1998 waren es REFUSED mit "The Shape Of Punk To Come" und AT THE DRIVE-INs "In/Casino/Out", sieben Jahre später sind es ESCAPADO mit "Hinter den Spiegeln", die Meilensteine in die Welt setzten, die nichts mehr so sein lassen wollten, wie es einmal war. Die junge Band aus Flensburg schaffte es schon damals, mit ihrer dramatischen Art von modernem Hardcore zu einem Flagschiff ihres Genres zu werden. Ihr neues, zweites Album "Initiale" öffnet sich musikalisch, greift weiter um sich, will sich nicht einsperren lassen und schafft es dann noch als ein intensives und avantgardistisches Hörerlebnis in Erinnerung zu bleiben. ESCAPADO sind einzigartig und jetzt schon zeitlos. Mit Gitarrist Sebastian sprach ich am Telefon über seine eigentlich noch junge Band.
Wenn ich an ESCAPADO denke, fällt mir immer folgender Slogan ein: "Schweigen ist Scheiße, Schreien ist Gold". Was hältst du davon?
Zuallererst kommt mir das bekannt vor, hat das nicht sogar schon mal ANOMALIE benutzt? So direkt weiß ich nicht, was ich von dem Slogan halten soll, außer dass er generell auf Screamo zutrifft, nicht nur auf uns.
Bei euch verbindet sich die Musik aber auch mit einer Attitüde, deshalb kam ich darauf. Der stille Widerstand ist gescheitert und jetzt werden den Leuten die Fakten ins Gesicht geschrieen.
Ja, es ist ja meistens so, dass man, wenn man dringlichere Themen hat, und die Musik dazu passt, auch mal schreit. Bei uns war es jetzt aber nicht so, dass wir von vornherein gesagt haben: "Lass uns mal eine Hardcore-Band gründen", wie das ja viele machen. Wir haben einfach angefangen, Musik zu machen, und haben uns gar nicht so gut mit diesem Stil ausgekannt. Im Endeffekt kam dann das heraus, weil unsere Musik das von Anfang an brauchte. Helge kann auf jeden Fall auch singen, aber bei ESCAPADO war es sofort so, dass es die Songs nicht hergaben, überall dazu zu singen. Die Sachen, die wir machen, sind schon ein bisschen dringlicher und haben vor allem live eine gewisse Expressivität, dass man sich da reinspielt. Wie du schon sagst, Helge unterstreicht die Dringlichkeit der Dinge, die wir behandeln, durch sein Geschrei.
Aber es wäre doch leichter zu verstehen, worum es geht, wenn er nur singen würde.
Wie schon gesagt, das Geschrei ist ein Stilmittel. Wir haben auch bewusst durch den Einsatz von cleanem Gesang versucht, den Song so zu bauen, dass Gegensätze offensichtlich werden. Bei dem Song "Initiale" haben wir es auf das intensive Ende hinauslaufen lassen und gerade die letzten beiden Zeilen des Liedes, "Der Moment auf den du wartest/Wird ganz allein von dir selbst bestimmt", sind ja auch ein bisschen ein Leitthema der Platte.
Ihr seid mit euren Songs und eurer Einstellung AT THE DRIVE-IN nicht ganz unähnlich. Was denkst du über diesen Vergleich.
Wir haben gerade mit ESCAPADO angefangen, als AT THE DRIVE-IN in den letzten Zügen lag. Die haben für mich damals sofort gezündet und auch ein bisschen das verkörpert, wo wir mit unserer Band hinwollten - dass es viel wichtiger ist, in der Musik und bei Live-Konzerten etwas zum Ausdruck zu bringen, als irgendeinen Metalriff perfekt spielen zu können. Genau wie bei uns steckte auch bei AT THE DRIVE-IN noch viel Punk-Attitüde drin, was uns von anderen Screamo-Bands unterscheidet. Witzig ist auch, dass wir manchmal im Metalcore-Genre einsortiert werden - was überhaupt nicht passt. Allein, weil Metalcore mittlerweile zu einem inhaltsleeren Hype verkommen ist. Die Bands, die Metalcore in Deutschland bekannt gemacht haben, kamen ja eigentlich auch aus dem Hardcore und hatten Attitüde. Nimm allein MAROON, die ja bekennende Veganer sind. Die meisten Menschen, die jetzt auf diesen Trend aufspringen, haben meist keinen Hintergrund solcher Art und das finde ich persönlich schade. Wir sind eine Band, die keine oberflächlichen Dinge in den Vordergrund stellen möchte, aber bei den Konzerten sind viele Menschen einfach oberflächlicher drauf, als man denkt. Auch bei uns sehen die meisten gleich aus. Vielen ist das gar nicht bewusst, da sie das automatisch machen, und das finde ich eben ein bisschen seltsam. Natürlich freue ich mich sehr darüber, dass uns Leute sehen wollen, denn das ist mehr, als man erwarten kann. Wir machen es den Leuten mit unserer Musik ja auch nicht leicht: Man versteht die Texte nicht so gut, weil ja eben geschrieen wird, und man ist gut beraten, sich vorher ein bisschen mit ihnen zu beschäftigen. Ich denke, dass wir eine Band sind, mit der sich die Leute zwangsweise länger beschäftigen müssen, und ich kann auch verstehen, wenn man sich in seiner Freizeit lieber leichter zugänglichere Sachen anhört. So ist das eben.
Eine Initiale ist der Anfangsbuchstabe am Anfang eines Absatzes. Dennoch denke ich bei eurem Albumtitel eher an so was wie eine Intitalzündung. Liege ich da richtig?
Im Grunde hast du das ganz gut herausgefunden. Es kam uns weniger auf den Anfangsbuchstaben an als auf die Wortmotivation, und woher das Wort "Initiale" kommt. Den Ursprung hat es im lateinischen "Initio", das Anfang oder Beginn heißt und davon haben wir die Grundbedeutung abgeleitet. Die Platte ist konzeptuell gehalten - wir haben ja den ersten Song "Initio ESC" und den letzten "Ausgeblendet" genannt und die Platte hört mit demselben Gitarren-Noise auf, mit dem sie anfängt. Damit wollten wir auch einen Kreislauf darstellen und dieser endet mit der Wiedergeburt. Solche Kreisläufe kommen ja überall im Leben vor. Wir hätten das Intro auch "Anfang" und das Ende dann "Tod" und dann "Reinkarnation" nennen können. Das war uns aber zu platt.
Worauf habt ihr denn für euch dieses Prinzip des Kreislaufs angewendet? Kannst du etwas über den Inhalt der Texte erzählen?
Das zu generalisieren, ist eher schwierig, da jeder Text aus einer bestimmten Situation heraus entstanden ist und ich auch nicht alle Texte selbst geschrieben habe. Grundsätzlich handeln die Texte von Sachen, die uns aufregen, aber auch von ziemlich persönlichen Dingen.
Bei eurem Song "Coldblackdeathbloodmurderhatemachine" hört es sich nach geballter Wut an. Was steckt dahinter und woher kommt der abgefahrene Titel?
Der Titel sollte möglichst böse klingen, ist aber ironisch gemeint. Wenn man sich mal zum Beispiel den Green Hell-Katalog vornimmt und sich die ganzen Bandnamen anguckt, dann ist der Großteil davon meistens oberböse. Da steckt dann immer irgendwie "blood", "murder" oder "kill" drin, und wir haben uns dann gedacht, dass wir einfach einen "total bösen" Songtitel nehmen wollen und "Coldblackdeathbloodmurderhatemachine" ist von den Vorschlägen, die wir hatten, noch der Beste gewesen. Ähnlich wie bei "Kommando MOSFET" passt der Titel zum Song, da er die Thematik, über die wir gerade geredet haben, aufgreift. Er nimmt auch kritisch Stellung zur Metalcore-Szene. Es heißt ja: "Deine Hand wird zur Faust und schlägt auf dich ein". Eigentlich ist der Text recht deutlich. Ich bin der Meinung, dass man Texte nicht zerreden sollte, um ihnen auch eine gewisse Zeitlosigkeit zu bewahren.
Dann lass uns über die Musik sprechen. Im Vergleich zu eurem Debüt "Hinter den Spiegeln" klingt "Initiale" experimenteller, das musikalische Spektrum scheint größer und avantgardistischer, wie ich finde.
Das kam vor allem dadurch, dass ich mich mehr mit Gitarreneffekten und normalen Effekten beschäftigt habe. Ich wollte die Platte nicht mit diesen Sachen überfrachten, aber da, wo ich dachte, dass es angebracht ist, hab ich es auch voll ausgereizt. Ausschlaggebend war auch, dass ich bei unseren Konzerten und dem Spielen der alten Songs, das Gefühl hatte, die Songs zu ersticken. Ersticken in dem Sinne, dass die Musik in dem ganzen Krach unterzugehen scheint. Es war, als hefteten wir den Leuten die Attitüde an die Stirn, und wir hatten musikalisch kaum Luft zum Atmen. Die neuen Songs sollen uns diese Luft nun geben und wir wollen an mehreren Stellen einen gewissen Überraschungseffekt haben, nicht nur fürs Publikum sondern auch für uns. MOGWAI waren hierbei eine große Inspiration, da sie den dynamischen Wechsel zwischen lauten und leisen Passagen fantastisch ausreizen. Wir wollten mit ruhigeren Stellen auf die lauteren Stellen hinarbeiten, ihnen so mehr Nachdruck geben. Über die Jahre ist Helges Geschrei auch dunkler und druckvoller geworden - so ähnlich wie bei dem POISON THE WELL-Sänger, der die gleiche Entwicklung durchgemacht hat.
Wo wir gerade bei Helge sind, beschreib doch mal die verschiedenen
Persönlichkeiten bei ESCAPADO.
Oh, das ist wirklich schwer. Helge ist auf jeden Fall eher der ruhige, bodenständige Typ. Im Grunde genommen genau das Gegenteil von dem, was man über ihn denken könnte, wenn man ihn auf der Bühne sieht. Für die Leute, die ihn kennen, wirkt er wie der gleiche Mensch, nur aus zwei unterschiedlichen Welten. Der Überraschungseffekt ist immer auf unserer Seite. Christoph, unser Schlagzeuger, ist der lustige Typ der Band. Gunnar ist unser neuer Bassist und einfach extrem nett, Mister Nice Guy. Ansonsten ist er schusselig ... Es ist schwer, Leute auf ein paar Eigenschaften zu beschränken. Ich selbst bin der nachdenklichere Typ, aber auch der, der in Band ziemlich viel drumherum macht.
Und wie kam es nach der ersten Platte auf Zeitstrafe zu dem Deal mit Grand Hotel van Cleef, die nun nicht gerade für solche Hardcore- oder Screamo-Sounds bekannt sind?
Thees Ulman war auf unserer MySpace-Seite und hat uns kontaktiert. Am Anfang hab ich mir nichts dabei gedacht, aber dann hat er uns immer wieder geschrieben, wie begeistert er von uns sei. Wir haben uns gefreut, dass ihm das gefallen hat, haben uns aber immer noch nichts dabei gedacht. Irgendwann hat sich die gesamte Grand Hotel-Crew ein Konzert von uns angeguckt und schien auch begeistert, später haben wir uns mit ihnen getroffen und über unsere neue Platte geredet. "Initiale" war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig gemischt und wir haben uns damals auch noch keine Gedanken über ein Label gemacht. Die wollten dann unbedingt die Platte machen und wir haben uns gut arrangiert. Schließlich kommen wir vom D.I.Y., da ist es uns immer noch sehr wichtig, dass wir den größten Einfluss auf das haben, was mit ESCAPADO passiert.
Vielen Dank für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #59 April/Mai 2005 und Tim Tilgner
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #74 Oktober/November 2007 und Sebastian Wahle
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