangeht. Ein Beispiel: es gibt sicher Leute, die dein Heft sehen, ein Magazin mit Hochglanztitelbild sehen, und der Meinung sind, es handle sich um einen Ausverkauf der Szene, was du da betreibst, weil du ja auch Anzeigen gegen Geld nimmst und so weiter. Und genauso wird es auch Leute geben, die FUGAZI für eine Band halten, die es ja sowieso schon viel zu lange gibt oder woran auch immer die was auszusetzen haben. Der Punkt ist, dass immer irgendwer sich über irgendwas beklagt. Was nun die vermeintliche Kommerzialisierung unserer Szene anbelangt: vor zehn Jahren gab es sicher genauso viele Bands wie heute, die irgendwie versucht haben, den Durchbruch zu schaffen. Nur klangen die nicht unbedingt wie Musik, für die sich unsereins interessiert. Dann gab es eine Phase, wo diese Übereinstimmung durchaus vorhanden war, als die Majorlabels versuchten in unsere Szene vorzudringen, oder zumindest haben sie sich uns ziemlich stark genähert. Heute ist das schon wieder anders, aber grundsätzlich ist es mir egal, denn diese Bands interessieren mich einfach nicht. Jeder muss selbst entscheiden, auf welcher Basis er arbeiten will, was für ihn das Beste ist. Mir persönlich fällt es sehr schwer mir überhaupt vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich bei einem Großkonzern unter Vertrag stünde, welchem Druck ich ausgesetzt wäre. Für mich ist das überhaupt keine Option, andere Menschen wiederum kommen damit wohl klar und es ist ihre Entscheidung. Ich aber kann nur für mich selbst Entscheidungen treffen, nicht für andere.
Und wie seht ihr das als Band?
Es war noch nie unsere Sache, die Fehler oder Versäumnisse andere bloßzustellen. Wir kämpfen da eher mit unseren eigenen Persönlichkeiten.
Apropos: euer Album wurde schon letzten Winter aufgenommen, natürlich wie immer im Inner Ear-Studio mit Don Zientara. Wie habt ihr aufgenommen, wie arbeitet ihr generell?
Es gibt keine "normale" Vorgehensweise. Dieses Mal jedoch haben wir länger gebraucht als sonst. Der Hauptgrund war, dass uns Joe Lally, unser Bassist, zu Beginn der Aufnahmesessions eröffnete, seine Frau Antonia sei schwanger. Das hat unseren Zeitplan völlig über den Haufen geworfen, denn es war geplant erst die Platte zuhause völlig fertigzustellen und dann ausgiebig auf Tour zu gehen, im Frühjahr und Sommer. Das Baby war für September angekündigt, ab Juli sollten keine Konzerte mehr laufen. Und so mussten wir alle Termine neu checken, damit wir alles geregelt bekommen, mit dem Effekt, dass wir die Platte über mehrere Sessions verteilt aufnahmen. Wir haben die Angewohnheit, uns im Studio immer etwas Zeit zu lassen, aber ich denke, wenn man seit 14 Jahren als Band zusammen ist, ist man irgendwann an dem Punkt gelangt, wo man keine Kompromisse eingehen will und sich einfach sagt, wir machen´s genau so, wie wir denken, dass es richtig ist. Abgesehen davon haben wir die Songs nicht erst im Dezember geschrieben und dann im Januar aufgenommen, sondern sie teilweise schon zwei oder drei Jahre mit uns rumgeschleppt. Wir haben sie geschrieben, sie neu arrangiert, sie zuhause aufgenommen, haben lange über sie nachgedacht und schliesslich versucht, im Studio sowas wie eine definitive Version zu produzieren. Das kann manchmal schon beinahe etwas nerven, gerade wenn wir stundenlang im Studio darüber diskutieren, wie ein Song sein soll. Manchmal habe ich schon das Gefühl, wir seien etwas privilegiert, dass wir unsere Zeit mit so etwas verschwenden können. Ich meine, ich weiss nicht, wie es ist, wenn du schreibst, aber hast du nicht auch Momente, wo du eine halbe Stunde aus dem Fenster starrst, bevor du einen Satz tippst? Man braucht manchmal einfach Zeit, um sich auf etwas einzustimmen, sich zu konzentrieren, und bei uns ist es so im Studio: wir müssen den Punkt erreichen, wo es ein angenehmes Gefühl ist, sich dem Entstehungsprozess eines neuen Albums hinzugeben. Und letztendlich zählt das Ergebnis: wenn dir die Platte gefällt, war´s die Arbeit wert.
Mein genereller Eindruck des Albums ist, dass es ingesamt eher ruhig ausgefallen ist.
Dem kann ich weder zustimmen noch sagen, dass es nicht so ist. Ich weiss es einfach nicht, ich denke auch nicht darüber nach. Wir haben hart an diesen Songs gearbeitet, und es ist für mich sehr schwer nachzuvollziehen, wie das Ergebnis unserer harten Arbeit auf andere wirkt. Du etwa hörst die Platte und hörst alles Songs zusammen zum ersten Mal. Ich dagegen kenne sie schon seit Monaten in- und auswendig. Ein Vergleich: du triffst eine Familie zum ersten Mal. Die fünf Kinder sind im Alter von 5 bis 20, und dann stell dir den Unterschied zwischen dir vor und jemandem, der die Familie seit 20 Jahren kennt: der hat die Kinder aufwachsen sehen, der hat die Veränderung gesehen, während du nur die Momentaufnahme kennst. Meine Position dem Album gegenüber ist also eine völlig andere als deine, ich bin eher in der Position eines Vaters.
Ein sehr schöner Vergleich. Apropos Kinder: War Joes Kind das erste in der FUGAZI-Familie?
Nein, das dritte, Brendan hat ja auch schon zwei Kinder. Ein weiterer Grund, warum´s bei uns manchmal etwas länger dauert mit einem Album. Brendans erster Sohn wurde 1998 geboren, der zweite ein Jahr später, und wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, den Eltern in so einem Fall so viel Zeit wie möglich zu geben. Das ist der Grund, weshalb wir derzeit als Band keinerlei Verpflichtungen haben, und es hängt allein von Joe und seiner Frau ab, wann die denken, dass er wieder Zeit für die Band hat. Das heisst nicht, dass die Band dann völlig gelähmt ist: wir treffen uns trotzdem ständig, machen zusammen Musik, probieren dies und das. Das ist uns auch allen sehr wichtig, denn die ersten zehn Jahre der Band waren ein ständiges Touren, wir waren jedes Jahr sechs Monate unterwegs und die Band machte einen großen Teil unseres Lebens aus. 1996/97 änderte sich das: ich wurde in Australien richtig krank, hatte eine Lungenentzündung und lag zwei Wochen im Krankenhaus, dann waren die Eltern von ein paar von uns richtig krank, Brendan und Michelle hatten ihr erstes Kind - wir mussten plötzlich feststellen, dass das "richtige" Leben ganz heftig an unsere Tür klopft. Und so beschlossen wir, dass nach zehn Jahren, in denen die Band ein großer Teil unseres Lebens war, jetzt unser Leben ein großer Teil der Band sein sollte. Mag sein, dass jetzt alles etwas langsamer läuft, aber dafür haben wir eine Situation, wo wir uns alles erlauben können. Es dauert so vielleicht ein paar Monate, bis uns klar wird, was der nächste Schritt ist, aber dafür ist es ein natürlicher Prozess. Denn wir wissen, wenn wir auf uns oder die Band Druck ausüben, könnte das Ergebnis sein, dass gar nichts mehr geht. Jeder muss sich rundum wohlfühlen mit der Situation, das ist das wichtigste.
Klingt nach einem guten Rezept, die Band noch 15 Jahre am Laufen zu halten: ein natürlicher Rhythmus, keine Zwänge.
Ich denke, das wäre für jeden und in allen Lebensbereichen keine schlechte Sache. Aber ich muss schon darauf hinweisen, dass wir, wenn wir nicht auf Tour sind, keinesfalls unsere Zeit auf dem Golfplatz verschwenden. Wir haben alle einen Job: Joe hat ein Label, Tolotta Records, Guy hat sein Label, Peterbuilt Records, und produziert andere Bands, ich habe bekanntlich mit Dischord auch ein Label, und Brendan macht Musik für TV-Dokus und arbeitet auch für andere Musiker. Dazu kommt die Arbeit, die eine Band so mit sich bringt, das darf man echt nicht unterschätzen. Wir haben keinen Manager, wir haben keine Bookingagentur, wir haben keinen Anwalt, sondern wir machen alles selber, und das erklärt vielleicht auch, warum manches etwas länger braucht. So war ich letzte Woche damit beschäftigt, die Abrechnung unserer letzten Tour zu machen, davor schlug ich mich mit der Krankenversicherung von uns vieren herum, weil unsere bisherige Krankenversicherung pleite gegangen ist, und so weiter - es ist immer was zu tun. Wenn es also den Anschein hat, als würden wir uns eine Pause können, dann bezieht sich das alleine darauf, mal eine Weile nicht im Bandbus zu sitzen.
Sprechen wir über Dischord: Ich habe den Eindruck, das Label folgt den gleichen Prinzipien wie die Band - eine neue Platte kommt wenn sie kommt, alles braucht seine Zeit, und niemand ist damit beschäftigt, aggressive A&R-Arbeit zu leisten und neue Bands aufzutreiben.
Ich würde sagen, deine Einschätzung ist absolut korrekt. Ich gehe die Labelarbeit genauso an wie die Arbeit mit der Band. Das Label war schon immer das kreative Medium für eine spezielle Community hier in Washington D.C. - eine Community, die mal größer und mal kleiner ist, mal aktiver und mal weniger aktiv und die sich im Output des Labels wiederspiegelt: mal gibt´s eine ganze Reihe von Bands und Releases, dann lösen sich wieder Bands auf und es erscheinen keine neuen Platten, so ist das eben. Und gut möglich, dass die Sache auch irgendwann einen natürlichen Endpunkt erreicht: das plane ich nicht, das soll keine Andeutung oder Drohung sein, aber ich weiss eben, dass alles irgendwann irgendwo endet und das auch so in Ordnung ist. Keiner von uns hat sich das Label jemals als typisches Business vorgestellt oder als etwas, das immer weiter wächst. Es gibt in unserer westlichen Welt diese Vorstellung, dass etwas immer weiter wachsen muss, damit es gut ist, und wenn du nicht kontinuierlich wächst, bist du tot.
Es gibt ja so eine Regel, dass eine Firma den Umsatz jedes Jahr um 15% steigern muss oder sie hat ein Problem.
Ja, und dieser Vorstellung muss ich ganz grundsätzlich widersprechen, und ich glaube, dass dieses Denken auch die Ursache von einer Menge Schmerz und Leiden für viele Menschen ist. Das bedeutet nämlich, dass irgendwer immer mehr bekommt, während irgendwer immer weniger bekommt. Das ist übel, wobei ich überhaupt kein Problem damit habe Geld zu machen und erfolgreich Geschäfte zu machen. Aber ich habe ein Problem mit diesem ständigen Drang nach mehr und mehr und immer mehr Geld. Das ist krank, und wenn der einzige Grund für Arbeit ist Geld zu verdienen, dann pervertiert das die Entscheidungen, die du in künstlerischer Hinsicht oder auch im Hinblick auf okayes Geschäftsverhalten treffen musst. Dann ist Profit die oberste Maxime und nicht Kreativität.
Was du mir da erzählst, deckt sich mit dem, was Craig O´Hara in seinem Buch "The Philosophy Of Punk" schreibt, in dem ja auch du zitiert wirst.
Interessant, aber ich lese grundsätzlich keine Bücher, in denen ich vorkomme. Weisst du, ich war damals dabei, da ist es schwer, sowas dann in einem Buch von jemand anderem vorgetragen zu bekommen. Ausserdem hat sowas immer auch was von einer Gedenkschrift, aber ich bin nicht tot.
Hast du nostalgische Gefühle angesichts der Tatsache, dass seit den MINOR THREAT-Tagen mittlerweile 20 Jahre vergangen sind und Punkrock sein 25jähriges Jubiläum feiert?
Nun, es gibt Jubiläen für mich: heute ist es auf den Tag genau 20 Jahre her, seit ich ins Dischord-Haus eingezogen bin. Und das erste, was ich an diesem Tag mache, ist dieses Interview mit dir zu führen. Ob ich nostalgisch bin? Nein, das liegt mir nicht. Das Leben an sich fasziniert mich, ich halte es für wichtig, die Geschichte zu kennen, weil sie sehr wichtig ist für das, was vor mir liegt. In der Seefahrt gibt es ein Verfahren namens "Dead Reckoning", die "Koppelnavigation", das mir mein Bruder Alec mal erklärt hat. Mit seiner Band THE WARMERS hatte er einen Song mit diesem Titel, und seinerzeit, als die Seefahrer sich aufmachten, die sogenannte "Neue Welt" zu entdecken, segelten sie los, ohne ihr Ziel zu kennen, und so hatten sie auch keine Anhaltspunkte für die Navigation. Und so orientierten sie sich an den Sternen hinter sich, ein Verfahren, das "Dead Reckoning" heisst: Erfahrungen aus der Vergangenheit nutzen, damit sie einem in der Zukunft den Weg weisen. In meinem Leben wende ich zu einem guten Teil diese Methode an, denn ich habe keine verdammte Idee, wohin mich das Leben führt. Ich weiss nur, wo ich jetzt gerade stehe - weil ich zurückblicke. Um auf deine Frage zurückzukommen: Nostalgie gehört nicht zu den Gefühlen, die ich dabei empfinde, denn ich habe mit nichts in meiner Vergangenheit abgeschlossen, ich mag es nicht, bestimmte Episoden nett zu verpacken und ins Fotoalbum zu verbannen. Ich lebe in der Gegenwart, und all das aus der Vergangenheit begleitet mich. Wenn du mich fragst, ob ich ein Skateboarder bin, lautet die Antwort ja, und ob ich ein Punkrocker bin, na klar. Ob ich irgend etwas bedauere, das ich in der Vergangenheit gesagt habe? Natürlich nicht. Bedaure ich irgend einen Text? Nein! Stehe ich zu all meinen Texten? Aber sicher. Ich habe keine Phasen, die ich durchgemacht habe und die dann aus und vorbei waren. Und deshalb halte ich mich auch von Büchern über Musik und Punkrock fern, die womöglich auch noch Passagen über mich enthalten, denn das sind immer nur Zusammenfassungen, die das Geschehene zu verdaubaren Brocken verdichten, damit jemand, der nicht dabei war, das nachvollziehen kann. Das ist okay, aber ich bin damit nicht durch und kann das deshalb nicht betrachten, als wäre es etwas abgeschlossenes. Das heisst, manchmal stellt sich auch bei mir sowas wie Nostalgie ein, wenn ich etwa an all die großartigen Leute denke, die ich in all den Jahren getroffen habe, und da gibt´s dann Momente, wo man es vermisst, mit diesem oder jenem in der Küche zu setzen und zu reden. Momente, als die Bewegung, zu der wir gehören, ganz neu und aufregend war. Das bedeutet aber letztendlich auch, dass ich meine Augen offen halten muss, um die nächste Sache nicht zu verpassen, die der vergangenen Erfahrung womöglich ähnelt.
Sprechen wir von der Zukunft: Ihr plant als nächste Veröffentlichung eine DVD-Version von "Instrument", der FUGAZI-Live-Dokumentation.
Oh ja... Letzte Woche haben wir endlich die endgültige Referenzversion des Masters bekommen. Davor gab es noch diverse kleine Fehler, die alle ausgebessert wurden, und im November wird die DVD dann zu kaufen sein. Diese DVD-Produktion war ein gewaltiger Lernprozess, es hat ein Jahr gebraucht, bis wir das fertig hatten. Also ein Jahr, seit wir das Tape zum DVD-Masterstudio geschickt haben. Wir mussten immer wieder nachbessern und nachbessern, das war echt zum verrückt werden. Es ist eben immer noch ein neues Format, mit dem die Leute noch nicht so viel Erfahrung haben. Als die CD neu auf dem Markt war, war das genauso: ganz zu Anfang war das alles sehr teuer, nur die großen Firmen konnten sich so eine Produktion leisten. Doch je populärer und verbreiteter so ein Format wird, desto günstiger wird eine Produktion und sinkt schliesslich auf ein Preislevel, das sich auch kleinere Firmen leisten können. Dischord brauchte damals fünf Jahre, bis der erste CD-Titel erschien. Das Problem bei einer DVD ist, dass man erstmal lernen muss, wie sie funktioniert, und es scheint so zu sein, dass viele der Firmen, die das Mastering von DVDs anbieten, mit dem Format auch nicht so gut vertraut sind und ebenfalls noch lernen. Früher wären wir noch so drauf gewesen, dass wir auch eine noch nicht perfekte Version dann einfach rausgebracht hätten, aber nachdem wir sechs Monate immer wieder nachgebessert hatten, waren wir nicht bereit zur Pressfreigabe, solange wir nicht 100% zufrieden sind. Jetzt bin ich wirklich angetan vom Endergebnis, und es war auch einfach ein guter Lerneffekt.
Ist denn noch mehr an DVDs in Planung?
Ich werde mich als nächstes an eine MINOR THREAT-DVD heranwagen, also mit dem Live-Video. Ich bin noch auf der Suche nach passendem Material zur Egänzung. Aber das ist noch nichts konkretes, ich muss mal sehen, was daraus wird.
Wie sieht denn dein normaler Arbeitstag im Dischord-Büro aus?
Seltsam. Ich stehe meist recht früh auf, so um sieben. Ich frühstücke dann zusammen mit Cynthia Connolly, die ebenfalls hier im Haus wohnt auch für Dischord arbeitet und sich um die Promotion kümmert, aber auch eine sehr gute Fotografin ist. Dann führe ich als erstes ein Interview mit einem deutschen Magazin, haha, nein, das ist heute eine Ausnahme. Eigentlich hänge ich den ganzen Tag am Telefon und kümmere mich um die Berge von Post und eMails, die ich jeden Tag bekomme. Zwischendurch sitze ich noch etwas an der Buchhaltung, gehe mal eben ins Studio, und was sonst noch so anfällt. Wie du weisst ist das Dischord-Haus, wo ich wohne, direkt auf der anderen Strassenseite vom Büro. Ich gehe also ständig hin und her, und es gibt eigentlich keinen "normalen" Arbeitstag, es passiert ständig was anderes: ich stehe auf und go! Es ist immer genug Arbeit da, und es ist dann an mir zu entscheiden, was wirklich getan werden muss und was noch etwas liegenbleiben kann. Letzte Woche war ich mit jemandem von der Krankenversicherung verabredet, dann kamen zum Wochenende ein paar Leute zu Besuch wegen des Friedensmarsches hier in Washinton, ich musste meinem Dad noch etwas helfen, ich war im Studio, um eine SHUDDER TO THINK-CD zu remastern, und so weiter.
Wird es da eine Wiederveröffentlichung geben?
Ja, und ich bin froh, dass wir das in Angriff genommen haben. Diese CD ist ein gutes Beispiel für die Probleme, die es in den Anfangstagen eines Formats gibt: als wir anfingen CDs zu machen, wurden die noch ganz anders gemastert, nämlich ziemlich beschissen. Wir haben jetzt beschlossen, die CDs, die sich nach wie vor gut verkaufen, nach und nach zu remastern. Ein Freund hat das sehr gut drauf und macht das auch zu einem guten Preis, und da der Klang wirklich viel besser ist, gibt es jetzt schon eine neue Version der SOULSIDE-CD, SHUDDER TO THINKs "Funeral At The Movies" war letzte Woche dran, und RITES OF SPRING ist diese Woche dran.
Du hast vorhin den Friedensmarsch in Washington erwähnt. Dischord ist ja nahe dran am Machtzentrum der USA, wie hast du denn den Anschlag auf das Pentagon erlebt?
Das Pentagon ist keine anderthalb Kilometer von hier entfernt. Ich bekam einen Anruf von einem Freund, der sagte, dass gerade ein Flugzeug ins World Trade Center gestürzt sei. Cynthia und ich waren dann gerade dabei, den Fernseher einzuschalten, als mein Freund am Telefon sagte, eben sei auch noch ein zweites Flugzeug ins WTC gekracht. Mein erster Gedanke war, dass das komisch ist, dass da womöglich jemand von der Bodenkontrolle einen Fehler gemacht hat. Als ich dann aber die Bilder im Fernsehen sah, war mir klar, dass das ein terroristischer Anschlag sein muss - und ich schaltete den Fernseher aus, denn mir war klar, dass da etwas passiert war, das uns wohl bis an das Ende unseres Lebens begleiten wird. Ich hatte das Gefühl, jetzt sowieso nichts tun zu können. Und dann, 15 Minuten später, rief mich Joe Lally an, der ein paar hundert Meter von hier wohnt und war völlig aufgelöst. Er fragte mich, ob ich die Explosion gehört hätte, und erzählte, dass das Flugzeug direkt über sein Haus geflogen sei, bevor es ins Pentagon stürzte. Wir machten den Fernseher an, sahen die Bilder des brennenden Pentagon, hörten die Meldung, dass noch acht Flugzeuge vermisst werden, und schalteten die Glotze auch gleich wieder aus. Ich entschied, mich ganz normal meiner Arbeit zu widmen, weil ich nicht erkennen konnte, dass es irgend etwas bringt, die nächsten Stunden vor dem Fernseher zu hängen - und es war ja klar, dass die ganze Sache sicher nichts Gutes mit sich bringen würde. Die Anschläge stellten sich für mich beinahe wie eine Naturkatastrophe, wie ein Erdbeben dar, eine Situation, über die ich keine Kontrolle habe, über deren Enstehung ich keine Kontrolle hatte und über deren Konsequenzen auch nicht. Die Situation ist ausserhalb dessen, was ein einzelner Mensch irgendwie kontrollieren kann. Und so entschloss ich mich die Post zu beantworten, denn die Telefonleitungen waren schon bald überlastet, die Strassen gesperrt. Naja, ich habe die ganze Post an diesem Tag auf den 10. September datiert, um ein Zeichen zu setzen, dass es auch eine Zeit vor den Anschlägen gab. Ich habe den Fernseher übrigens auch in den Tagen darauf nicht wieder eingeschaltet, denn mir war klar, die Sendungen würden voller bewusster und unbewusster Fehlinformationen sein und ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich meine, es ist unglaublich, was die Menschen sich so antun, aber es ist auch nicht das erste Mal, dass es zu Taten von so unglaubliche Brutalität und Grausamkeit gekommen ist, und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Wenn ich Macht hätte etwas zu ändern, würde ich als erstes dafür sorgen, dass die USA aufhören auf andere Länder Bomben abzuwerfen. Das ist meine Meinung.
Ian, ich danke dir für das Interview.
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