THE DISTRACTION zählen neben den STITCHES und den BRIEFS sicher zur Speerspitze amerikanischen Punkrocks, sorgen für Riots in kleinen kalifornischen Clubs und knien jetzt in der Startlöchern zu ihrer Europatour, die Ende August in Spanien beginnen soll. Und vermutlich war es sogar ein spanisches Musikmagazin namens Ruta 66, das den Stein mit ins Rollen brachte, die das aktuelle Album „Calling All Radios“ nicht nur über zwei komplette Seiten besprechen wollte, sondern direkt zur Platte des Monats kürte. Kaum geschehen, hatte das Quartett aus Orange County schon die Einladung zum legendären südspanischen Serie Z-Festival im Briefkasten und somit die Eintrittskarte für europäische Bühnen. Die Split-Single mit den BRIEFS dürfte die Band einen weiteren Schritt nach vorne gebracht haben und selbst die Neuzugänge an Schlagzeug und Gesang hätten der Band laut Zeugenaussage weniger geschadet, als dass sie vielmehr „das Beste gewesen sind, was ihnen hätte passieren können“. Über Erwartungen, Kunst, die späten Siebziger, über OASIS, Paul Weller, Mod und Punk sprach ich mit Gitarrist und Landschaftsarchitekt Chris während seiner Arbeitszeit.
Ist das für deinen Chef okay, wenn du während deiner Arbeitszeit Interviews gibst?
Klar, kein Problem. Das ist alles ziemlich locker hier. Sonst wäre ich vermutlich auch nicht dabei.
Und wie kommt ein Landschafts-Architekt zum Punkrock?
Ich glaube, du musst die Frage andersrum stellen. Wie kommt ein Punkrocker zur Landschaftsarchitektur. Wo soll ich anfangen? Weißt du, ich hab mich eigentlich schon immer, sogar schon als Kind, irgendwie für Kunst und Design interessiert. Ich glaube, das ist ein Grund, der mich schon damals zur Punkkultur gebracht hat. Alles, die Musik, die Einstellung und die Kunstbewegung, die schon immer Hand in Hand mit Punk zu gehen schien, haben mich unglaublich fasziniert, genauso wie mich ‚Mod’ schon von Beginn an interessiert hat, sicherlich aus denselben Gründen. Ich ging also zum College und wollte irgendwas mit Kunst studieren, irgendwas, was mit Design zu tun hat. Aber ich wollte mich nicht allein nur mit Artwork beschäftigen. Ich wollte irgendwas greifbareres machen, etwas was viele Leute sehen können, anfassen können, wovon sie etwas haben. Nicht einfach nur Kunst, die an der Wand hängt, welche ich im übrigen auch sehr schätze. Aber das wäre nichts für mich gewesen. Na ja, und dann bin ich irgendwie zur Landschafts-Architektur gekommen, weil sie für mich die wohl beste Synthese meiner Interessen war. Ich glaube, ich bin so etwas wie ein ‚Art-Fag at heart’, haha ...
Kannst du dich noch erinnern, was dich an der Punk- oder Mod-Kunst am meisten beeindruckt, vielleicht sogar beeinflusst hat?
Ich war so 12 oder 13 Jahre alt, als ich mit Punk in Berührung kam, mit Bands wie den SEX PISTOLS, UK SUBS, PETER AND TEST TUBE BABIES, BAD RELIGION. Ich habe damals schon die ‚Cut & Paste’-Kunst geliebt, das Schnipsel-Layout. Das konnte im Grunde jeder machen. Alles was du brauchtest, war Kleber und ein Kopierladen. Ich glaube, die gesamte Kunst der Punk- und Modbewegung, die Gestaltung von Anzeigen und Flyern, war für mich fast genauso wichtig wie die Musik und die Botschaft. Jetzt, wo ich ein paar Jahre älter bin, kann ich gar nicht genau sagen, was mich am meisten interessiert. Ich würde es vielleicht als eine Art Avantgarde-Kunst-Bewegung bezeichnen. Die Kunst und Musik der 60er fasziniert und beeinflusst mich stark und vor allem in den letzten Jahren habe ich die 70er Punk-, Powerpop- und Mod-Bewegung lieben gelernt. Die Bands, ihre Kunst, alles. Vollkommen großartig. Und ich glaube, das hören die Leute auch in der Musik von THE DISTRACTION.
Du hast eben die 70er Punk-, Powerpop- und Mod-Bewegung genannt. Gibt es da irgendwelche Bands oder Platten, die du hervorheben möchtest?
Die Band die mich am meisten beeinflusst hat, persönlich, künstlerisch, musikalisch, ist mit absoluter Sicherheit THE JAM. Manchmal glaube ich, dass ich schon mein ganzes Leben lang ein großer Paul Weller-Fan bin. Weitere Bands sind THE BUZZCOCKS, THE BOYS, THE VIBRATORS, THE CHORDS, THE WEIRDOS – die Liste geht sicherlich noch weiter. Unser Schlagzeuger Mr. Positive liebt im übrigen DEVO und die CRAMPS, Triple J unser Bassist ist großer DAMNED-Fan und Sänger Mickey liebt die CLASH über alles. Aber im Grunde genommen lieben wir alle ungefähr die gleichen Bands, auch wenn wir unsere persönlichen Favoriten haben. Ich habe schon tonnenweise Bücher über Paul Weller gelesen und es ist jedes Mal komisch, wenn ich total viele Gemeinsamkeiten entdecke. Es mag sich albern anhören, aber manchmal fühle ich eine Art Verbindung zu Paul Weller und auch THE JAM, die ich kaum erklären kann. Ich will jetzt nicht sagen, dass THE JAM meine Helden sind, aber irgendwie respektiere und verehre ich sie. Und vor kurzem hatte ich dann sogar die Möglichkeit, Paul Weller persönlich zu treffen. Es war großartig. Ich will verdammt sein, wenn der Kerl nicht einer der freundlichsten und authentischsten Menschen ist, die ich je getroffen habe. Auf der Bühne ist er verdammt selbstsicher, manchmal wirkt er arrogant, aber das ist nur Show. Hinter der Bühne ist er einfach nur nett. Ich glaube, ich versuche immer genauso zu sein.
Wenn du schon Arroganz erwähnst, müssen wir kurz auf OASIS zu sprechen kommen, meine Lieblingsband. Was hältst du von OASIS und von Britpop im allgemeinen? Ich meine, Noel Gallagher ist wie du großer Fan von Paul Weller, da muss es doch Gemeinsamkeiten geben ...
OASIS?! Ich liebe OASIS! Sie sind auch eine meiner Lieblingsbands. Es gibt viele Leute, die sie hassen, aber ... verdammt ... sie schreiben Killersongs! Ich lechze nach großartigen Melodien und sie haben davon Unmengen. Und Britpop? Vor allem das ganze Früh-90er-Zeug war großartig. Die STONE ROSES oder WONDERSTUFF. Und britische Bands aus den 80ern wie die SMITHS und die PSYCHEDELIC FURS. Ich mag auch Motown und 60er-Soul. Ich mag so viele verschiedene Arten von Musik. Ich finde es oft komisch, wenn Leute zu engstirnig sind und ihr Ding für das Beste, das einzig Wahre halten. Punkkids, die meinen, sie dürften keine ROLLING STONES hören, weil das Luschen wären, die nicht rocken könnten. Dabei haben die STONES Unmengen von Punk- und Modbands beeinflusst. Ich finde, man sollte immer vielen Dingen gegenüber aufgeschlossen sein und sein eigenes Ding nicht zu verbissen als das einzig relevante betrachten. Okay, vielleicht kleide ich mich wie ein Mod, ich fahre einen Scooter, höre verdammt viel Mod-Kram, aber ich würde mich selbst nie einen Mod nennen, weil ich mich auch für zu viele andere Dinge interessiere. Mich nerven diese ganzen Klassifizierungen. Aber wir waren bei OASIS, oder? Es mag komisch klingen, aber da wo ich Paul Weller für seine nette ‚Down to earth’-Art schätze, liebe ich OASIS für ihre Arroganz. Frag mich nicht, wie das funktioniert. Und kennst du nicht auch Leute, die sich mit aller Kraft dagegen wehren, einfach nur zuzugeben, wie unglaublich gut OASIS sind?!
Und ob ich die kenne! Ich höre im übrigen gerade das Album von Kelly Osbourne. Es ist großartig! Der Rest der Ox-Besatzung wird mich dafür hassen. Aber ich bin mir sicher, das gleiche Album, die gleichen Songs, der gleiche Sound, von einer neuen Band aus Irgendwo – sie würden es lieben.
Vermutlich ist es manchmal ein ‚cooles’ Gefühl, einer ganz speziellen Gruppe anzugehören und nur die Musik zu mögen, die auch die anderen aus der Truppe gerne hören. Dabei geht das vollkommen gegen den eigentlichen Ethos von Punk. Jeder sollte einfach das mögen, was er wirklich mag, was ihm etwas bedeutet. Und wen zum Teufel kümmert es, ob Kelly Ozzys Tochter ist, wie sie den Plattenvertrag bekommen hat oder was auch immer?! Mich hat letztens jemand in einem anderen Interview gefragt, ob Punk überhaupt noch irgendeine Bedeutung hat. Hey, was für eine beschissene Frage. Wenn es da draußen auch nur einen Menschen gibt, dem Punk etwas bedeutet, und den gibt es sicherlich, dann ist die Frage schon beantwortet.
Du fährst ja Scooter. Gibt es eigentlich noch so etwas wie Mod-Meetings in den Staaten und speziell in Kalifornien?
Oh ja, es gibt einige große Scooter-Rallyes hier in Amerika und vor allem hier in Kalifornien viele Scooter-Enthusiasten. Das liegt vermutlich zum einen am Klima und daran, dass Kalifornien eher dicht bevölkert ist. Viele Scooter-Leute sind aber keine Mods oder ähnliches. Die Scooter-Kultur, oder vielleicht sollte ich besser sagen Pseudo-Scooter-Kultur, ist gerade in letzter Zeit ziemlich trendy geworden, aber das ist schon okay. Trotzdem hat sich vor allem in Orange County eine neue Mod-Szene gebildet, die es in sich hat. Ich habe letzte Tage noch eine Band für mein Label gesignet, die aus dieser Szene kommt. Sie heißt THE INTELLIGISTA: 17 Jahre alte Modkids mit einem Sound zwischen Motown und frühen WHO und tonnenweise Teen-Energy. Sie sind fantastisch. Wir haben gerade eine Single gemacht, die hoffentlich bald rauskommen wird.
Du hast also einen Vollzeitjob, eine Band und ein Label?
Ja, aber dafür keinen Schlaf, haha. Natürlich wäre es mein Traum, irgendwann nur von der Musik leben zu können, aber damit rechne ich jetzt noch nicht. Irgendwie hält das alles meinen Motor am Laufen. Vielleicht deshalb weil mir alles auch noch ungeheuer viel Spaß macht. Und das ist es doch, worum es geht, oder?
Ihr werdet ab Ende August auf Tour durch Europa sein. Was erwartet ihr bzw. was haben wir zu erwarten?
Ich weiß nicht genau, was uns erwarten wird. Wir haben so viele unterschiedliche Dinge von verschiedenen Bands gehört, die alle schon mal bei euch waren. Ich glaube, das Festival in Spanien wird ein Highlight werden, allein deswegen, weil wir zusammen mit RADIO BIRDMAN spielen. Wow! Ich freue mich auf Deutschland. Die BRIEFS scheinen Deutschland zu lieben. Und was ihr von uns zu erwarten habt? Kurze, energiegeladene Sets. Pogo! Wir werden Dinge zerstören und das Publikum attackieren. Wir werden uns viel bewegen und tanzen. Ja, ich glaube wir werden verdammt viel Spaß haben ...
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