Quizfrage: Auf welchem Label erschienen Anfang der Achtziger die Debütplatten von CIRCLE JERKS („Group Sex“), ADOLESCENTS („s/t“ aka „The Blue Album“), TSOL („Dance With Me“), CHRISTIAN DEATH („Only Theatre Of Pain“) und SUICIDAL TENDENCIES („s/t“)? Naaaa? Dafür, dass Frontier Records, das Ein-Frau-Unternehmen von Lisa Fancher, solch essentielle Punkrock-Klassiker veröffentlicht hat, ist das Label selbst bis heute recht unbekannt geblieben – ein guter Grund, daran etwas zu ändern, und so telefonierte ich anlässlich des 30. Labelgeburtstags mit Lisa und sprach mit ihr über die Anfangstage, aber auch über die Gegenwart. Am 7. November feierte sich das Label mit einem Festival in Los Angeles, bei dem THE ADOLESCENTS, MIDDLE CLASS, THE AVENGERS, THE STAINS, THE DEADBEATS, FLYBOYS, THE PONTIAC BROTHERS, Rikk Agnew und Keith Morris auftraten.
30 Jahre – was sind deine Gedanken anlässlich des Geburtstages?
Dass es mir gar nicht so lange vorkommt, und dass ich schon mehr als die Hälfte meines Lebens dieses Label mache.
Hattest du denn andere Pläne?
Ehrlich gesagt, nein, und das war wohl einer der Gründe für mich, meine erste Platte rauszubringen. Ich bin an der Uni komplett gescheitert, da waren einfach zu viele Konzerte, die ich unbedingt sehen musste. In der Punk-Szene von Los Angeles war damals so viel los! Ich arbeitete damals für Greg und Suzy Shaw von Bomp! Records, ich schrieb für ein paar Magazine und kannte deshalb viele Bands, und als sich dann die Gelegenheit bot, eine Platte rauszubringen, ergriff ich sie. Und so kann es zum Release der EP der FLYBOYS. Ich mochte die Band, schickte sie ins Studio, und hatte keine Ahnung, ob es nicht bei dieser einen Platte bleiben würde.
Wie hast du das finanziell gestemmt?
Ich arbeitete damals im Plattenladen von Bomp! und die bezahlten mich nur sporadisch. So war eben das Indie-Business, mal war Geld da und mal nicht. Und so brachte ich nach und nach das Geld auf die die Seite, bis ich alles bezahlen konnte, was es brauchte, um die FLYBOYS-Platte rauszubringen. Eineinhalb Jahre hat das letztlich gedauert. So gesehen ist 2010 zwar das offizielle Jubiläumsjahr, denn die erste Platte erschien im März 1980, aber gegründet hatte ich das Label mindestens ein Jahr früher, so Anfang 1979. Und als die Platte dann fertig war, hatte sich die Band auch schon wieder aufgelöst – ich machte die klassische Erfahrung jedes Labelbetreibers also gleich zu Anfang. Mit der zweiten Platte allerdings sah das ganz anders aus, das war „Group Sex“ von den CIRCLE JERKS.
War die ein sofortiger Erfolg?
„Group Sex“ war ein sofortiger Erfolg. Sobald die Leute Wind davon bekamen, dass ich die Platte mache, waren alle heiß darauf. Ich hatte sogar schon Vorbestellungen – und befand mich in der unglücklichen Situation, nicht genug Geld zu haben, um die Platte pressen zu lassen. Ich musste mir also Geld leihen und dann die Vertriebe nerven, mich schnell zu bezahlen, was damals wie heute eine undankbare Aufgabe ist. Indie-Vertriebe bezahlen dich eben nur dann, wenn sie etwas von dir wollen, nämlich neue Platten. Ich fand mich dann aber in den nächsten zwei, drei Jahren in der komfortablen Situation, dass fast alle meine Releases auf entsprechendes Interesse stießen.
Wenn man sich anschaut, wie viele Releases viele Labels heute raushauen, und das vergleicht mit deinen, dann waren das nie mehr als zwei, drei, vier im Jahr.
Ja, und dabei war es ganz einfach, mit Bands ins Geschäft zu kommen. Da liefen nicht wie heute monatelange Verhandlungen, das waren eher so Über-Nacht-Entscheidungen, sobald ich wieder etwas Geld flüssig hatte. Und das Aufnehmen ging auch oft sehr schnell, das ADOLESCENTS-Album etwa war nach drei Tagen im Kasten. Schwieriger war da meist das Artwork, da musste man immer irgendwen fragen, ob er einem hilft. Zum Glück arbeitete mit mir bei Bomp! auch Diane Zincavage, die beherrschte das, aber sie hatte wenig Zeit und ich musste sie ständig bequatschen, doch bitte meine Cover zu machen. Hatte man das Artwork, ging alles ganz schnell, und damals war das auch noch nicht wie heute, wo man alles mit 90 Tagen Vorlauf planen muss. Damals kam die Platte sofort raus, wenn sie fertig war, und die Leute waren auch total heiß darauf. Ich packte die Platten dann in mein Auto und klapperte die Plattenläden in L.A. ab, und hoffte darauf, schnell bezahlt zu werden, um mehr Platten pressen zu lassen, auf die andere Läden schon warteten. Und das machte ich parallel zu meinen normalen Jobs, die ich tagsüber zu erledigen hatte.
Waren das goldene Zeiten? Heute sind viele Labels froh, wenn sie von einer LP 500 oder 1.000 Stück loswerden, doch damals waren das ja doch erheblich höhere Stückzahlen, die man los wurde.
Eigentlich habe ich mit dem Label nie Geld verdient. Was reinkam, wurde an anderer Stelle gebraucht und direkt wieder ausgegeben. War Frontier also profitabel? Ich denke nein, unterm Strich blieb nie was übrig. Und das Prinzip ist einfach: Wenn du Platten hast, die sich verkaufen, gehst du nicht bankrott, und wenn du schrottige Sachen rausbringst, war’s das, bye bye! Heutzutage scheint das einfacher zu sein, da kommt so viel raus, das ist völlig unüberschaubar. Damals hingegen gab es kaum Labels, da waren in L.A. eigentlich nur Slash, SST und Posh Boy.
Wie ernst wurdest du genommen? Das Musikgeschäft – und Punk machte da keine große Ausnahme – war eine Männerdomäne.
Ich glaube, viele wussten damals gar nicht, dass das Label von einer Frau gemacht wird. Damals gab es keine wirkliche Promo-Arbeit für das Label, bestenfalls im Flipside Fanzine wurde ich mal erwähnt. Ein wirklich wichtiger Faktor in der Wahrnehmung des Labels war es also nicht. Es waren eher ein paar der Bands, die mich als Frau nicht ernst nahmen, da kam schon mal ein Kommentar à la „Eine Frau macht dieses Label? Nee, da will ich keine Platte machen.“ Kein Ahnung, warum es solche Vorurteile gab. Dachten die, nur weil ich ein Mädchen bin, heule ich gleich los, wenn mal was schief geht? Oder dass Frauen nicht in der Lage sind, eine Firma zu führen? Keine Ahnung. Aber ich habe heute noch darüber nachgedacht, als ich was für meinen Blog geschrieben habe: Ich hatte schon früh angefangen, Platten zu sammeln, so mit elf oder zwölf. Und ich kann mich nicht erinnern, jemals auf einer der vielen Plattenbörsen eine Frau getroffen zu haben, die nicht nur zusammen mit ihrem Freund oder Mann da war. Ich hatte aber nie ein komisches Gefühl dabei, als Frau Platten zu sammeln, und mir fiel auch nie auf, dass ich die einzige Frau war.
Hatte das für dich einen feministischen Aspekt?
Eigentlich nicht. Die beste Art, sich feministisch zu betätigen, ist doch einfach zu zeigen, dass man was kann. Das ist viel besser, als darüber zu reden. Und ich denke, ich habe längst bewiesen, dass ich was drauf habe, denn Frontier hat Dutzende anderer Labels überlebt, die viel größer waren und mehr Geld zur Verfügung hatten. Ich habe immer darauf geachtet, nicht zu ehrgeizig zu sein und keine großen Fixkosten zu verursachen, und so konnte ich bis heute überleben. Vielleicht ist diese Vorsicht ja der weibliche Aspekt meines Labels, ich hatte eben nie Ambitionen, die ganze Welt erobern zu wollen, das beste Label von allen zu sein oder so.
Du sprachst eben das Plattensammeln an. Nun sind auch Frontier-Platten längst Sammlerstücke.
Ja, das ist lustig. Und ich finde es auch immer wieder lustig, wenn mir heute Kids, die noch nicht mal geboren wurden, als meine ersten Platten rauskamen, schreiben und Fragen stellen, ob diese oder jene Platte eine Originalpressung ist. Dabei waren meine Platten oder zumindest die Top-Seller nie „out of print“, doch die Sammler sind auf der Suche nach der Erstauflage oder Testpressungen und wollen nicht die Platten, die man heute über meine Website kaufen kann. Aber bitte, sollen die Leute sammeln, was sie wollen.
Was ist denn noch „in print“?
Alles, was auf meiner Website aufgelistet ist, habe ich hier im Haus und kann es liefern. Aber es gibt auch einige Platten, die zu obskur sind, als dass sich da eine Nachpressung lohnt, und ein paar andere sind zumindest als Download erhältlich, etwa NAKED PREY. Bei ein paar anderen habe ich die Rechte nicht mehr oder sie der Band zurückgegeben, und die sind somit auch „out of print“.
Da du die Frontier-Klassiker alle noch anbieten kannst, bist du entsprechend auch immer noch im Besitz der Rechte.
Ja, genau. In harten Zeiten, als ich richtig frustriert war, hatte ich zwar mal versucht, ein paar der Rechte zu verkaufen, aber ich bekam nie das angeboten, was ich mir erhoffte, und so beschloss ich einfach, das bis zum Schluss durchzuziehen. Heute müsste schon jemand mit einem ganz außergewöhnlich guten Angebot ankommen, um mich umzustimmen. Das Label ist vom Arbeitsaufwand her überschaubar, ich muss immer wieder mal was nachpressen lassen und arbeite an ein paar Punkrock-Reissues. Und vor allem muss ich mich so nicht mit Dingen beschäftigen, die mich damals echt wahnsinnig gemacht haben: Drogenprobleme von Musikern oder deren nervige Frauengeschichten. Stattdessen arbeite ich in Ruhe an einer Zusammenstellung der WEIRDOS oder so.
Wie wichtig ist Vinyl heute für dich?
Ich habe in all den Jahren nie aufgehört, Vinyl zu verkaufen, denn ich wusste, dass Punkrocker diesem Format immer den Vorzug geben. Allerdings sind die neueren Releases so ab Anfang der Neunziger bis zu Beginn dieses Jahrzehnts nur auf CD erschienen, und da wird jetzt teilweise Vinyl gefordert. Es ist wirklich erstaunlich, dass das Vinylformat, das die Majorlabels killen wollten, überlebt hat. Es sind die Fans, die dafür gesorgt haben. Als die Majors die 8-Track-Tapes und die MC gekillt haben, hat das keinen so wirklich interessiert, aber Vinyl hat sich der Ausrottung widersetzt, obwohl es doch eigentlich unhandlich und unbequem ist, gerade in Los Angeles, wo es immer heiß ist und Schallplatten auch schnell wellig werden. Denn das muss ich sagen: Im Handling ist Vinyl echt anstrengend, gerade wenn beim Versand irgendwas beschädigt wird, bedeutet das immer viel Ärger. Andererseits mussten wir uns früher, als es noch keine Downloads gab, keine Sorgen über das Kopieren von Musik machen. Später dann wurden die großen Labels immer gieriger, wollten nach dem Erfolg der CD noch mehr Geld verdienen – und der Rest ist Geschichte. Mittlerweile können die Majors Vinyl über ihre eigene Vertriebsinfrastruktur gar nicht mehr handhaben, denn sie haben die Voraussetzungen für den Versand und die Lagerung abgeschafft. Und ganz absurd: Als ich mir neulich bei Amazon eine LP bestellt habe, kam die in einem riesigen Karton: Die haben nicht mal mehr LP-Versandkartons! Warum verkaufen die LPs, wenn sie nicht mal wissen, wie man die vernünftig verschickt?
Was sind die weiteren Pläne für Frontier, auch mal wieder ein Album einer aktuellen Band?
Nein, dafür habe ich keine Energie. Allein die Promo-Arbeit könnte ich nicht mehr bewältigen, ich kenne die heutigen Magazine nicht mehr, und eine neue Band am Markt zu etablieren, ist heute schwieriger denn je. Eine neue Band unter Vertrag zu nehmen, wäre ein großes finanzielles Risiko, und das kann ich mir nicht leisten.
Nun könnte man auch sagen, dass Labels, die nur die Releases irgendwelcher alter Bands nachpressen oder neu auflegen, nichts tun für die heutige Szene und junge Bands, die Support brauchen. Was antwortest du darauf?
Ich habe damals eine Menge Aufbauarbeit geleistet, denn die Bands, die ich veröffentlichte, wollte sonst keiner machen. Ansonsten geht es im Musikbusiness eben immer ums Geld, und ich könnte einer jungen Band heute einfach nicht das bieten, was sie braucht. Und eine Platte einfach nur ins Blaue zu veröffentlichen, ohne den nötigen Nachdruck, das nützt auch keinem.
An was arbeitest du gerade?
An einem Rerelease einer Band namens THE STAINS, die so 1982/83 auf SST veröffentlichten, und CHRISTIAN DEATHs „Only Theatre Of Pain“ wird gerade komplett überarbeitet, mit dem originalen Artwork, das ich erst kürzlich wieder gefunden habe und das wir damals nicht genommen hatten, weil Roz da ein paar Worte falsch geschrieben hatte. Aber das hängt davon ab, was an Geld reinkommt, wann ich mir das leisten kann.
Du hast in den Neunzigern eine Zusammenstellung von Aufnahmen der legendären L.A.-Band WEIRDOS veröffentlicht sowie zwei Compilations mit Aufnahmen des kurzlebigen Dangerhouse-Labels, das Ende der Siebziger Bands wie AVENGERS, BAGS, DILS, X und eben WEIRDOS veröffentlichte.
Oh ja, diese WEIRDOS-Zusammenstellung, das war die Hölle. Das hat mich beinahe zehn Jahre gekostet, das fertig zu bekommen. Und mit den Dangerhouse-Compilations war das auch eine endlose Story, denn die beiden damaligen Besitzer Pat Garrett und David Brown leben in verschiedenen Ecken des Landes und hatten, als ich sie kontaktierte, jahrelang nicht miteinander gesprochen. Das Artwork war überall verstreut, und es war ein sehr aufwendiger Prozess, da alle Einzelteile wieder zusammenzuführen, inklusive vorsichtiger Überzeugungsversuche, dass sie überhaupt wieder miteinander sprechen. Ich kannte sie zum Glück beide noch von früher, auch deshalb, weil sie beide große SCREAMERS-Fans waren. Alles in allem zog es sich mehrere Jahre hin, bis die Platten dann endlich erscheinen konnten. Es gibt auch immer noch Material aus dem Archiv von Dangerhouse, etwa unveröffentlichte Versionen von DEADBEATS-Songs, aber ich weiß nicht, ob sich dafür jemand interessiert.
Hält dich das Label den ganzen Tag über beschäftigt oder sind da noch andere Aktivitäten?
Gut, dass du fragst, und nein, tut es nicht. Ich bin auch aktiv in der Unterstützergruppe der West Memphis Three.
Das sind diese drei Jugendlichen, die 1993 in einem bis heute umstrittenen Prozess für den Mord an drei Kindern in West Memphis, Arkansas verurteilt wurden, die Tat aber bestreiten und gerade aus der Rockmusik-Szene heraus viel Unterstützung genießen, da ihre Verurteilung wohl auch was damit zu tun hat, dass sie als Metal-Fans mit Satanismus in Verbindung gebracht wurden.
Genau. Ich reise oft nach Arkansas, besuche die Verurteilten im Gefängnis, gehe zu Anhörungen, und all das ist sehr zeitaufwendig. Ende September findet da eine weitere Verhandlung statt, und es geht da um eine Entscheidung, ob Damien Echols, derjenige von den Dreien, der zum Tode verurteilt wurde, vor einem neuen Gericht die Chance auf einen fairen Prozess bekommt. Es hat 17 Jahre gedauert, um an diesen Punkt zu kommen! Die beiden anderen, Jessie Misskelley und Jason Baldwin, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt und warten auch auf die Chance eines neuen Prozesses, dafür sammeln wir weiter Geld, und wir hoffen, dass die Entscheidung im Falle von Echols auch den beiden anderen hilft. Derzeit ist auch ein dritter Teil des „Paradise Lost“-Dokumentarfilms über den Fall in Arbeit. Für die ganze Sache braucht man einen langen Atem, und ich hoffe nur, dass es bis zu ihrer Freilassung nicht so lange dauert wie Frontier Records bislang existiert.
Das klingt, als ob es dir in der Tat nicht langweilig wird.
Nein, und zudem arbeite ich derzeit auch noch mit einem guten Freund an einem Dokumentarfilm – über den Teufel. Also über die Darstellung des Teufels in Fernseh- und Kinofilmen, von den ersten Stummfilmen bis in die Gegenwart. Wir arbeiten da schon ein paar Jahre dran, und ich will nicht wagen, zu behaupten, der Film werde dieses Jahr fertig. Nächstes Jahr vielleicht.
Und wie wäre es mit einem Buch über deine Erlebnisse mit dem Label?
Ich habe daran schon gedacht, aber ich bin dafür leider zu faul. Dabei gäbe es da schon einige Geschichten zu erzählen, etwa meine ersten Konzerte, auf die mich Kim Fowley mitschleppte, der Erfinder und Produzent der RUNAWAYS. Ich kann mich zum Glück auch noch sehr genau an alles von damals erinnern – besser als an das, was vor zehn Jahren war. Ich habe schon eine Menge Leute kennen gelernt, alleine durch meinen Job im Bomp!-Plattenladen. Also wer weiß, eines Tages schreibe ich dieses Buch vielleicht ...
Lisa, vielen Dank für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #93 Dezember 2010/Januar 2011 und Joachim Hiller