Im Programm von Topshelf Records finden sich viele Bands, die in der Tradition einer speziellen Art von Musik aus den Neunziger Jahren verankert sind. Präziser: in einem Sound, der Assoziationen zu Hornbrillen weckt, dem Weinerlichkeit vorgeworfen wurde, den man damals als „Emo“ bezeichnete. BRAID, 1993 in Champaign, Illinois gegründet, sind eine davon. Und „No Coast“, ihr erstes Album seit „Frame & Canvas“ von 1998, schrieb die Band in der Formation von vor der Jahrtausendwende und landete passenderweise damit selbst auf Topshelf. Sänger Chris Broach sprach mit uns über die Gegenwart und auch die Vergangenheit der Band.
Chris, in wie vielen Fällen gebt ihr Leuten Interviews, die das machen müssen und sich gar nicht für euch interessieren? Wie viele, schätzt du, sind echte Fans von euch?
Ich glaube, es gibt immer noch einen recht hohen Prozentsatz an Leuten, die uns kennen und mögen. Das merkst du ja schnell. Es kommt sogar vor, dass sich Leute was beweisen wollen und versuchen, dich in eine Ecke zu drängen, aber das passiert eher selten. Aber ich nehme an, so um die 90% mögen uns wirklich. Unter diesen Leuten gibt es durch das neue Album auch viele neue Fans und weniger Leute, die uns schon seit längerem mögen. Ein Haufen junger Kids mag unsere Band, die uns nicht schon fünfzehn oder zwanzig Jahre kennen können. Denn als wir uns Ende der Neunziger aufgelöst hatten, waren die noch sehr jung oder nicht geboren. Das ist super, denn es bedeutet, dass unsere Platten die Leute auch noch Jahre danach ansprechen.
Es hat sich in der Hinsicht ja auch viel geändert. Dadurch, dass es weniger richtige Print-Fanzines gibt und die Underground-Musikszene generell professioneller wurde.
Klar! Das ist in vielerlei Hinsicht auch besser, denn heute fragt mich keiner mehr Sachen wie, was mein Lieblingsessen ist oder so was. Meistens sind es wirklich berechtigte, gute Fragen. Nicht dass es nicht passend ist, dass mich jemand fragt, was ich gerne esse, aber solche komischen Interviews habe ich früher gegeben und mache das nicht mehr so gern. Außer jemand hat ein süßes Fanzine, in dem es um das Lieblingsessen von Musikern geht.
Wie und wann fing es mit BRAID damals an und wann wusstet ihr, wie ihr genau klingen wollt?
BRAID wurde in Champaign/Urbana, Illinois von Bob Nanna und Roy Ewing gegründet. Jay Ryan spielte kurz Bass, dann stieg Todd Bell, der ein alter Freund von Roy ist, ein. BRAID hatten einen anderen Gitarristen, Pete Havranek, der die ersten acht Monate oder so spielte, und ein Mädchen namens Kate sang kurz mal in der Band. Das Line-up der Band kristallisierte sich im August 1994 raus, als ich in die Band einstieg und Pete die Band verließ. 1997 verließ uns Roy in aller Freundschaft und Damon kam. Das ist bis heute das Line-up. Roy machte uns durch die Art, wie er spielte, verschroben und eigenartig, jazzy und unkonventionell. Es gab einen Haufen Leute, die das super fanden, aber Damon brachte uns den Rock zurück und in eine etwas härtere und rockigere Schiene. Es war übrigens „A dozen roses“, das wir gemeinsam in dieser Konstellation schrieben. Todd, Bob und ich spielen also seit 1994 zusammen, wobei es immer wieder mal Pausen gab. Mit Damon machen wir jetzt auch schon seit 17 Jahren Musik.
Wie würdest du eure Musik jemandem beschreiben, der nicht in der Subkultur verankert ist, ohne Begriffe wie „emotional“ oder „komplex“ zu benutzen?
Am einfachsten ist es heute, ihnen zu sagen, sie sollen es sich mal anhören. Aber ich wusste und weiß bis heute nicht, wie ich uns manchen Leuten beschreiben soll. Zum Beispiel fragte mich eine Freundin meiner Mutter, welche Musik wir machen, und ich sage dann einfach, es ist „Alternative“ und dass es ihr gefallen könnte. Oder ich sage, wir sind „punkig“. Ich würde ihnen erklären, dass es eine spezielle Szene gibt, die solche Musik, wie wir sie machen, mag, und dass es aber nichts ist, was die Masse anspricht.
Sagen wir mal, ihr würdet plötzlich Musik machen wollen, die sich erheblich von eurem jetzigen Sound unterscheidet. Würdet ihr eine Platte als BRAID aufnehmen oder fühlt ihr euch eurem Publikum verpflichtet, die von euch einen bestimmten Sound erwartet?
Ich mag mittlerweile die verschiedensten Arten von Musik. Das heißt aber nicht, dass ich all meine Vorlieben auch selbst musikalisch umsetzen muss. Ich mag elektronische Musik mittlerweile sehr gerne und diese Mischung aus Rock und Elektro. Das funktioniert aber mit BRAID nicht. Um das auszuleben, habe ich die Nebenprojekte THE FIREBIRD BAND und L’SPAEROW. Bob macht auch Sachen, wo er elektronische Elemente mit einbringt, aber auch das wollen wir mit BRAID eben nicht machen, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich schließe es nicht vollkommen aus, aber ich sehe es nicht kommen, dass BRAID plötzlich mit einem Drumcomputer oder Synthesizer arbeiten. Solche Diskussionen gab es schon, aber es lief immer darauf hinaus, dass man sich das für Nebenprojekte aufsparen sollte. Ich erinnere mich, dass ich 1998 vorgeschlagen habe, für einen BRAID-Song einen Drumcomputer zu nehmen. Das haben alle abgelehnt und gesagt, ich soll mir das für meine Solosachen aufheben. Wir sind musikalisch mittlerweile alle verschieden gepolt, aber wenn jemand was im Rahmen von BRAID ausprobieren will, ein Sample hier und da, dann würden wir das versuchen. Die Idee, nach BRAID zu klingen, ist für uns einfach: Die Art, wie wir vier mit all unseren verschiedenen Einflüssen zusammenkommen und Songs schreiben, definiert uns. Wir müssen uns nicht extra anstrengen, nach BRAID zu klingen, egal, was unsere unterschiedlichen Einflüsse sind.
Was ist der Unterschied zwischen euch heute und in den Neunzigern?
Wir sind heute ein wenig entspannter. Wir müssen nicht mehr neun Monate im Jahr auf Tour gehen. Wir verstehen die persönlichen Eigenarten des anderen heute besser und geben uns mehr Raum – ob nun auf Tour, zu Hause oder wie man mit Sachen innerhalb und außerhalb der Band umgeht. Das heißt aber nicht, dass wir auf der Bühne nun anders sind. Wir geben immer noch alles, sonst würden wir das hier auch nicht mehr machen.
Ihr habt wahrscheinlich auch nicht mehr so viel Zeit, zusammen im Proberaum zu stehen und miteinander Songs zu schreiben?
Absolut. Wir benutzen dieser Tage entweder mein Haus als Proberaum – ich habe dort gerade begonnen, mir ein Studio einzurichten – oder einen Raum, den Bob gemietet hat. Wir werden aber bald in den Keller meines Hauses umziehen, wo ich mit meiner Frau und einem drei Monate alten Baby wohne.
Für „The Age Of Octeen“ und „Frame & Canvas“ seid ihr bestimmt ganz anders ans Songschreiben rangegangen als für eure letzten zwei Platten, oder?
Wir leben mittlerweile alle in verschiedenen Städten, also ist es schwer geworden, miteinander zu proben und zu schreiben. Aber wir bemühen uns, dass es hinhaut. Wir proben alleine und kommen dann zusammen und schreiben die Sachen gemeinsam fertig. Oder Bob und ich schreiben Sachen und bringen sie zum Rest der Band. Wenn wir alle mal für ein Wochenende zum Songwriting beisammen sind, schreiben wir auch gleich was an Ort und Stelle.Wichtig dabei ist, ein Song ist nicht komplett, ehe ihm jeder von uns seinen Stempel aufgedrückt hat. Also, wenn es einen Teil gibt, den Damon nicht mag oder der einfach mit dem Rest der Band nicht so klappt, wie Bob und ich uns das vorstellen, dann ändern oder verwerfen wir ihn. Das ist fantastisch. Wir arbeiten jetzt mit viel weniger Zeit, da wir mit all unseren anderen Verpflichtungen einfach weniger davon haben. Aber das gibt unserer Musik auch die Chance, zwischen den Sessions zu „atmen“, und so haben wir die Zeit, über die Songs nachzudenken und Veränderungen vorzunehmen, wenn wir uns wieder treffen.
Denkst du, dass man als erwachsener Musiker dazu tendiert, immer zugänglichere Musik zu machen, je älter man wird? Es kommt mir jedenfalls so vor, als wären viele Bands, auch so anfangs experimentelle Bands wie SONIC YOUTH oder POLVO immer eingängiger geworden. Oder übersehe ich nur, dass es das Gegenteil auch gibt?
Ich glaube, dass viele Bands über die Zeit ihr Handwerk verfeinern und es irgendwann draufhaben, die Songs zu schreiben, die sie schon immer wollten, die sie aber früher überfordert hätten, die zu eigenartig ausfielen. Also, ich verstehe schon, was du meinst. Aber ich denke nicht, dass irgendwer versucht, sich seine Kanten abzuschleifen oder seine Verschrobenheit abzulegen. Du wirst über die Zeit einfach nur besser darin, verschrobene und komplexe Strukturen in einen Song umzumünzen, der sich angenehmer hören lässt. Da nehme ich uns nicht aus.
Gibt es für dich eine Trennlinie zwischen Musik, von der du denkst, dass sie künstlerisch anspruchsvoll ist, und Musik, die geschrieben wird, um zu gefallen? Oder geht das für dich Hand in Hand? Ist das eine wertvoller als das andere? Denkt ihr über so was nach, während ihr schreibt oder zerstören solche Gedanken die Sache?
Interessante Frage ... Erstens denke ich nicht, dass es eine Trennung von künstlerisch anspruchsvoller und genießbarer Musik geben muss. Zweitens muss es nicht Hand in Hand gehen, aber wenn man beides unter einen Hut bringt, ist das die beste mögliche Art musikalischer Kunstfertigkeit. Das heißt nicht, dass ich eine gute und ernsthafte Avantgarde-Performance nicht durchweg genießen kann, es ist nur nicht immer sehr angenehm anzuhören. Es kann eine gute Erfahrung sein, aber manche Erfahrungen muss man nur einmal gemacht haben, so dass man sich denkt: Ich verstehe schon, um was es euch geht, aber ich muss es nicht noch mal hören. Drittens ist keines von beiden wertvoller für Leute, die das eine oder andere mögen. Ich bevorzuge es, wenn diese beiden Pole miteinander verwoben sind. Über längere Zeit höre ich Sachen, die sowohl innovativ als auch genießbar sind. Da sind bestimmt nicht alle so wie ich – schau dir nur mal so Sachen wie „American Idol“ oder diesen Scheiß an. Viertens, ich denke nie darüber nach, wenn ich schreibe. Ich achte immer darauf, was sich gut und richtig für das anhört, woran ich gerade arbeite. Wir sitzen nicht herum und denken: „Machen wir mal was total Anspruchsvolles und machen es zugänglich.“ Denn ich glaube, wir machen das von Natur aus. Ich behaupte keineswegs, dass wir die künstlerisch anspruchsvollste Band sind. Aber wir denken nicht darüber nach, was wir tun sollten, sondern wissen, wie wir die Sachen angehen müssen.
Was macht BRAID eher aus: eine gewisse Art von Musik oder die jeweilige Konstellation, in der ihr spielt?
Ein bisschen was von beidem. Aber tendenziell ist es die Art, wie ich und Bob interagieren und wie die anderen in diese Gleichung passen. Es gibt immer ein Tauziehen bei uns wegen all unserer verschiedenen Einflüsse. Diesmal haben wir allerdings ein bisschen anders gearbeitet. Bob und ich haben viel zusammen an den Texten gebastelt und an den Textzeilen, in denen sich unsere Stimmen vermischen. Vor allem bei dem Song „No coast“. Dafür haben wir eine Nacht lang in meinem Keller gesessen. Wir haben viel mehr Demos gemacht und mit Ideen herumgespielt. Textlich sowieso. Musikalisch haben wir das schon immer so gemacht, aber mit den Texten war es diesmal eher so, du nimmst den Teil, ich nehme den. Wir haben viel mehr miteinander gearbeitet.
Wo siehst du den größten Unterschied zwischen HEY MERCEDES und BRAID?
Der Unterschied bin ich, denn ich war nicht bei HEY MERCEDES. Aber wenn, hätten sie wohl wieder wie BRAID geklungen. Mit HEY MERCEDES verfolgten die anderen einen eigenen, aber ähnlichen Weg. Sie waren etwas glatter und es gab weniger Reibung als bei BRAID. Bei ihnen gab es keinen zweiten Frontmann. Bei HEY MERCEDES haben die anderen alle Bobs Ideen umgesetzt, aber ich bin sicher, dass der Songwritingprozess ähnlich war, jeder sein Stimmrecht hatte, genau wie bei uns, aber ohne die Spannungen. Ich kann nichts Schlechtes über die Jungs sagen, sie haben ihr Ding gemacht. Aber ich glaube, sie wussten, dass sie die Band ohne mich nicht BRAID nennen konnten. Ich habe mich damals lieber THE FIREBIRD BAND auf konzentriert und die Verschrobenheit gleich mitgenommen. Nicht dass ich es bin, der BRAID ausmacht, sondern wir vier miteinander. Aber bei uns gibt es einfach eine ganz andere Dynamik, als wenn jemand von uns fehlen würde. Ich glaube auch, als HEY MERCEDES startete, hatten sie vor, das Ganze etwas geradliniger zu gestalten, und das schien auch eine bewusste Entscheidung gewesen zu sein.
Wie denkst du, sowohl als Musiker als auch als Hörer, über Original-Line-ups?
Es ist mir egal, so lange es sich gut anhört. Aber es kommt auf die Band an. Sagen wir mal, FUGAZI würden ohne Guy zurückkehren: Es wäre nicht das Gleiche und ich wäre wohl nicht begeistert. Ich meine, wenn es irgendwie besser wäre, was ich bezweifle, dann von mir aus. Aber ich denke, dass Original-Line-ups weniger bedeuten, als die meisten glauben. Außer eine Person bringt etwas ganz Spezielles in die Band ein, was niemand ersetzen kann, wie es bei Guy der Fall ist. Ich bin gerade in DC, daher habe ich bei der Frage wohl speziell an FUGAZI gedacht.
Ich habe gelesen, dass ihr Wert auf eine starke Webpräsenz legt. Wie bleibt ihr mit eurer Hörerschaft in Kontakt und welche irren Begegnungen hattet ihr schon mit Fans der Band?
Wir sind uns eben bewusst, dass das heute absolut notwendig ist. Wir sind immer begeistert, wenn wir etwas online über Social-Media-Kanäle anzukündigen, die Reaktionen der Leute zu sehen. Es ist wichtig, mit Fans in direktem Kontakt zu stehen. Wir hatten schon einen Haufen verrückter Begegnungen, aber darüber mag ich hier nicht reden. Auf jeden Fall mussten wir schon vor Leuten davonrennen, uns verstecken oder früher von irgendwo abhauen, um Verrückten aus dem Weg zu gehen. Keine extremen Verehrer der Band oder so, es waren einfach total Besoffenene oder total verrückte Leute, die uns zu nah gekommen sind. Das passiert aber nicht oft. Die meisten Leute sind ja nicht verrückt.
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