Mit „Orange County Hardcore Scenester“, 2012 auf DVD erschienen, hat Evan Jacobs, einst selbst mit der Band ICE und einem kleinen Label aktiv, einen sehr persönlichen Film über ein zeitlich wie geographisch kleines Fenster gemacht, der auch seine Jugend abbildet. Orange County, im Südosten des Großraums Los Angeles gelegen, gilt als Prototyp der amerikanischen Vorstadt, der Suburbs. In dieser perfekten Welt aus einer endlosen Abfolge von identischen Wohnhäusern, Shopping Malls und Schnellrestaurantketten entwickelte sich schon in den späten Siebzigern eine Punkszene mit Bands wie ADOLESCENTS oder SOCIAL DISTORTION, in den späten Achtzigern dann kam Hardcore dazu, und um Bands wie INSTED, CARRY NATION, FARSIDE, OUTSPOKEN und 411 entwickelte sich eine ganz neue Szene, die von Labels wie Nemesis, Workshed, Revelation, New Age und Conversion in der ganzen Welt bekannt gemacht wurde und so die musikalische Sozialisation von Tausenden prägte, auch in Deutschland.
Evan, was ist dein Szene-Background, wie bist du zum Filmemachen gekommen?
Ich bin 1990 zum Hardcore gekommen. Wirklich ausgesetzt war ich Hardcore jedoch schon seit 1985/86. Damals, vor der Highschool, war ich auf einer ziemlich üblen Schule. Ich gehörte da zu einer Clique ziemlich harter Jungs, die D.I., T.S.O.L. oder CIRCLE JERKS gehört haben. Wir haben uns auch Filme wie „Suburbia“ oder „Repo Man“ reingezogen. Nach einem Jahr Rauchen und Trinken, ich war zwölf, habe ich mich entschieden, dass das nicht mein Leben ist und dass ich besser etwas ändere. Du kannst diese Story übrigens auf DVD oder als Video-on-demand bei Amazon sehen – ich habe einen Trickfilm namens „1985-1986“ darüber gemacht. Zu dem Zeitpunkt kam „Screaming For Change“ von UNIFORM CHOICE raus. Ich wusste, dass man in unseren örtlichen Plattenladen gehen konnte und dass ihr Sänger Pat Dubar dort arbeitet und dir die Platte persönlich verkauft. Also ging ich da rein und habe sie mir von ihm gekauft. Ich habe sie mir nie angehört ... Ich wollte einfach nur jemanden treffen, der tatsächlich eine Platte rausgebracht hatte. 1990 dann wollte mein Bruder auf eine Show im Reseda County Club gehen, JUDGE und CARRY NATION waren die Headliner. Als deren Frontmann Dan O’Mahoney die Bühne verließ, unterhielt er sich mit einigen Leuten, die ich kannte, und dann auch mit mir. Ich konnte es nicht fassen, dass dieser Typ, der eben noch auf der Bühne stand, danach mit dem Publikum abhängt. Von da an bin ich öfter auf Konzerte gegangen, habe neue Freunde kennen gelernt und mich entschieden, selbst eine Band zu gründen, dann ein Label, weil keiner meine Band rausbringen wollte. Dann sagte ich mir: „Wie wäre es, Filme zu machen und sie durch die gleichen Kanäle zu releasen wie die Platten?“ Wenn jemand die komplette Geschichte sehen will, sollte man sich meine Doku „Orange County Hardcore Scenester“ ansehen. Ich rede dabei über meine persönliche Reise, aber ich hoffe, dass die Story universell genug ist, dass sich andere Leute darin wiederfinden können.
Orange County wird musikalisch generell eher mit der frühen Punk-Szene um Bands wie ADOLESCENTS, CIRCLE JERKS, SOCIAL DISTORTION etc. in Verbindung gebracht, aber dein Film konzentriert sich auf eine Szene, die zehn Jahre später entstand. Wie waren diese verschiedenen Szenen beziehungsweise Bands verbunden und inwiefern unterschieden sie sich?
In den Neunziger war das noch anders. Wenngleich viele von uns von diesen Bands beeinflusst wurden, gab es für mich nie eine bewusste Verbindung zwischen den Szenen. Natürlich, ich habe mich der Musik vergangener Tage verbunden gefühlt. Ich nenne die eben genannten Bands immer „Gateway“-Bands, denn wenn du anfängst, Hardcore oder Punk zu hören, wirst du zwangsläufig an einem Punkt mit diesen Bands konfrontiert. Das passiert einfach. Wenn du mit dem Auto herumfährst und einen unbekannten Wagen mit einem CIRCLE JERKS-Sticker siehst, dann ist da eine Verbindung. Für mich sind JUDGE-Sticker aber eben eine noch größere Verbindung. Und INSTED-Sticker erst ... Hardcore bewegt sich sehr schnell. Somit sind diese „zehn Jahre später“, von denen du sprichst, eine Ewigkeit. 1990, als ich angefangen habe, auf Shows zu gehen, gab es noch eine Menge Bands von 1988/89. Das schien so lange her, aber es waren nur zwei Jahre! Ich glaube, der größte Unterschied war der Sound. Die Wurzel dieser ganzen Musik – Punk und Hardcore – ist doch anscheinend das Verlangen, sich selbst auszudrücken. Über Themen zu reden, die nicht im Fernsehen oder dem Mainstream behandelt werden, oder die vielleicht tabu sind.
Welches waren, deiner Meinung nach die wichtigsten Bands der Zeit, die der Film behandelt – und warum?
Da halte ich mich lieber zurück, denn all diese Bands waren wichtig. Ich habe „Orange County Hardcore Scenester“ gemacht, weil ich denke, dass die Szene, deren Teil ich war, etwas Besonderes war. Irgendeine Band über eine andere zu stellen oder zu behaupten, diese oder jene Person war wichtiger, wäre einfach falsch.
Was war denn so besonders an der Szene damals?
Nun, wir waren alle jung und hatten das Gefühl, zu diese Szene zu gehören und diese Musik einfach machen zu müssen, wir hatten keine andere Wahl. Das war eine sehr idealistisch geprägte Zeit. Keiner verschwendete einen Gedanken daran, Geld damit zu verdienen. Wir haben das alles aus Liebe zur Musik und aus dem Willen heraus, uns selbst auszudrücken gemacht. Ich bin optimistisch und denke, dass es das immer noch gibt. Ich denke nicht, dass die „Hardcore-Ideale“ sich von Szene zu Szene oder Generation zu Generation verändern. Ich will mit „Orange County Hardcore Scenester“ aber auf keinen Fall sagen, dass das, was wir gemacht haben, besser oder schlechter wäre, als das, was vor oder nach uns kam. Genauso hoffe ich, dass die Leute nicht denken, die Aussage der Doku sei, dass die Szene gestorben ist. Das kann nicht passieren! Sie mag sich verändern, und vielleicht geht es in eine andere Richtung, aber Hardcore und Punk und die Szene darumherum wird es immer geben. Ich gehe vielleicht nicht mehr so oft auf Shows, wie ich es früher getan habe, ich verfolge vielleicht auch nicht mehr alle Bands, obwohl ich einige der neueren Bands mag, aber ich glaube einfach, dass meine Zeit, meine tatsächliche Beteiligung, die im Film behandelt wird, eben so war, und ich glaube, dass andere Leute, die in der Szene sind oder gerade reinkommen, jetzt ähnliches erleben.
Inwiefern wurde die Szene, die du porträtierst, von der speziellen Situation in Orange County beeinflusst? O.C. ist ja beinahe ein Mythos, die sprichwörtliche amerikanische Vorstadt in Kalifornien, irgendwas zwischen Himmel und Hölle, besonders wenn du als Teenager eben etwas „anders“ drauf bist.
Orange County ist all das, was du denkst, was es ist, und nichts davon. Als ich hier in den Achtzigern aufgewachsen bin, habe ich Orange County nicht als diese weiße Republikaner-Enklave angesehen, als die es oft bezeichnet wird. Ich hatte immer Freunde verschiedenster ethnischer Herkunft, und ich habe auch nicht in einer reichen Gegend gewohnt, meine Familie gehörte der ganz normalen Mittelklasse an. Ich liebe Orange County. Ich habe es damals geliebt und liebe es immer noch. Fountain Valley, wo ich immer noch lebe, hat so ein richtiges Kleinstadt-Feeling. Eine Menge Leute, mit denen ich zur Schule gegangen bin, leben immer noch hier. Ich denke, wenn du in Gegenden wie Huntington Beach oder Laguna unterwegs bist, bekommst du eher diesen stereotypischen Orange County-Eindruck. Fountain Valley ist weiter landeinwärts. Ironischerweise sind einige der Leute, die sich früher immerzu beschwert haben, wie langweilig und kulturell arm Orange County sei, hierher zurückgekommen, damit ihre Kinder hier aufwachsen.
Wie sieht die O.C-Musikszene heute aus, gibt es irgendwelche Bands oder Labels, die du empfehlen kannst?
Leider bin ich mit der Szene hier nicht mehr so vertraut. Aber wenn Leute von damals sich wieder zusammentun oder neue Bands gründen, dann versuche ich immer, sie zu sehen. So hat beispielsweise Chris Lohman von BLACKSPOT eine neue Band namens HEADACHES, Popeye von FARSIDE spielt jetzt bei YOUR FAVORITE TRAINWRECK mit Jeff Caudill von GAMEFACE, und neulich haben OUTSPOKEN mal wieder hier gespielt. Und STRIFE haben gerade eine neue Platte rausgebracht. Was neue, regionale Bands betrifft, so müsste ich mich anstrengen herauszufinden, welche das sind. Aber ich bin mir sicher, dass es eine sehr lebendige Szene mit Leuten gibt, die halb sind so alt wie ich, und die genauso bedeutsam ist wie meine Szene in den Neunzigern. Es gibt mittlerweile einen Club direkt um die Ecke von meinem Haus – in den Neunzigern wäre das der Wahnsinn gewesen. Wir hatten auch ein paar Venues, aber das waren immer solch einmaligen Geschichten, und wenn man Glück hatte, wurde der Laden nicht während der Show dicht gemacht. Dieser neue Laden scheint jedoch sehr gut mit den Shows zu fahren, sie machen das fantastisch.
Was ist aus den Leuten geworden, die Label wie Nemesis, New Age, Conversion oder Workshed gemacht haben?
So weit ich weiß lebt Big Frank, der Nemesis Records betrieben hat, jetzt als Tätowierer in Nordkalifornien. Mike Hartsfield lässt immer noch New Age-Platten nachpressen, veröffentlicht aber keine neuen Bands mehr. Derzeit arbeitet er als Wrestling-Veranstalter. Dennis Remsing hat mit Conversion aufgehört und arbeitet als Grafikdesigner, auch in Nordkalifornien. Dan O’Mahony versucht gerade die Finanzierung zu stemmen, um eine weitere Bar zu eröffnen. Er hat vor etwa zehn Jahren eine aufgemacht, die heißt „The Ten Count“, eine Bar, in der sich alles um Boxen dreht. Viele von den Leuten von damals kann man über soziale Netzwerke ausfindig machen.
Zum Schluss: Was ist die grundlegende Botschaft deines Films?
Bei Hardcore und Punk kommt es nicht auf das Jahrzehnt an, es ist egal, was für ein Stil und wie groß die Szene ist, das ist alles nicht wichtig, aber dokumentiert es. Erzählt eure Geschichten. Das ist es, meiner Meinung nach, was diese Musik am Leben hält, lange nachdem irgendeine bestimmte Szene „gestorben“ ist.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #106 Februar/März 2013 und Joachim Hiller