In der aktuellen Situation ist diese Diskussion zwar ein Luxus, es ist dennoch interessant, sie zu führen. Anlass für uns war der von vielen als „blutleer“ empfundene Sound bei der KVELERTAK-Tour, wo, so sagten mir befreundete Musiker, die Gitarrenboxen auf der Bühne reine Dekoration waren, weil der Sound digital über ein Gerät wie dem Kemper Profiling Amp kam: aus der Gitarre in einen auf Knopfdruck zig Gitarrenverstärker simulierenden Computer und von da in den Ohrstöpsel des Musikers und die Boxen. Weder Topteile noch Gitarren- noch Monitorboxen sind da noch nötig und zu schleppen, und die teuren Vintage-Verstärker können ins Museum. Ist das nun ein Fortschritt oder unauthentischer ... Betrug am Publikum?
Dafür
Vor ein paar Wochen wurde eine befreundete Band von mir von der Polizei mit ihrem Van aus dem Verkehr gezogen, denn dieser war hoffnungslos überladen. Wer selber in einer Band spielt, wird das kennen: Jedes Wochenende fühlt sich an, als würde man schon wieder bei einem Umzug helfen. Raus aus dem Proberaum, rein in den Van. Raus aus dem Van, rauf auf die Bühne. Runter von der Bühne, rein in den Van. Raus aus dem Van, rein in den Proberaum. Und wieder von vorne. Und alle hassen den Bassisten mit seiner 8x10er-Bassbox (Gewicht: 75 kg). Beim Soundcheck heißt es dann: Die Becken sind zu laut, alle anderen Instrumente haben keine Chance gegen die Schießbude im Rücken, und überhaupt übertönt der Krach von der Bühne alles, was vorne rauskommen soll. Ein erster Schritt war da In-Ear Monitoring, was heutzutage erschwinglich und gerade in kleine Clubs ein Segen ist, denn so ist das Publikum nicht den Soundvorstellungen des Gitarristen ausgeliefert, der der Meinung ist, das müsste noch ein klein wenig lauter sein. Der nächste Schritt sind digitale Verstärker: Keine Boxen mehr auf der Bühne, Gitarren werden direkt in Computer eingesteckt, die verschiedene Soundprofile haben. Puristen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen! Aber: Ist das wirklich weniger Kunst? Wir reden hier nicht von Playback! Die Musiker spielen immer noch ihre Instrumente selbst. Und wo ist der Unterschied zwischen einem Effektboard gleich einem Minenfeld vor sich und einer programmierten Verstärkersimulation? Kann man nicht schon bei einem normalen Verstärker von manipuliertem Sound sprechen? Hört euch mal unverzerrte Gitarren an. Fetter Sound ist was anderes. Wo ist also das Problem, wenn da statt ein paar Röhren nun ein Computer steht, wenn das Ergebnis das gleiche ist? Und wenn das heißt, dass man am Ende im Kleinwagen touren kann und nur mit Gitarre und USB-Sticks unterwegs ist: da bin ich dabei.
Dennis Müller
Dagegen
Im Kern ist diese Diskussion eine uralte: Ist digitale Musik besser oder analoge? Musik von Vinyl oder von CD oder aus dem Computer? Und: Ich bestreite – als Nicht-Musiker – ja gar nicht die objektiv als Vorteile empfundenen Features eines rein digitalen Set-ups und den rückenschonenden Aspekt, wenn ein Musiker neben der Gitarre nur noch eine fünf Kilo leichte Kiste zu tragen hat. Nur ist es für mich da nicht weit zum Vollplayback und dann zur Hologramm-Show. Nein, ich will hier nicht den Maschinenstürmer geben, mich dem technischen Fortschritt entgegenstemmen. Ich bezweifle nicht, dass es kreativ begeisternd sein kann, wenn man als Gitarrist mit Dutzenden sonst unbezahlbarer Röhrenverstärker spielen kann, was die Kreativität sicher beflügelt. Aber so, wie es Systemgastronomie gibt, Franchiseketten, in denen Burger, Pizza und Tacos überall gleich vertraut schmecken, und Menschen so was als Vorteil empfinden, sind mir Restaurants mit kreativer, individueller Küche lieber, wo sich jemand in der Küche jeden Tag neu austobt und dabei Überraschendes entsteht. Analog dazu will ich mein Live-Erlebnis: Ich will das Feedback, das Kaputte, das Chaos, das echte Leben, den Lärm, den Zufall, das Planlose. Die Reduzierung auf das eine Set-up, das eine Top-Teil, den einen Verstärker, den der Musiker seit Jahren, seit Jahrzehnten verwendet, mit dem er vertraut ist. Welchen Vorteil soll ich als Zuschauer haben, wenn ein Musiker für jeden Song ein neues Preset wählen kann? Bei Progrock mag das ja irgendwen begeistern, bei Punk ist mir das schnuppe. Und wie beliebig wird das, wenn jeder alles kann, immer und überall? Die Pro-Argumentation von Dennis ist pragmatisch, mein Contra philosophisch. Es lohnt, diese Entwicklung im Blick zu behalten.
Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #150 Juni/Juli 2020 und