Seit etwa drei Jahren gibt es in Berlin eine alternative Hilfsorganisation, die von Leuten aus der D.I.Y.-Szene ins Leben gerufen wurde, um Menschen in Not auf der ganzen Welt schnell und unkompliziert zu helfen. Cadus e.V. heißt das Projekt, das schon spektakuläre Einsätze für sich verbuchen kann. Zum einen die Rettung von Bootsflüchtlingen aus dem Mittelmeer, zum anderen ein mobiles Krankenhaus, das im IS-Gebiet im Einsatz ist. Am Telefon erklärt Gründungsmitglied Nico Zerbian die Arbeit und die Visionen von Cadus. Er selbst hat nach einer Banklehre jahrelang in einem Jugendclub gearbeitet und dann in Berlin Soziologie studiert. Seit zehn Jahren arbeitet er immer den Sommer über für das Fusion-Festival.
Nico, wofür steht der Name Cadus?
Cadus ist ein Kunstwort. Der Verein hieß ursprünglich Phoenix, aber davon sind wir wieder abgerückt, weil es schon so viele Projekte mit diesem Namen gibt. Dann gab es Anfang 2015 Kontakte zur Studierenden der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, die uns im Rahmen eines Seminars einen neuen Namen und ein neues Logo entworfen haben. Wir haben uns von verschiedenen Vorschlägen für Cadus entschieden, weil es uns am besten gefallen hat. Die Idee ist angelehnt an die Silberdistel, die auch im nordsyrischen Rojava häufig vorkommt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir sehr auf unsere Ausbildungsprojekte dort fokussiert. Die Ringdistel dort hat den lateinischen Namen Carduus, deshalb hat es super gepasst. Die Distel ist widerstandsfähig und braucht nicht viel. Wir machen auch immer weiter, auch wenn wir wenige Ressourcen haben.
Euer Claim lautet „Redefine global solidarity“.
Unsere Grundmotivation dafür, eine kleine humanitäre Hilfsorganisation zu gründen, war, dass Teile des Teams schon in der Notfall- und Krisenhilfe für große Organisationen tätig waren. Zum Beispiel nach einem Wirbelsturm in der Karibik oder nach dem Tsunami im asiatischen Raum. Und aufgrund unserer Punk- und D.I.Y.-Attitüde haben wir uns gedacht, wir wollen es eben ein bisschen anders machen. Wir wollen mehr mit den Leuten vor Ort sprechen. Es soll nicht am wichtigsten sein, dass unser Banner auf allen Fotos in der Zeitung zu sehen ist. Außerdem hört man immer wieder, dass größere Hilfsprojekte enden und zum Beispiel in Madagaskar jetzt ein Riesenkrankenhaus leer steht, das vorher drei Jahre lang betrieben wurde. Deshalb haben wir gedacht, mit unserem D.I.Y.-Ansatz und unserem politischen Hintergrund wollen wir einfach globale Solidarität neu denken.
Mit wie vielen Leuten habt ihr 2014 angefangen?
Im Sommer 2014 ging es mit intensiven Gesprächen von drei bis vier Leuten los. Ich selbst bin im September des Jahres dazugekommen. Da bestand der harte Kern aus sechs Leuten. Momentan arbeiten mindestens zehn Leute kontinuierlich an dem Projekt. Und dann gibt es natürlich noch projektbezogene Helfer, die zum Beispiel punktuell am Bau des mobilen Krankenhauses mitgewirkt haben.
Was haben die Cadus-Mitarbeiter für einen Background?
Wir haben zum Beispiel Umweltingenieure im Team, die aus dem Bezirk Friedrichshain kommen, dort in selbstverwalteten Läden arbeiten und nebenbei politische Abende organisieren. Ich selbst bin Soziologe, habe im Parkclub in Fürstenwalde Punk-Konzerte organisiert und singe bei der Crustpunk-Band M.V.D. Dann haben wir einen Rettungsassistenten im Team, der lange in Göttingen Konzerte und politische Veranstaltungen organisiert hat. Es gibt aber auch einige Studenten im Team, die sich mit internationaler Zusammenarbeit oder Arabistik auskennen.
Vergangenes Jahr habt ihr mit einem spektakulären Projekt auf euch aufmerksam gemacht. Ihr habt Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Wie kam es dazu?
Wir waren von September bis November unterwegs. Wir haben die Crew für den ehemaligen Seenotrettungskreuzer Minden gestellt, der damals von Lifeboat betrieben wurde. Der Eigner hatte denen das Boot zur Verfügung gestellt. Und die hatten eben nur einen Kapitän und einen Maschinisten, aber keine Rettungscrew mit medizinischem Hintergrund. Das haben wir dann organisiert. Dann haben wir mit Seawatch zusammen die MS Thompson für eine gewisse Zeit betrieben. Die hat Seawatch dann übernommen. Das ist auch so ein schnelleres Schlauchboot, das schwerpunktmäßig in der Ägäis vor Lesbos tätig war. Und wir haben noch ein Schlauchboot angeschafft, das auf Chios mit spanischen Seenotrettern zusammenarbeitet. Es gab Einsätze, bei denen Boote mit über hundert Leuten mit Schwimmwesten versorgt wurden. Und die gab es nicht nur einmal. Also man kann schon sagen, wir haben bei mehreren hundert Leuten die Chancen erhöht, nicht im Meer zu ertrinken.
Wie gefährlich waren diese Einsätze auf dem offenen Meer?
Wenn wir Nachricht von Booten bekamen, sind wir mit Schwimmwesten und warmen Decken ausgerückt und haben geschaut, ob es Kranke oder Verletzte gibt. Die haben wir dann auf die Minden geholt, alle anderen haben Schwimmwesten bekommen. Bei rauher See war es immer eine heikle Sache, weil man sehr nah an die Boote heran muss. Aber auch bei ruhiger See gab es immer wieder Momente, in denen die Leute panisch wurden und versucht haben, auf unser Schiff zu kommen. Da muss man schon vorsichtig sein und manchmal sogar abdrehen. Denn wenn alle Flüchtlinge auf unser Boot kommen, kippen beide Boote um. Da gibt es also schon emotional anstrengende Situationen. Auf einem Boot haben wir nur noch Tote gefunden, das war für unser Team eine sehr harte Erfahrung. Die mussten wir zurücklassen und melden, dass wir dort Leichen entdeckt haben.
Dieses Jahr ist ein neues Projekt an den Start gegangen. Ende Mai habt ihr ein mobiles Krankenhaus in Betrieb genommen. Wir funktioniert das?
Die Idee hatten wir schon länger. Ende 2014 haben wir angefangen, Hilfskräfte vor Ort in Rojava auszubilden. Und parallel haben wir in diesen Ausbildungsmissionen die Zeit genutzt und haben uns die lokalen Strukturen für die medizinische Versorgung genau angeschaut. Und da wurde schnell deutlich, dass der IS viele Kliniken und Krankenhäuser auf dem Rückzug mit Sprengfallen versehen oder mutwillig zerstört hatte. Deshalb war klar, wenn man hier helfen will, braucht man mobile Einheiten, die sich mit der Front verschieben können. Und so ist die Idee entstanden, eine mobile Krankenhaus-Einheit zu bauen.
Wie sieht dieses mobile Krankenhaus aus?
Das sind zwei große Magirus-Deutz-Lkw. Der eine hat hinten eine große „Kiste“ drauf, in die wir Regale eingebaut haben, in denen für die verschiedenen medizinischen Notwendigkeiten alles drin ist. Der zweite Lkw ist ein ehemaliges Rüstfahrzeug vom BRK aus Bayern. Da ist ein Generator eingebaut, außerdem sind dort Werkzeug, Ersatzteile und solche Sachen verstaut. Beide Lkw haben große Anhänger mit Platz für Wassertanks, ein kleines Fahrzeug oder weiteres Material. Dazu kommt noch ein Begleitfahrzeug für kleinere Touren, das wir aber auch als Fluchtfahrzeug einplanen, wenn es brenzlig wird. Das Fahrzeug-Ensemble wird durch sechs schnell aufbaubare Zelte ergänzt, die man einzeln nutzen, aber auch sternförmig oder als langen Schlauch aufbauen kann. Momentan gehören sechs bis acht Leute zur Besatzung, wenn wir weiter von der Frontlinie entfernt sind, werden es dann zehn bis zwölf sein. Ärzte, Rettungssanitäter, Pflegekräfte, aber auch Fachleute für Technik und Logistik. Die kümmern sich dann um die Solaranlage oder die Wasserversorgung.
Wo ist das mobile Krankenhaus aktuell im Einsatz?
Das steht momentan im Nord-Irak. Anfang Juni wurden die ersten Betten im Traumastabilisationspunkt belegt. Und zwar in West-Mossul, kurz hinter der Front. Die Altstadt ist noch unter Kontrolle des IS, deshalb mussten wir eine ganze Weile warten, bis der Standpunkt feststand. Dort werden jetzt Patienten von der Front eingeliefert, Blutungen werden gestillt und die Verletzten soweit stabilisiert, dass sie in weiter entfernte Krankenhäuser gefahren werden können. Viele Patienten würden ohne diese Erstversorgung den Transport ins Krankenhaus nicht überleben.
Woher bekommt ihr das nötige Geld?
Die Grundidee von Phoenix war, die humanitäre Arbeit durch den Verkauf von fair produzierten und ökologisch sinnvollen Sportklamotten zu finanzieren, weil viele in unserem Projekt sehr sportaffin sind. Durch diesen Shop sollte die Arbeit der NGO bezahlt werden. Das war eine Idee, die sich aber schnell als nicht durchführbar erwiesen hat. Jetzt finanziert sich unser Projekt allein durch Spenden. Allein im vergangenen Jahr haben wir etwa 130.000 Euro für unsere Arbeit sammeln können. Wir kommen aber aus der subkulturellen Szene und haben dort auch unsere Kontakte, deshalb ist unklar, ob das so weiterlaufen wird. Denn die Leute haben nicht so viel Geld übrig, dass sie jedes Jahr so viel geben können. Deshalb wollen wir jetzt vermehrt an die Öffentlichkeit gehen und für unser Projekt werben.
Ist noch ein weiteres Projekt in Planung?
Wir arbeiten schon länger an einer E-Learning-Plattform, mit der wir Leute vor Ort ausbilden können, weil es immer schwieriger wird, Mitarbeiter über die Grenzen ins Kriegsgebiet zu schicken. Wir haben ein Netzwerk von Medizinern, die mit uns diese Ausbildungseinheiten erarbeiten und sie ins Kurdische und Arabische übersetzt haben. Das ist eine Idee für die Zukunft, denn sobald die dort Internet haben, können sie die Plattform nutzen. Und außerdem arbeiten wir an einem mobilen Krankenhaus 2.0 mit einem aufblasbaren OP-Zelt oder Container-Lösungen für die fünffache Grundfläche der Einrichtung. Wir wollen eine stationäre medizinische Einheit schaffen, die in vier bis fünf Stunden aufgebaut werden kann und voll funktionsfähig ist. Wir beteiligen uns außerdem an einem Forschungsvorhaben hier in Berlin, bei dem Open-Source-Diagnosegeräte entwickelt werden. Also Ultraschall- oder Röntgengeräte, die nicht von großen Herstellern produziert werden. Für deren Geräte ist vor Ort keine Wartung möglich und die Hochschulen wollen deshalb eine alternative Lösung schaffen, so dass man Leuten einen Bauplan an die Hand gibt, damit sie die Geräte auch selbst reparieren können.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #133 August/September 2017 und Wolfram Hanke