Seit zwei Jahrzehnten machen FRUSTRATION aus Paris schon ihr Ding. Pauschal kann man sie irgendwo im Post-Punk-Spektrum verorten, wobei sie da schon waren, als das im Gegensatz zu heute noch sehr Special Interest war. Ihre Wurzeln haben sie sowohl in dessen französischer wie der britischen Spielart und dann ist da auch noch eine gewisse Germanophilie. Nach den Alben „Full Of Sorrow“ (2006), „Relax“ (2008), „Uncivilized“ (2012), „Empires Of Shame“ (2016) und „So Cold Streams“ (2019), zwischen denen noch diverse 7“s und 12“s veröffentlich wurden, erschien im Frühjahr 2024 nun der neue Longplayer „Our Decisions“. Auch der kam wieder auf Born Bad Records aus Paris, was einerseits der von Schlagzeuger Mark betriebene Plattenladen in Paris ist, anderseits das umtriebige und unbedingt beachtenswerte Label ist, um das sich JB kümmert. Meine Fragen beantworten Nicus (gt), Pat (bs), Mark (dr), Fred (key) und Fab (voc).
Es ist 17 Jahre her, seit wir das letzte Mal ein Interview geführt haben. Was hat sich seitdem getan?
Nicus: Ich versuche, es kurz zu machen. Vor zehn Jahren hat Manu seinen Bass an Pat übergeben. Die meisten Bands, in denen wir früher gespielt haben, sind nicht mehr aktiv, wie OPERATION S, ANTEENAGERS MC, LES TECKELS, THE FOUR SLICKS, LES TERRIBLES. Der Sound von FRUSTRATION gilt nicht mehr als „retro“, weil es inzwischen viele neue Bands gibt, die etwas Ähnliches machen. Wir haben alle unsere Jobs gekündigt, außer Mark, der immer noch seinen Plattenladen betreibt. Und zu guter Letzt: wir werden immer wütender! Wir sind immer noch nette Jungs, aber mit viel mehr Wut!
Pat: Ich bin jetzt seit 2014 dabei und seitdem haben wir drei LPs und ein paar Singles veröffentlicht.
Mark: Abgesehen davon, dass ich seit 22 Jahren mit den netten Jungs von FRUSTRATION spiele, kümmere ich mich seit 25 Jahren um meinen Plattenladen Born Bad in Paris. Wir haben gerade unser Jubiläum auf einem dreitägigen Festival gefeiert, außerdem erscheint aus dem Anlass eine großartige internationale Compilation mit 15 unveröffentlichten Tracks. Davon sollte ich dir wohl ein Exemplar schicken, es sind einige coole Bands dabei, Billy Childish, CHARLES DE GOAL, BEIGE BANQUET, SWEEPING PROMISES, King Khan, SPLIT SYSTEM, SPRAY PAINT, THE PROPER ORNAMENTS, etc. etc.
Fred: Und ich habe einen neuen Haarschnitt!
Könnt ihr uns einen Überblick über eure anderen Bands und musikalischen Aktivitäten geben?
Fab: Ich probe nur ab und zu oder mache eine dumme Platte mit einem witzigen Trio, bei dem wir die Chansons von Georges Brassens, einem toten französischen Sänger, mit albernen frechen Oi!/Punk-Texten versehen. Wir heißen ST GEORGES B.
Pat: Ich spiele noch in zwei anderen Bands, einmal LAST NIGHT, da machen wir Punk und Hardcore, und dann REGLEMENT, das ist Synthpunk. Wir haben ein paar Platten raus, die beiden letzten wurden übrigens auch im Ox besprochen.
Nicus: Ich spiele immer noch bei WARUM JOE, einer alten französischen Synthpunk-Band. Und jetzt bin ich noch mit unserem Keyboarder Fred bei einem neuen Instrumental-Projekt von Jonathan Lieffroy namens TEMPOMAT, da dreht sich alles um analoge Synthesizer und die legendäre deutsche Krimiserie „Derrick“. Es ist mein erstes Mal an den Tasten – und ein Riesenspaß auf der Bühne!
Ihr seid offensichtlich musikalisch sehr breit aufgestellt, das reicht von Elektronik über Garage-Punk bis hin zu Oi!. Woher rührt diese Aufgeschlossenheit?
Fab: Von Freunden, Partys, Fanzines, Plattenläden, was nachts im Radio lief damals in den 1980er Jahren und dann die vielen Stunden, die wir im Tourbus gehockt und geredet haben.
Nicus: Ich war schon immer von Spinnern und Außenseitern fasziniert, von Menschen, die ihr eigenes Ding durchziehen und mal was Neues ausprobieren – zu denen ich nicht zähle, ich bin immer nur Mitläufer. Meine Eltern haben viel „populäre“ Musik gehört, also Klassik, Pop, Rock’n’Roll, französische Sänger, Folk ... die ich immer noch liebe. Deshalb war es für mich einfach, über den Tellerrand zu blicken und Musik zu entdecken, die normalerweise nicht im Radio läuft. Alle Bands, in denen ich bisher gespielt habe, waren „Außenseiter“: keine Chance auf Erfolg, dafür Leidenschaft in der Niederlage, haha.
Fred: Genau wie Nicus war ich schon immer von Musik umgeben. Dass mein älterer Bruder Bass spielte und viel Rockmusik hörte, von den BEATLES bis MAGMA, hat wohl auch geholfen.
Pat: Das ist einfach eine Frage des guten Geschmacks! Mein Plattenladen spielt da sicher auch eine Rolle.
Die meisten eurer Texte sind auf Englisch, ein paar auch auf Französisch ... und auf Deutsch! Steckt dahinter ein Konzept oder eine Idee?
Fab: Ich fand es oft komisch, auf Englisch zu singen, gerade vor einem französischen Publikum. Aber meist ziehe ich es wegen der Atmosphäre trotzdem vor, wobei ich zugeben muss, dass ich auch manchmal dazu neige, meine Gefühle etwas hinter der Sprache Shakespeares zu verbergen. Trotzdem habe ich vor ein paar Jahren beschlossen, Lieder mit einer klaren Botschaft auf Französisch zu formulieren. Und im Fall unseres neuen Songs „Vorbei“ handelt es sich um eine musikalische Annäherung an KRAFTWERK, da war es klar, dass die kostbaren Lyrics, die Nicus dazu verfasst hat, auf Deutsch sein müssen. Also nein, ein konkretes Konzept gibt es nicht.
Woher kommt diese Affinität zur deutschen Sprache und Pop-Kultur?
Fab: Ich habe 1985 ein ganzes Jahr in Deutschland verbracht, um meinen Militärdienst abzuleisten, und hatte das Glück, mich mit einem DJ in Baden-Baden anzufreunden. Jede Nacht in einem Club war eine interessante Expedition durch die deutsche Subkultur. Bis dahin kannte ich nur ein paar Bands wie XMAL DEUTSCHLAND oder DAILY TERROR.
Nicus: Eigentlich waren meine Deutschlehrer alle total cool und faszinierend: Sie haben meine Neugierde für die deutsche Kultur und Geschichte geweckt. Außerdem war der Zweite Weltkrieg in den späten 1970er Jahren immer noch ein großes Trauma in Europa, besonders in der Schule und im Fernsehen. Und dann bekam ich den KRAFTWERK-Schock!
Fred: Michel Sardou hat mal gesungen, dass wir ohne die Amerikaner heute alle Deutsche wären. Vielleicht ist das eine Art Bedauern ...
Dafür spielt ihr aber eher selten in Deutschland ...
Pat: Was?! Wir waren in den letzten zehn Jahren vier Mal in Deutschland auf Tour! Das nächste Mal wird 2025 sein.
Mark: Seit der Gründung der Band haben wir sicher schon sieben oder acht Touren in Deutschland gespielt. Deutschland ist das Land, in dem wir am meisten unterwegs waren, nach Frankreich natürlich.
Ich arbeite gerade an der deutschen Übersetzung von John Robbs großartigem Buch „Goth“. Es ist wirklich augenöffnend, woher all diese Bands und ihre Musik und Ideen kamen. Was fasziniert euch rückblickend an diesen Bands und solchen Genres wie Post-Punk, Coldwave ...?
Pat: Da ich der Jüngste in der Band bin, stand ich mehr auf Hardcore, aber durch meine älteren Freunde entdeckte ich als Teenager Goth und Coldwave aus den 1980er Jahren.
Fab: Ich habe schon früher nie Grenzen zwischen Musikrichtungen gezogen. Ich glaube, das ist nur das Problem von Musikjournalisten und Punk-Archäologen. Damals wurde sowieso alles mit allem kombiniert, denke ich.
Fred: Ich bin generell von Subkulturen und allem Verrückten fasziniert. Was auch immer es ist, ob Manga-Cosplayer oder Mediävisten.
Wie hat sich diese Szene in den letzten Jahren in Frankreich entwickelt? Es scheint, dass eine jüngere Generation diese Musik weltweit entdeckt hat.
Pat: Im Moment gibt es eine Menge guter Bands in jeder Stilrichtung der „Underground-Musik“. Ich glaube, die Leute aus meiner Generation – ich bin 43 – haben in den 2000er und 2010er Jahren etliche Subkulturen und Musikrichtungen wieder für sich entdeckt, so dass in den verschiedensten Genres neue Bands auftauchten.
Fab: Mit der verbreiteten Nutzung des Internets gerade in der jüngeren Generation sind offensichtlich ganz schnell überall sehr gute Bands entstanden. Ist das nicht wunderbar?
Fred: Das erinnert mich an die Revivals, die wir in den 1980er Jahren erlebt haben, es gab das Ska- oder Mod-Revival, sogar das Garage-Revival. Wie kommt es, dass diese Kids sich einem Sound aus einer anderen Ära verschrieben? Vielleicht liegt es daran, dass sie, wie Brian Wilson es mal ausgedrückt hat, einfach nicht für ihre Zeit gemacht sind, so dass sie Trost suchen in der Musik und Ästhetik einer idealisierten Vergangenheit.
Wenn man das Artwork von „Our Decisions“, eurem aktuellen Album, bloß als Thumbnail sieht, wirkt es wie ein Foto, aber tatsächlich ist es ein Gemälde, was man nur erkennt, wenn man die LP in den Händen hält. Es zeigt eine Müllhalde voller Dosen und Plastikflaschen. Gibt es dazu eine Geschichte oder eine Botschaft? Und wer ist Baldo, der das geschaffen hat?
Fab: Wir haben, wie immer, mit unserem alten Freund Baldo zusammengearbeitet, der bisher alle unsere LP-Cover gestaltet hat. Er ist ein sehr talentierter Maler und Grafiker. Ich denke, die Botschaft ist klar. Die Beschreibung unserer Welt ist offensichtlich und die Texte folgen thematisch den gleichen Gesichtspunkten und Sensibilitäten.
Nicus: Das Witzige ist, dass Baldo einen Scheiß auf die Musik von FRUSTRATION gibt. Er mag sie nicht. Aber wir lieben seine Arbeit und ihn als Mensch und ich habe das Gefühl, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Wir kannten uns schon lange vor der Gründung der Band: Wir haben auf denselben Partys und Rock’n’Roll-Garage-Punk-Gigs abgehangen. Außerdem ist er ein fantastischer Drummer.
Auf der Rückseite des Covers sieht man alle möglichen toten Käfer, wie in einer naturwissenschaftlichen Sammlung. In den letzten Jahren gab es einen dramatischen Verlust an Insekten durch den Einsatz von Pestiziden – gibt es da einen Zusammenhang?
Pat: Du bist der Erste, der das erkannt hat!
Fab: Natürlich gibt es einen. Bravo!
Nicus: „Unsere Entscheidungen“ haben uns an den Rand der Selbstzerstörung geführt. Wie schlau wir doch sind!
Was macht ihr abgesehen vom Musikmachen?
Fred: Gibt es ein Leben neben dem Musikmachen?
Pat: Auf Tournee gehen, versuchen, mehr Musik zu machen, mein Haus renovieren, meine Tochter großziehen.
Nicus: Ist mir fast peinlich, aber: absolut nichts!
Fab: Alte Autos restaurieren und mein Haus umbauen. Touren, lesen und andere Bands hören und live sehen.
Mark: Wie schon erwähnt, betreibe ich den Born Bad-Plattenladen in Paris und wir haben gerade unser 25-jähriges Jubiläum mit einem dreitägigen Festival gefeiert, dabei waren MAGNETIX, MEAT SHIRT, STTO, LES LULLIES, TRAMHAUS, ALVILDA, KING SALAMI, DIE VERLIERER, GOB PSYCHIC, CHARLES DE GOAL, DICK VOODOO, SYNDROME 81, LEROY SE MEURT, BOUND BY ENDOGAMY ...
In eurer Heimatstadt Paris finden diesen Sommer die Olympischen Spiele statt. Was sind eure Gefühle und Beobachtungen dazu?
Nicus: Mein einziges Gefühl dabei ist, dass sich die Olympischen Spiele heute weit von ihrer eigentlich lobenswerten ursprünglichen Bedeutung entfernt haben.
Pat: Das wird ein einziges Chaos! Kommt zu der Zeit bloß nicht nach Paris.
Fab: Ich finde, es ist ein Skandal und pure Geldverschwendung. Die Regierung setzt Obdachlose in Busse, um sie weit weg von Paris auszusetzen ...
Fred: Es ist kapitalistischer Wundbrand in seiner „besten“ Form. Ich würde die „Tötet den Kapitalismus“-Spiele vorziehen.
Mark: Es wird furchtbar.
Und noch eine Frage zu einem Song des neuen Albums: Was ist ein „Secular prayer“, ein „weltliches Gebet“ ...?
Fab: Da geht es um einen Menschen, der an eine tolerante Gesellschaft glaubt, der sich für wahren und aufrichtigen Universalismus und Brüderlichkeit einsetzt und dafür kämpft. Das Lied beschreibt, wie er oder sie durch den Wald gejagt wird von hasserfüllten Menschen, die glauben, dass ihr Gott durch solche Aussagen beleidigt wird.
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