Sänger Raphael hat einiges durchgemacht und seine Dämonen auf dem neuen Album „Anti Life Anti You“ gebannt. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund, was rückblickend vielleicht nicht immer die beste Idee ist, aber wohl die authentischste. Wie weit man als Hörer jedoch da mitgehen will, muss jeder selbst entscheiden.
Du hast vieles für dieses Album in einer Nervenheilanstalt geschrieben. Kannst du mir sagen, was los war?
Definitiv zu viel! Zu viel Kopffick, zu viel Konsum und zu wenig Schlaf, bis am Schluss meine Fassade wieder auseinanderbrach. Vor allem mein ausschweifender Lebensstil hat zu der Zeit das Fass mal wieder zum Überlaufen gebracht. Die Grenzen total überschritten, bis die Bombe geplatzt ist. In Deutschland ist das Thema Nervenheilanstalt unverständlicher Weise leider immer noch sehr tabuisiert und mit Scham behaftet. Für mich ist ein Aufenthalt in der Klapse nicht unbedingt etwas Besonderes oder Erwähnenswertes mehr. In den letzten zehn Jahren habe ich schon öfter Zeit in solch stationären Einrichtungen abgesessen beziehungsweise verbringen müssen. Bei mir wurde vor einigen Jahren eine bipolare Störung diagnostiziert. Eine chronische psychische Erkrankung, gekennzeichnet von manischen und depressiven Stimmungslagen, die im Verlauf abwechselnd und unterschiedlich intensiv auftreten können. Interessanterweise leiden viele Künstler und Musiker an dieser Krankheit. Ich bin eigentlich kein Freund von medizinisch-wissenschaftlichen Schubladen, in die dich irgendein schlauer Arzt reinzustecken versucht. Deswegen habe ich auch Jahre lang meine Erkrankung nicht wirklich anerkannt und akzeptiert. Dies fällt mir sogar heute noch schwer. Meist habe ich gegen ärztlichen Rat meine Tabletten abgesetzt und mich dann mit Alk und illegalen Substanzen selbst behandelt. Der Großteil meines Umfelds hat davon nichts mitbekommen. Mein Doppelleben ging auch immer eine Zeitlang gut, bis es dann irgendwann zum völligen Kontrollverlust kam. Genau das war auch der Grund für meinen letzten Aufenthalt in der Nervenheilanstalt. Ich war wieder in einer so manischen Phase, dass mir schon die Engelsflügel aus dem Rücken wuchsen, bildlich gesprochen. Größenwahnsinniger Tatendrang, gepaart mit einer enormen Kreativität war wieder mal prägend in dieser Phase. Das hatte natürlich auch Auswirkungen auf das Schreiben der Texte für „Anti Life Anti You“. Jedenfalls kam ich irgendwann dann gar nicht mehr zu Ruhe, physisch wie psychisch. Grundlos auftretende Aggressionsausbrüche wurden immer häufiger und krasser. Meine Wahrnehmung war total verzerrt, einfach absoluter Realitätsverlust. Am Tag meiner Einweisung habe ich im Wahn meine komplette Wohnung in Schutt und Asche gelegt. Die umliegende Nachbarschaft war alarmiert. Glücklicherweise ging es diesmal ohne Polizei aus. Ein engeres Familienmitglied konnte mich beruhigen und mich dazu bringen, mich freiwillig stationär einweisen zu lassen. Ich habe Menschen, die ich liebe, durch meine heute für mich nicht mehr nachvollziehbaren Handlungen ungewollt sehr verletzt. Das bereue ich immer noch zutiefst.
Inwieweit war die Arbeit an diesem Album für dich wichtig, um den Kopf freizubekommen? Würdest du sagen, dass Musik für dich auch eine Therapie ist?
Das Kreieren von Musik im Allgemeinen stellt für mich eine Art Katharsis dar. Die Fertigstellung von „Anti Life Anti You“ ist da besonders, weil das Album so persönlich ist. Die Arbeit war ein heilsamer und befreiender Prozess und hatte auf jeden Fall auch eine therapeutische Wirkung. Das Songwriting hat sich ja fast über drei Jahre hingezogen. Die wöchentlichen Proben mit meinen Jungs und das gemeinsame Arbeiten an den Songs gaben mir in dieser Zeit Halt und Kontinuität.
Man muss eure Songs ja in einem Kontext sehen, und ich verstehe jetzt „Mask“ nicht als „Querdenker“- und Anti-Corona oder -Masken-Song. Aber habt ihr euch überlegt, ob ihr in der momentanen Situation diesen Text so raushauen wollt?
Ernsthaft Gedanken, dass es vielleicht zu Missverständnissen kommen könnte, haben wir uns erst gemacht, als es zu spät war. Mit der Zeile „Rip off your fucking mask“ ist keinesfalls das Runterreißen einer Atemschutzmaske gemeint. Ich halte auch von dieser Anti-Corona-Bewegung nichts und ich finde es ekelhaft, dass Hippies Schulter an Schulter mit Nazis demonstrieren. Der Song ist bereits zu einer Zeit entstanden, als noch keiner an COVID-19 dachte. Die Thematik ist, wie schon erwähnt, eine völlig andere. Es ist zu hoffen, dass der Song von den Hörern nicht falsch verstanden und ein Protest-Hit wird.
In „Mit rostigen Nägeln“ gibt es auch Zeilen, die man als frauenfeindlich verstehen kann, in „Anti life anti you“ benutzt du ein homophobes Schimpfwort. Ich muss zugeben, ich bin kein Fan von so etwas. Wie wörtlich muss man dich hier nehmen?
Also schon mal direkt vorweg, ich bin keineswegs frauen- oder schwulenfeindlich. Ich finde es auch irgendwie nervig, dass im Hardcore jedes Wort direkt auf die Goldwaage gelegt wird. Ich mache mir beim Schreiben von Texten nicht unbedingt so viele Gedanken, ob alles politisch korrekt ist und niemand sich angegriffen fühlt. Ganz im Gegenteil. Oftmals will ich mit meiner derben Ausdrucksweise provozieren, wie bei „Mit rostigen Nägeln“ oder dem Titelsong „Anti life anti you“, der schon instrumental so brachial wütend auf die Fresse gibt. Als ich damals den Beat von „Mit rostigen Nägeln“ zum ersten Mal hörte, war mein erster Gedanke, daraus etwas total Krankes und Skurriles zu machen. Der Text ist auf keinen Fall wörtlich zu nehmen, sondern pure Fiktion. Beim Schreiben habe ich mich vom belgischen Film „Ex Drummer“ inspirieren lassen. Eine tragende Rolle spielt darin der lispelnde Koen, der durch sein sadistisches, gewalttätiges Verhalten und seinen unbegreiflichen Hass auf Frauen sehr verstört. Ich habe versucht, mich beim Schreiben des Textes in eine solche Person zu versetzen und seine kranke Gefühlswelt widerzuspiegeln. Bei „Anti life anti you“, wollte ich einfach meine pure Wut ungezügelt aufs Papier bringen. Die Zeile „This faggot shit ...“ ist als angepisstes Fluchen zu verstehen, um zu verdeutlichen, wie sehr mich diese ganze verlogene Weichei-Scheiße ankotzt. Der Hintergedanke war dabei keinesfalls, eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe zu diffamieren.
© by Fuze - Ausgabe #86 Februar/März 2021 und Dennis Müller
© by Fuze - Ausgabe #86 Februar/März 2021 und Sebastian Koll