Es gibt vermutlich nicht viele Orte, die in der Entwicklung derart vieler Musikstile eine so entscheidende Rolle gespielt haben, wie Memphis, Tennessee. Sei es der Memphis-Blues, dessen Einfluss bis heute in sämtlicher Rock-Musik zu finden ist, sei es Rock’n’Roll mit Elvis und Sun Records, Soul mit Stax Music oder Southern HipHop, um nur ein paar der wichtigsten zu nennen. Aber auch in weniger massenkompatiblen Musikrichtungen wie Garagepunk ist die Stadt eine feste Größe mit unzähligen Acts, von denen die OBLIVIANS und Jay Reatard nur ein paar der bekanntesten Namen sind, und etlichen Labels, allen voran Goner Records, die diese Szene maßgeblich geprägt haben. Ebendieses Label, betrieben von Eric „Oblivian“ Friedl und Zac Ives, stellte dieses Jahr zum siebten Mal das Gonerfest auf die Beine. Ein Festival über vier Tage (und vor allem Nächte), verteilt auf Bars und Clubs verschiedener Größe, das trotz oder gerade wegen seines aus aller Welt angereisten Publikums immer noch eine sehr familiäre Atmosphäre hat. Was lag also näher, als die LOST SOUNDS-Aussage „Memphis is dead“ Lügen zu strafen und sich in der spätsommerlichen Hitze der Südstaaten in die Party zu stürzen, und den Montag danach zu nutzen, um sich bei Goner Records – übrigens wenige Wochen zuvor vom Rolling Stone auf Platz acht der besten Plattenläden der USA gekürt – durch Tonnen von Vinyl zu wühlen und bei der Gelegenheit den genauso verkaterten Eric über die Geschichte des Festivals auszuhorchen.
Eric, ihr habt dieses Gonerfest Jay Reatard gewidmet, der 2010 – viel zu jung – das Zeitliche gesegnet hat. War das nur ein Statement für das Programmheft und die Website oder gab es auch einen offiziellen Programmpunkt zu diesem Anlass?
Nein, wir wollten ihm zwar das Festival widmen, aber ein besonderes Event dafür anzusetzen kam nicht in Frage. Wir wollten das Ganze eher in seinem Sinne halten und dafür sorgen, dass gute Stimmung herrscht, anstatt rumzusitzen und traurig zu sein. Er war bei den früheren Gonerfesten immer allgegenwärtig – also wenn er zu der Zeit gerade in der Stadt war – er ist überall aufgetreten, hat für Ärger gesorgt, er war einfach immer und überall da ...
Wie ist das Gonerfest entstanden, wie hat es sich über die Jahre entwickelt?
Die Geschichte von Goner begann in den frühen Neunzigern, als ich beschloss, eine GUITAR WOLF-Platte rauszubringen. Außerdem spielte ich bei den OBLIVIANS und brachte auch deren Platten raus. Ich wollte in erster Linie Sachen veröffentlichen, die damals so ziemlich den extremsten Trash- und LoFi-Sound darstellten und die zu der Zeit kaum jemand anderes machen wollte. Also hatte ich diesen kleinen Bereich eine Weile quasi für mich alleine, bis mehr Leute auf den Trichter kamen, dass dieser Kram cool ist, und anfingen Platten rauszubringen. An dem Punkt habe ich mir gedacht, dass ich mich nicht unbedingt auf diese Art Sound beschränken muss, und habe das Programm des Labels mehr danach ausgerichtet, welche Bands ich selbst mochte, anstatt nur die trashigsten Acts mit den übelsten Aufnahmen zu sammeln. Auf die Weise habe ich das Label in den Neunzigern eher als Hobby betrieben. 2004 zog dann mein alter Freund Zac zurück nach Memphis und wir wollten irgendein Projekt zusammen auf die Beine stellen, eine Bar, irgendein Geschäft oder was auch immer. Irgendwann kamen wir auf diesen Laden hier, der schon damals ein Plattenladen war und von Greg Oblivian betrieben wurde. Greg war gerade im Begriff, aus Memphis wegzuziehen, also übernahmen wir das Geschäft. Das passte gut, weil die Leute hier den Laden schon kannten und ich zu der Zeit sowieso schon seit einer ganzen Weile Platten per Mailorder verkauft hatte. Wir fingen auch wieder an, Platten rauszubringen und das Label ernsthafter zu betreiben. Unsere ersten zwei Veröffentlichungen waren KING LOUIE ONE MAN BAND aus New Orleans und THE KING KHAN & BBQ SHOW. Wir brachten beide praktisch gleichzeitig raus. Und da die Kanadier KING KHAN & BBQ SHOW zu der Zeit gerade hier auf Tour waren, haben wir für beide Acts am selben Wochenende, also Freitag und Samstag, hier in einer kleinen Bar, dem Buccaneer, Konzerte organisiert. Wir hatten für beide Abende ein paar Bands hier aus der Gegend dazu gebucht, doch auf einmal riefen uns ständig weitere an und fragten: „Hey, können wir an dem Wochenende auch noch spielen? Wir kommen sowieso zum Konzert, also könnten wir doch eigentlich auch auftreten.“ Jetzt passen allerdings in den Laden nur etwa 70 Leute rein und das auch nur, wenn man sie mit der Brechstange reinzwängt, und plötzlich tauchten da über 200 Leute auf und die kamen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und und und. Frag mich nicht wieso.
Das war beim ersten Gonerfest schon so?
Ja, beim allerersten. Die meisten standen dann auch draußen und hatten keine Chance überhaupt reinzukommen. Gut, es waren nur 200 Leute, aber eben viel mehr, als wir erwartet hatten. Seitdem haben wir größere Läden gefunden, aber vom Prinzip her wollen wir das so beibehalten, eben viele Bands aus Memphis, die wir mögen, und neue Sachen ebenso wie Jeffrey Evans oder Jay Reatard. Okay, Jay hatte immer viel getourt, aber wir wollten auch immer die ganzen kleinen Bands dabeihaben, so dass Leute, die für das Wochenende nach Memphis reisen, die Gelegenheit haben, hier auch die Acts zu sehen, die nicht so viel rumkommen.
Also werden alle Bands auf dem Gonerfest von euch persönlich eingeladen?
Ja. Also es ist nicht so, dass wir Bands dafür vorspielen lassen oder so. Im Großen und Ganzen ist es eine Ansammlung von Bands, die wir mögen und von denen wir meinen, dass sie gut in den Rahmen des ganzen Festivals passen. Natürlich will man nicht zu viele Bands haben, die alle in die gleiche Richtung gehen, so dass man immer nur dasselbe zu hören bekäme. Man muss da schon Abwechslung reinbringen, um es interessant zu gestalten. Abgesehen davon lebt das Ganze auch vom Enthusiasmus der Bands, dass sie wirklich hier spielen wollen. Weil wir uns eben nicht auf einem Level bewegen, wo es uns möglich wäre, alle Leute einfliegen zu lassen und ihnen die Unterkunft und alles zu bezahlen. Die meisten Bands, die hier spielen, sind selber Fans dieser Musik und wollen so oder so zum Festival kommen. Hier dann selbst aufzutreten, ist für sie eine Möglichkeit, ihre Hotelzimmer und so weiter zu finanzieren. Den meisten ist das auch klar, dass das ganze Wochenende nur funktioniert, wenn jeder seinen Teil beiträgt und sich an die Absprachen hält. Wenn eine Band zum Beispiel einen 30-Minuten-Platz im Programm hat und dann nicht rechtzeitig von der Bühne kommen will, bringt uns das in ziemliche Schwierigkeiten, wenn wir noch soundsoviele andere an dem Tag haben. Aber die Bands sind alle wirklich kooperativ und wir müssen auch irgendwie wissen, dass sie so drauf sind, damit wir sie für das Festival buchen.
Wie viele Besucher hattet ihr diesmal da?
Ich weiß es nicht genau. Ich weiß wohl, dass es Freitag- und Samstagabend jeweils so um die 500, 600 gewesen sein müssen. Wir haben im Vorfeld etwa 300 Wochenendtickets verkauft, die also schon mal mit Sicherheit hier waren, und im Laufe des Wochenendes waren es definitiv noch etliche mehr. Wir haben zum Beispiel bei dem Nachmittags-Open-Air am Murphy’s etwa 100 Einzeltickets verkauft und das waren nicht unbedingt dieselben Leute, die dann zu den Abendkonzerten kamen.
Bekommt ihr mit der Anzahl an Leuten eure Kosten wieder rein?
Ja, das Ganze ist im Grunde genommen kostendeckend und nicht mehr. Wir haben halt keine großen Sponsoren. Das wäre der nächste Schritt, um größere Bands herholen und die Leute besser bezahlen zu können. Aber wenn wir uns auf Sponsoring einlassen, wollen wir das auch richtig angehen. Wir wollen halt nicht, dass die Leute hier irgendwelche Autopräsentationen vor die Nase gesetzt kriegen oder wir alle in Uniform rumlaufen müssen oder ähnlichen Blödsinn, haha. Mit den Sponsoren, die wir bis jetzt haben, läuft es gut, aber es müsste darüber noch ein bisschen mehr reinkommen. Wir bekommen zum Beispiel etwas Geld vom Fremdenverkehrsamt von Memphis ...
... wodurch ihr auch Kooperationen mit allen möglichen Sehenswürdigkeiten in Memphis habt, zum Beispiel mit dem Stax Museum.
Ja, man bekommt zum Beispiel mit dem Gonerfest-Ticket Nachlass auf den Eintritt im Stax Museum Of American Soul Music oder freien Eintritt in eine Ausstellung über Rock’n’Roll-Fotografie im Brooks Museum und so weiter. Abgesehen von dem städtischen Sponsoring läuft die Finanzierung aber hauptsächlich auf den Verkauf der Eintrittskarten raus. Dementsprechend problematisch ist es also auch für uns, Festgagen zuzusagen ... und dann taucht plötzlich niemand auf, haha.
Hättet ihr keine Angst, dass das Gonerfest seinen Charme verliert, wenn es zu groß wird?
Doch, klar. Es haben schon etliche Leute gesagt, wir sollten wieder einen größeren Laden suchen. Aber wenn wir in einen größeren Laden umziehen, verliert das Festival einfach dieses Verhältnis auf Augenhöhe, wo Bands und Publikum praktisch ein und dasselbe sind. Dieses Level beizubehalten, ist verdammt schwierig.
Wie groß wird es deiner Einschätzung nach in den nächsten Jahren noch werden?
Ich weiß nicht, es ist halt immer weiter gewachsen. Als letztes Jahr die Wirtschaftskrise durchschlug, wussten wir nicht, mit wie vielen Leuten wir noch zu rechnen haben, es wuchs aber trotzdem ein wenig. Und dieses Jahr lief es wieder ein bisschen besser, nun ... ich weiß es einfach nicht. Aber wie ich schon sagte, ich will auch nicht, dass da ein 5.000-Leute-Ding draus wird. Auch wegen der Bands. Die meisten der Bands hier funktionieren wunderbar auf kleinen Bühnen, für die wäre eine große Bühne der falsche Ort.
Die Szene ist auch sehr empfindlich, was Sellout betrifft, oder was sie dafür hält.
Klar. Man könnte es noch etwas größer gestalten, wenn man es richtig anginge. Es gibt zum Beispiel ein paar Orte, wo man es draußen stattfinden lassen könnte, was ich gerne mal ausprobieren würde, und wo mehr Leute Platz hätten. Und es gäbe auch ein paar größere Bands, die in Frage kämen und die in die Szene passen. Wenn dein Problem das ist, dass du zu beliebt, zu sehr gefragt bist, kannst du da eigentlich nur froh drüber sein, aber andererseits willst du eben nicht das verlieren, was dich so besonders macht.
Hast du so etwas wie ein Traum-Line-up, vielleicht für das nächste Gonerfest?
Ich glaube, das haben wir gerade gehabt, haha.
Du meinst NEW BOMB TURKS und GUITAR WOLF am selben Abend ...[/b]
Genau. Wir haben seit drei Jahren versucht, GUITAR WOLF dazu zu kriegen, hier zu spielen. Und dieses Jahr hat es endlich geklappt. Ansonsten, Traum-Line-up... also, es gibt schon noch einige größere Acts, die wir gerne mal hier hätten.
Sind GUITAR WOLF extra fürs Gonerfest aus Japan angereist?
Nein, aber das passte gut vom Timing her. Sie sollten wohl auf dem Scion Festival in Kansas spielen, aber ihr Auftritt wurde abgesagt und jetzt waren sie auf dem großen Matador Festival in Las Vegas und eben hier. Wir könnten ihnen nicht die Flüge und all das bezahlen, also müssen wir zusehen, dass wir auf den großen Shows, für die solche Bands hier rüberkommen, quasi huckepack reiten.
Und was war zurückblickend dein persönliches Highlight bis jetzt?
Da wäre ich wieder bei GUITAR WOLF, wir haben einfach eine lange gemeinsame Vergangenheit. Sie haben die OBLIVIANS mehrmals nach Japan geholt und überhaupt war ihre Show der perfekte Abschluss für das Festival. Danach konnte praktisch nichts mehr kommen ... Du kennst das ja, gerade bei einem so kräfteraubenden Festival ist der letzte Abend hart. Auch wenn die Bands wirklich gut sind, haben sie es schwer, das Publikum noch mitzureißen. Aber die haben es hier geschafft.
Wie zufrieden warst du mit eurer eigenen, also der OBLIVIANS-Show?
Ich musste im Gegensatz zu den beiden anderen nicht Schlagzeug spielen. Es war sowieso schon unerträglich heiß an dem Abend und das Schlagzeug stand hinten in der Ecke, wo auch noch sämtliche Amps für die PA untergebracht waren. Und die Klimaanlage konnte da auch nichts mehr ausrichten. Das hat Jack und Greg ziemlich geschafft. Aber dafür, dass wir schon länger nicht mehr gespielt hatten, ist es ganz gut gelaufen.
Die Leute haben euch auch wirklich abgefeiert. Lag das daran, dass es für euch ein Heimspiel war?
Ja, einige aus Memphis hatten uns vermutlich noch nie gesehen und einige schon lange nicht mehr, und dann waren da noch viele auswärtige Gäste, die uns sehen wollten. Aufzutreten macht eh immer Spaß. Wir haben zwar alle andere Projekte am Laufen, aber wann immer es sich ergibt, tun wir es auch. Zum Beispiel die Shows kürzlich mit den GORIES, dadurch wurde für uns gewissermaßen ein Traum wahr, weil die immer schon eine unserer Lieblingsbands waren. Und mit ihnen zusammenzuarbeiten war großartig.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #93 Dezember 2010/Januar 2011 und Lars Weber