Seit 2001 wandelt DIE ÄRZTE-Gitarrist Farin Urlaub auf Solopfaden, unterstützt von seinem RACING TEAM, das mittlerweile von einem Projekt zu einer eigenständigen Band gereift ist. Zwei Jahre nach dem letzten DIE ÄRZTE-Album erscheint nun mit „Faszination Weltraum“ das vierte Farin Urlaub-Album. Ich traf mich mit dem sichtlich gut aufgelegten Kopf des „Orchesters voller Dynamit“ (als das Farin Urlaub das RACING TEAM beschreibt) in einer Bar am Spreeufer. Bei bestem Wetter und Mate-Limo sprachen wir über das neue Album, seelenlose Architektur und die Schwierigkeit, mit einem Buch in die Disko zu gehen.
„Faszination Weltraum“ ... als ich den Titel das erste Mal gehört habe, habe ich gedacht: Das klingt ein bisschen wie der Serien-Titel einer Dokureihe, die auf Pro Sieben laufen könnte. Dann lief die Assoziationskette ein wenig weiter und ich dachte, das klingt mit gutem Willen auch ein wenig romantisch. Als ich dann das Cover gesehen und den Opener gehört habe, ging das alles aber wieder völlig auseinander.
Das Schöne ist: Das ist einfach nur ein Titel, den ich sexy fand. Ich finde, ein guter Titel ist ein guter Titel. Ob er jetzt objektiv gut ist, kann ich nicht beurteilen, aber wenn er mir gefällt, ist das schon mal gut. Ich habe ja fast immer so verquere Titel. Außer bei dem ersten Album „Endlich Urlaub“ – haha, super Wortspiel! Aber ansonsten: „Am Ende der Sonne“, „Die Wahrheit übers Lügen“, das sind einfach Sachen, die mir gefallen. Bei „Faszination Weltraum“ dachte ich: Es ist an der Zeit, für den Weltraum eine Lanze zu brechen. Der ist völlig unterrepräsentiert, man sieht ihn immer nur nachts! Das war es auch schon – textlich habe ich dann keine Stellung mehr dazu bezogen.
Tatsächlich nicht? Und was ist mit dem letzten Track „Immer dabei“? Da ist doch ein großer Zusammenhang, den du da ansprichst.
Je älter man wird, desto mehr stellt man sich die drei großen Fragen, die so unvergessen in „Blade Runner“ formuliert wurden: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wie viel Zeit bleibt mir noch? Natürlich kannst du dein Leben lang kleine, lustige Vignetten schreiben, aber irgendwie bin ich jetzt in einem Alter, in dem das nicht mehr reicht. Deswegen versuche ich, andere Themen zu finden, die vielleicht allgemeingültiger sind. Das ist aber noch nicht mal der Grund dafür. Die Stücke fallen mir einfach ein und hinterher bin ich selber überrascht: Was will ich jetzt damit sagen? Wen interessiert das überhaupt? Dann nehme ich es auf und mache es eben einfach.
Solche vagen, tiefgründigeren Texte entstehen einfach?
Es gibt natürlich Songs, die ich in meinem Leben geschrieben habe, wo mich irgendwas angekotzt hat und ich dachte, da muss ich jetzt Stellung beziehen. Aber meistens ist es so, dass ein Stück einfach aus mir heraus will, und dann lass ich es eben raus. Der Prozess der Kreativität ist mir selber völlig unklar. Es gibt natürlich Stücke, so wie jetzt auf dem neuen Album „Dynamit“ – scheiß Innenstädte! –, die mir wirklich am Herzen liegen. Aber es ist jetzt nicht so, dass ich jeden Tag da durchlaufe und Schilder hochhalte: „Seht ihr eigentlich, wo ihr hier lebt?“ Bei so was wie „Immer dabei“ ist es anders. Da haben wir uns im Studio darüber unterhalten: Wer ist denn immer dabei? Wer könnte das sein? Wir waren uns alle nicht sicher. Ist die Seele gemeint? Ist es das Gewissen? Das Gewissen würde ja nicht tatenlos zusehen. Mirko, mit dem ich das Album aufgenommen habe, kam dann mit Schutzengel um die Ecke. Das haut aber alles nicht hin. Es gibt immer eine Zeile in dem Lied, die jeder Theorie widerspricht. Und die Wahrheit ist: Ich weiß es selbst nicht. Das Lied kam so raus, irgendwie ist es geil, es wirkt ein wenig düster. Durch den Schluss auch hoffnungslos, hat aber musikalisch irgendwie totale Kraft.
Interessant, es ans Ende zu setzen. Es ist ja wirklich ein sehr düsterer Ausklang für ein Album.
Die Aussage „Wenn du stirbst, bin ich frei!“ wäre als dritter Song ein bisschen komisch! Mir wurde auch gesagt: „Du kannst die Leute nicht so düster zurücklassen!“ Aber wohin willst du es sonst setzen? Ich bin ja Nihilist, das passt also schon!
Apropos Nihilismus: Du hast mal sinngemäß gesagt, dass du nicht wirklich daran glaubst, dass es böse Menschen gibt, sondern viel eher Situationen, die Menschen negativ beeinflussen, also böse machen.
Das Problem ist: Wenn man dreißig Jahre lang Sachen erzählt, ist da nicht alles druckreif gewesen. Aber eine interessante These. Mal sehen, ob ich die heute noch so unterschreiben würde. Ich habe auf Reisen Menschen kennen gelernt, denen ich unterstelle, sie waren schlechte Menschen. Nicht nur auf Reisen, durchaus auch hier. Aber vermutlich waren sie nicht durch und durch böse, sondern ... Also ja, ich kann noch immer hinter dieser Aussage stehen. Aber du wolltest auf etwas hinaus, oder?
Ja, einige Songs lassen ja durchscheinen, dass du nicht gerade ein Kultur-Optimist bist. Die Lieder „iDisko“ oder „3000“ gehen ja eher in die Richtung, dass du den Menschen nicht unbedingt viel zutraust.
Über allem steht, dass du irgendwas finden musst, worüber du singen kannst. Es ist ja nicht so, dass ich denke, ihr da draußen, ihr macht es alle falsch. Es sind viel eher momentane Beobachtungen von irgendwas. Ich halte mich selbst nicht für schlauer als andere. Wenn ich Sachen mache, neige ich auch dazu, sie zu übertreiben. Aber gerade für „3000“ gibt es Auslöser in meinem Bekanntenkreis. Leute, die dann auch im Urlaub selbstverständlich 24 Stunden erreichbar sind. Das wird dann von der Firma so erwartet und sie hinterfragen das selber nicht mehr. Und dann denke ich mir: „Alter, das ist dein Urlaub, dein Privatleben. Nachts kann das Handy doch mal aus!“ Nee, geht nicht ... Da läuft was ganz falsch. Und „iDisko“: Idioten-Disko, weil ja heute alles, was schick ist, mit „i“ beginnt.
Generation Smartphone: Wenn keine Bilder davon existieren, ist es nicht passiert. Das Erlebnis selbst hat keinen Wert mehr, wenn es nicht dokumentiert wird.
Das ist auf den Konzerten mittlerweile ein Alptraum. Ich überlege, ob ich schon so weit bin, nach drei Songs zu sagen: Okay, Leute, jetzt macht mal zwei Minuten eure Bilder und Filmchen und dann legt ihr alle das Handy weg, damit wir hier mal ein tatsächliches Erlebnis und nicht ein sekundäres haben. Aber dann kommst du wieder so rüber: „Ach, guck mal, der alte Sack. Nicht mal auf Facebook, aber jetzt muss er hier auf erwachsen machen.“ Es ist tatsächlich schwierig. Früher konntest du Leute ansprechen, die dich heute aber nur durch ihre kleinen Monitore sehen. Aber dabei bist du doch da! Nervig.
Ich finde es noch viel schlimmer im persönlichen Gespräch, wo mit einer Selbstverständlichkeit parallel auf dem Handy rumgetippt wird.
Ja, das ist interessant. Egal, mit wem du redest, der Reflex, ans Telefon zu gehen, ist immer größer, denn der Mensch, der nicht da ist, hat automatisch die höhere Wichtigkeit als der, der dir gegenübersitzt. Das heißt, wir leben wirklich nicht mehr im Hier und Jetzt. Aber das wird jetzt sehr philosophisch. Man darf das auch nicht verallgemeinern, es gibt ja auch Leute, die dem kritisch gegenüberstehen. Aber ob es genug sind ...?
„Dynamit“, deine Abrechnung mit den Planquadraten dieser Welt, hattest du vorhin schon mal angesprochen. Das ist ja ein richtiger Dampfhammer ohne doppelten Boden. Nicht ganz ernst gemeint, oder?
Doch, es ist total ernst gemeint! Ich bin nur zu feige und zu sehr im Rechtsstaat verankert, um Gebäude in die Luft zu sprengen. Noch viel schlimmer als die total ideenlose Architektur finde ich, wie Innenstädte immer mehr entmenschlicht werden. Du kommst in irgendeine Altstadt, die natürlich gewachsen ist, und du fühlst dich automatisch wohl. Dann kommst du in eine neue, geplante Stadt und die sind einfach nie gemütlich oder menschenfreundlich, weil sie dem Diktat des rechten Winkels und des Großhandels unterworfen sind.
Bei „Fan“ fühlte ich mich ganz schön ertappt. Mit 13, 14 Jahren habe ich auch mal mein DIE ÄRZTE-Poster von der Wand genommen und war überzeugt, nun schlechtere Musik hören zu müssen.
Haha, danke für das Kompliment! Den Song musste ich nicht mal selber schreiben, das haben andere in all den Jahren getan. Quasi jeden Satz, der in dem Song fällt, habe ich mal gehört. Ich bin aber selbst auch noch so ein Fan; kein Alleskenner und -hörer. Ich habe einen sehr klaren Geschmack. Aber wenn ich meine Lieblingskünstler habe, bin ich denen auch sehr lange treu. Ich habe keine sehr breite, aber eine sehr tiefe Plattensammlung. Von Harry Nilsson habe ich zum Beispiel jeden Tonträger. Und auch ich merke, wie ich menschlich von einer Band enttäuscht bin, wenn sie zwei, drei Alben gemacht hat, die ich toll fand, und dann etwas macht, was ich nicht gut finde. Dann denke ich kurz nach und komme zu dem Schluss: Nee, die finden das wahrscheinlich gut. Nur ich bin stehen geblieben und die haben sich weiterentwickelt. Oder umgekehrt. Man entwickelt sich eben auseinander.
Ich finde es witzig, wie vielen Leuten aus meinem Bekanntenkreis es so ging, die aber dann über die Jahre irgendwann alle doch wieder zu der Musik von DIE ÄRZTE zurückgefunden haben.
Viele kommen echt zurück! Da gibt es auch unheimlich süße Mails. Das sind dann teilweise schon Familienväter oder -mütter, die schreiben dann: „Ich hab euch jetzt die letzten zehn Jahre überhaupt nicht gehört, da war ich zu erwachsen für. Aber jetzt merke ich, was ich alles verpasst habe! Ist ja voll geil! Ich kaufe mir gerade alle Platten, die dazwischen lagen.“ So was freut einen natürlich, das liest man natürlich lieber als: „Früher wart ihr geil, heute seid ihr voll kacke!“. Na ja, meine Güte, muss man auch mit leben als Musiker.
Anfangs war es Farin Urlaub solo, mittlerweile ist das Projekt ja zu einer festen Band, dem RACING TEAM eben, geworden. Hat sich da auch strukturell etwas geändert?
Es ist schon so, dass die anderen in der Band fragen, ob sie nicht auch Stücke abgeben können. Klar, wenn du Musiker bist, willst du deine Songs zu Gehör bringen. Ich habe mir das auch angehört. Und das ist auch alles gut, aber das ist nicht der Sinn und Zweck, warum ich diese Band ins Leben gerufen habe. Ich habe halt so viel Output, ich möchte das irgendwie kanalisieren. Wenigstens zum Teil. Daher bin ich der einzige Songwriter. Sie akzeptieren es – noch. Ist natürlich etwas doof, sie würden natürlich gerne auch ihre eigenen Songs spielen. Wir sind zu einer richtigen Band zusammengewachsen, aber ich bin primus inter pares.
Wer das neue Album aufmerksam hört, erfährt auch etwas über den Zusammenhang von Literatur und Tanzen. „Heute Tanzen“ ist auf den ersten Blick eine rein hedonistische Hymne, die dann irgendwie doch was anderes aussagt.
Let’s face it: das ist ein Nerd-Song, nicht vom musikalischen her, aber textlich. Zumindest in meinem Leben nimmt Literatur eine große Rolle ein. Tanzen hat das auch mal, aber das habe ich aufgegeben. Dem Spott will ich mich nicht mehr aussetzen! In der Hochphase meiner Verblendung bin ich sogar mit einem Buch in die Disko gegangen. Ich wollte einerseits das Buch zu Ende lesen, andererseits am Nachtleben teilhaben. Mir war schon klar, dass das total inszeniert rüberkommen musste. Die Mädels haben dann gedacht: „Och, guck mal, süß! Jetzt will er hier auf intellektuell machen!“ Das war alles ein bisschen unreif. Heutzutage bleibe ich lieber zu Hause und lese das Buch zu Ende.
Ich hätte gerne noch über das „Das Traurigste“ gesprochen. Aber mir wollte da keine gute Frage zu einfallen ...
Das Lustige ist, dass mein Leben bei diesen Liebes- und Trennungssongs überhaupt nicht mitspielt. Offenbar bin ich in meiner Jugend so traumatisiert worden, dass ich da immer noch einen reichen Fundus an Emotionen habe, den ich da reinschaukeln kann. Es ist einfach so: Auf bestimmte Melodien passt nur ein Liebeslied. Weißt du, warum in „Das Traurigste“ der Rockpart drin ist? Dazu gibt es eine persönliche Geschichte: Es gibt das Lied „Hiroshima“, das war in meiner Adoleszenz der beliebteste Blues zum Engtanzen. Und in der Mitte kommt dann ein richtiger Rockpart, der auch ein anderes Tempo hat. Da standest du immer vor der Frage: Was machst du jetzt? Du kannst dazu nicht Blues tanzen. Wir haben die Bräute dann weggeschleudert, ein bisschen gebangt und danach geguckt: Wo ist sie? Danach geht der Blues ja weiter! Das fand ich so absurd, das hat mich nie losgelassen. Ich wollte daher in so einer ganz gestrichenen Ballade mal einen Rockpart haben.
© by - Ausgabe # und 10. Juni 2021
© by - Ausgabe # und 5. Februar 2021
© by - Ausgabe # und 11. Dezember 2020
© by - Ausgabe # und 24. Oktober 2020
© by - Ausgabe # und 17. Oktober 2020
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #62 Oktober/November 2005 und Jana Amedinck
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #116 Oktober/November 2014 und Henning v. Bassi
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #60 Juni/Juli 2005 und Tom van Laak
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #135 Dezember/Januar 2017 und Henning v. Bassi
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #45 Dezember 2001/Januar/Februar 2002 und Tom van Laak