ÓDIO SOCIAL

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Am Sumpf vorbei

Seit Anfang der Achtziger Jahre gibt es eine gute und recht große Punkrock-Szene in Brasilien. OLHO SECO, RATOS DE PORÃO, INOCENTES oder CÓLERA sind längst legendär, auch aktuellere Bands wie AGROTÓXICO, FLICTS oder NITROMINDS waren öfter in Europa auf Tour. Die Lebensumstände der Bandmitglieder unterscheiden sich allerdings deutlich von denen bei uns, denn es fehlt ihnen an sozialer Absicherung, es gibt viel Armut, Korruption, Drogen, Gewalt – dennoch ist das Leben von einer unbändigen Lebensfreude und Freundlichkeit der Menschen gekennzeichnet. „Ballo“ Ballschmieter, Betreiber von Break The Silence Records sowie Drummer der deutschen Punkband KILLBITE, war im April 2017 zum wiederholten Male zu Besuch in Brasilien. Eine enge Freundschaft verbindet KILLBITE seit ihrer gemeinsamen Brasilientour 2016 mit ÓDIO SOCIAL aus São Paulo. Es erschien sogar eine gemeinsame Split-LP mit dem Titel „Suas Torres Douradas Entraráo Em Colapso“, die komplett in D.I.Y.-Manier im Proberaum aufgenommen wurde. Ballo sprach mit Leandro Sampaio, Gitarrist und Sänger von ÓDIO SOCIAL.

ÓDIO SOCIAL sind eine sehr aktive Band in São Paulo. Was war die Inspiration für euch, die Band zu gründen?

ÓDIO SOCIAL haben sich im August 2000 gegründet. Da waren wir Teenager, hatten keine guten Instrumente und wollten einfach Krach machen. Inspiration sind für uns Hardcore-Bands wie OLHO SECO oder CÓLERA. Man hat als junger Mensch in Brasilien verhältnismäßig wenig Möglichkeiten, seine Zeit vernünftig zu gestalten. Man kann ganz einfach abrutschen in Kriminalität und Drogensucht. Gerade in São Paulo gerät man schnell in einen solchen Sumpf. Wir wollten Musik machen. São Paulo hat eine sehr große Punk- und Hardcore-Szene. Unser erstes Konzert haben wir in dem Bezirk gespielt, wo wir wohnen, das heißt in einer Hausruine. Das war für viele Leute ein Erlebnis. Wir kennen uns schon sehr lange.

Ich bin ja nun bei euch zu Hause als Gast und erlebe, wie ihr lebt. Wie gestaltet sich euer Alltag?

Wir wohnen in einem sehr armen Bezirk von São Paulo. Du siehst ja, wie die Verhältnisse sind. Hier gibt es ganz viel Armut und Elend in der direkten Nachbarschaft. Unser Nachbar ist sehr arm, er fährt jeden Tag in die Stadt, um Jobs als Tagelöhner zu finden. Manchmal wird er nichtmal bezahlt für seine Arbeit. Wir halten hier alle zusammen und helfen uns gegenseitig. Ich arbeite als Postbote, was ein guter und verhältnismäßig sicherer Job ist. Meine Frau arbeitet im Kindergarten, aber man verdient da nicht viel Geld, wir kommen gerade so über die Runden. Douglas, unser Drummer, hat zwar einen Job, aber wenn er krank ist, bekommt er kein Geld, man ist nicht abgesichert. In Brasilien kann man froh sein, wenn man einen guten Job hat, gerade wenn man Familie hat. Man bekommt keine Unterstützung, es gibt Zeiten, da ist es hart. Manchmal kommt es vor, dass gar kein Geld da ist. Das Leben ist ein täglicher Kampf, du weißt nie, was passieren wird. Gerade für die Kinder ist es schwer. Wir schicken unseren Sohn auf eine private Schule, da es auf der staatlichen Schule sehr brutal zugeht, es gibt dort Gangs, Drogen und schlechte Lehrer. Unser Sohn ist für uns alles. Es ist zwar teuer, sein Schulgeld zu bezahlen, aber er soll nicht in diesen Sumpf geraten, davor habe ich Angst. Hier gibt es viele Gangs und Kriminelle.

Mir fällt auf, dass die Familie in Brasilien einen sehr hohen Stellenwert hat. Was bedeutet sie für dich?

Für mich bedeutet meine Familie alles. In Brasilien ist es so, dass die Familie immer an erster Stelle steht, gerade in den unteren Schichten. Die Familie ist wichtig, sie gibt Halt. Man geht gemeinsam durch dick und dünn. Meine Mutter wäre letztes Jahr fast gestorben, was eine harte Zeit war. Auch unsere Freunde zählen wir zur Familie. Gerade in schweren und unsicheren Zeiten ist das eminent wichtig. Gegenwärtig geht es mit Brasilien steil bergab, denn die neue Regierung ist korrupt und die Menschen müssen unter ihrer Habgier leiden. Viele Leute haben ihre Jobs verloren, das Geld ist nichts mehr wert und alles wird teurer. Viele leben deswegen auf der Straße und hungern. Ich liebe meine Familie, wir geben uns Kraft.

Wie ist aktuell die politische Lage in Brasilien?

Die jetzige Situation kann man nur als Katastrophe bezeichnen. In Brasilien war es schon immer scheiße, aber jetzt hat das alles einen Höhepunkt erreicht. Menschen werden enteignet, verlieren Haus und Hof. So etwas kann uns morgen auch passieren. Es wurden erst letztens ganz viele Menschen vor die Tür gesetzt, einfach enteignet. Das finde ich richtig schlimm, denn man kann sich nicht wehren, weil ansonsten die Militärpolizei kommt. Polizeigewalt ist hier an der Tagesordnung. Die zögern auch nicht, dich abzuknallen. Es geschieht nicht selten, dass Leute einfach von der Polizei kontrolliert werden und wegen einer Kleinigkeit verprügelt werden. Die drehen richtig durch und sie wissen genau, dass sie am längeren Hebel sitzen. Die Korruption ist unerträglich und macht es unmöglich, für die Zukunft zu planen. Und es wird immer schlimmer. Der Präsident erlässt viele sehr harte Gesetzte, fast schon so ähnlich wie in einer Diktatur.

Ihr wart 2015 in Europa. Was ist euch aufgefallen und wie kam es zur Tour?

Die Tour war eine großartige Erfahrung für uns, da von uns noch niemand in Europa war. Wir waren in Frankreich, Deutschland und in Tschechien unterwegs und haben viele neue Freunde gefunden. Maßgeblich unterstützt haben uns Leute wie Stefan von Abekeit Records oder Zebra aus Prag. Den größten Teil haben wir selber organisiert. Wir haben mit vielen tollen Bands zusammengespielt, wie YACØPSÆ, DISPARO! oder unseren Freunden KILLBITE, mit denen wir gerade eine Split-LP herausgebracht haben. Europa ist ganz anders als Brasilien. Ihr habt viele Squats, wo Punks wohnen. Bei uns gibt es so etwas fast nur in São Paulo. In Brasilien spielt man meist in Clubs, seltener in besetzten Läden, denn die gibt es nur in großen Städten. Europa ist da sehr gut organisiert und verfügt über ein gut ausgebautes Netzwerk. Das gibt es in Brasilien zwar irgendwie auch, aber hier liegen die Städte extrem weit auseinander.

Um nochmal auf das Thema arm und reich zu kommen: Gerade in São Paulo fällt es besonders auf, da liegen die Luxusbunker direkt neben einer Favela. Das Viertel, in dem du wohnst, ist auch von stark von Armut geprägt. Wie gehst du damit um?

Das Leben meint es nicht immer gut mit einem. Und man muss lernen, dass es einen noch schlechter treffen könnte. Viele Menschen leiden unter der Korruption, die hier in Brasilien weit verbreitet ist. Jeder ist bestechlich. Es muss einem klar sein, dass man arbeiten muss. Tust du das nicht, hast du nichts. Ich arbeite als Postbote im Öffentlichen Dienst, was schon ein Privileg ist. Ich verdiene halbwegs genug, dass wir überleben können. Aber das kann morgen schon ganz anders sein. Ich habe eine Familie und trage deswegen die Verantwortung. Die Politiker zerstören alles, sie selbst haben aber nichts zu sagen, denn sie beschließen die Gesetze so, wie es den Reichen zu deren Vorteil passt.

Was man auch beim Thema Umweltschutz sehen kann ...?

Ja, genau. Umweltschutz ist hier in Brasilien ein Fremdwort. Die Natur wird systematisch zerstört, die Flüsse und Seen werden vergiftet. Es gibt so gut wie keine saubere Trinkwasserquelle mehr. Wälder und Natur werden zerstört, nur weil das Geld im Mittelpunkt steht. São Paulo ist eine riesige Müllhalde und ein Drogensumpf.

Was habt ihr bisher veröffentlicht? Was habt ihr in Zukunft geplant?

Wir haben zwei Demotapes veröffentlicht und dann eine 7“. 2015 kam unser Album „Jovens Mortos“ heraus und jetzt eine Split-LP mit unseren Freunden KILLBITE aus Bremen. Im September gehen wir übrigens wieder auf Europatour. Watch out!

Ralf „Ballo“ Ballschmieter

(Einleitung: Helge Schreiber)