Billy Sedlmayr zog Anfang der Sechziger als Zweijähriger mit seinen Eltern von Chicago, Illinois nach Tucson, Arizona. 1976 gründete er als Schlagzeuger und gelegentlicher Leadsänger seine erste Punkband, THE PEDESTRIANS. Als diese sich auflösten, rekrutierte Rainer Ptacek 1979 Billy und Howe Gelb für GIANT SANDWORMS, aus denen später GIANT SAND wurden. Bis Mitte der Achtziger tourten sie erfolgreich durch die USA, dann schmiss Howe Billy aus der Band, weil dieser seine Drogensucht nicht in den Griff bekam. Es folgten die üblichen Stationen eines Süchtigen inklusive Entziehungskuren, Rückfällen, Knast, verprellten Freunden und enttäuschter Familie. Von 1988 bis 1997 saß Sedlmayr im Knast, und es sollte danach noch bis 2014 dauern, bis er endlich sein erstes Soloalbum „Charmed Life“ aufnahm. Das folgende Interview mit Billy, Gabriel Sullivan und Mary Ofthe Heartland führte ich Ende September 2015.
Billy, erzähl uns ein wenig über deine Kindheit und deine Teenagerjahre.
Billy: Kind in Tucson zu sein war toll damals, obwohl man es kaum als Stadt bezeichnen konnte. Ich und meine Freunde waren den ganzen Tag draußen, bei 44 Grad im Schatten, wir fuhren Fahrrad, spielten in ausgetrockneten Flussbetten, auf Farmwiesen, ritten auf Pferden, gingen schwimmen, spielten Basketball. Mit Musik kam ich sehr früh in Berührung, im Alter von sechs hörte ich bereits oft und gerne Schallplatten.
Wann fingst du mit dem Schlagzeugspielen an?
Billy: In der fünften Klasse. Laut meiner Mutter hörte ich einfach nicht mehr auf davon zu reden, dass ich wie Ringo Starr sein wollte, haha. Ich hatte Glück, dass meine Familie zur gehobenen Mittelschicht gehörte. Als ich zehn war, kaufte mein Vater mir ein orangefarbenes, glitzerndes Ludwig-Schlagzeug, ich bekam Unterricht bei einem alten Jazzer und lernte Noten lesen. Anfangs war alles, was ich spielen durfte, irgendwelche Militärmärsche. Nicht so berauschend, aber ich wusste, dass Schlagzeugspielen mein Ding war. Irgendetwas lösten es in mir aus, es kam völlig natürlich. Ich weiß nicht, wie meine armen Eltern das jahrelang aushielten.
Mit THE PEDESTRIANS seid ihr Ende der Siebziger mal die Vorband der RAMONES gewesen, richtig?
Billy: Wir waren enge Freunde, die alle während der zehnten Klasse anfingen, zusammen Musik zu machen. Außer mir waren das Dave Seger und John Venet. Wir probten an den Wochenenden im Haus meiner Eltern. Als ich in der elften Klasse war, flog ich von der Highschool, und konzentrierte mich fortan nur noch auf die PEDESTRIANS. Wir wussten, dass wir etwas Besonderes waren und holten Chris Cacavas, der später bei GREEN ON RED war, als Keyboarder in die Band. Wir brannten wirklich für diese Musik, die als Punk bekannt werden sollte. Wir fühlten, dass wir etwas Neues und Spannendes machten. Der Support für die RAMONES war der Höhepunkt für uns als Band. Wir bekamen, glaube ich, nur 150 Dollar für den Gig, aber für uns war es riesig.
Wie ging es danach mit GIANT SANDWORMS los?
Billy: THE PEDESTRIANS hatten sich aufgelöst und ich traf Rainer Ptacek in einer Bar. Als wir uns eine Weile unterhalten hatten, fragte er, ob ich Lust auf eine Jamsession bei ihm hätte. Wir hörten gar nicht mehr auf zu spielen, er haute mich völlig um, die Chemie stimmte und wir hatten so viel Spaß zusammen. Das nächste Mal brachte ich Dave von den PEDESTRIANS mit, Rainer schleppte Howe Gelb an, den er ebenfalls gerade kennen gelernt hatte. Das war um die Jahreswende 1979/80. Es hatte was, obwohl wir vier völlig verschiedene Persönlichkeiten waren. Es gab ein paar Bars in Tucson, die Punkbands buchten, und wir fingen an, Auftritte zu bekommen. Wir wollten es unbedingt schaffen, arbeiteten hart und probten ununterbrochen. Rainer war der Älteste, er behielt das Ziel im Auge. Der Kopf der Band, immer bescheiden, nie ein Kontrollfreak. Irgendwann dachten wir, dass wir alles erreicht hätten, was man in Tucson erreichen konnte. Wir wussten, dass wir gut waren, unsere 12“ „The White Album“ kam sehr gut an. Leider war Tucson nicht „hip“ genug, um den Durchbruch wirklich zu schaffen. Wir dachten, dass New York der bessere Ort für unsere Musik wäre. Rainer beschloss, nicht mitzukommen, sein erster Sohn war gerade geboren worden und er hatte das Gefühl, bei seiner Familie bleiben zu müssen. Also zogen ich, Dave und Howe davon. Es war alles, wovon ich jemals geträumt hatte. NYC machte uns noch besser, und dann zerstörte es uns.
Rainer Ptacek genießt nach wie vor großen Respekt. Warum erinnern sich so viele Leute an ihm?
Billy: Rainer war freundlich, aufgeschlossen, liebenswert, engagiert, vielleicht ein klein wenig mysteriös, aber echt. Dazu kamen seine musikalischen Fähigkeiten und sein Ehrgeiz. Er war viel weiter als der Rest von uns. Er machte nie einen auf Besserwisser und versuchte nie, mir den Blues aufzudrängen. Wir teilten die Liebe für Soul und R&B. Rainer hat mit so vielen Bands gespielt und ist auf unzähligen Aufnahmen zu hören. Er war wie ein großer Bruder für die Szene. Mit ihm zu spielen war der Wahnsinn, weil er Musik so sehr liebte. Sie bewegte ihn, bis zu einem Punkt, wo das Publikum einfach mitgehen musste. Viele Kids waren damit beschäftigt, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, weil das angeblich zum Punkrock-Regelbuch gehörte. Rainer war nicht auf der Suche nach Aufmerksamkeit oder sich selbst. Er war da wegen der Musik.
––––––––––––––––––––––––
1987 war Billy zur Gast bei der Radiomoderatorin Mary Ofthe Heartland (heute „The Heartland Hootenany“, 99pluskfmh.com). Aus dieser Begegnung wurde eine enge Freundschaft, die bis heute anhält.
Mary, wie lerntest du Billy kennen?
Mary: Ich hatte von Billy durch meinen damaligen Freund gehört, der Roadie bei den PEDESTRIANS gewesen war. Unsere Freundschaft begann, als Billy ins Gefängnis kam. Ich kannte ein paar ehemalige Häftlinge und war mir sicher, dass er sich über Post freuen würde. Ich kann nicht sagen, was mich bewegte, ausgerechnet ihm zu schreiben, von all den Leuten, die ich flüchtig kannte und die im Knast landeten. Für manche Dinge gibt es keine einfache Erklärung.
Billy, wenn du heute an den 1. Januar 1988 denkst, wie hat sich dein Leben als Künstler geändert nach dem langen Gefängnisaufenthalt?
Billy: Völlig! Während ich saß, hatte ich wenig Kontakt zur Außenwelt. Ich fing an, Sachen wie Gram Parsons, Richard Thompson, traditionelle Folk-Musik und alten Country & Western zu hören. Es gab keine große Auswahl im Knast. Ein paar Mixtapes mit altem Blues, das war’s dann auch. Rainer hatte mir eine Kassette aufgenommen, nach der ich die Gitarre stimmen konnte, und so begann ich, mir langsam selber das Spielen beizubringen. Der Knast war auch der Ort, wo ich mit dem Schreiben anfing, unter Leitung von Professor Dick Shelton, in dessen Workshops für kreatives Schreiben. Ich lernte dadurch, meine Gedankenflut in den Griff zu kriegen, Worte zu finden für Dinge, die ich vorher nicht beschreiben konnte. Shelton war für mich eine riesige Inspirationsquelle im Gefängnis. Ich fing nicht nur an, Songs zu schreiben, sondern auch Gedichte, Kurzgeschichten, Essays ... Das Schreiben war mein Zufluchtsort im Knast. Nach meiner Entlassung wurde ich sehr krank, eine Knocheninfektion, die mich einen Großteil meiner linken Hüfte kostete, meine Tage als Schlagzeuger waren vorbei. Das hat mich eine Zeit lang echt fertiggemacht. Ich griff zur Gitarre, die Songs mussten raus. Ich bin nur ein durchschnittlicher Gitarrist, ich spiele so, wie ich früher Schlagzeug spielte, sehr perkussiv. Die Live-Auftritte änderten sich genauso. Vorne zu stehen als der Songwriter war völlig anders, verglichen damit, hinten als Schlagzeuger zu sitzen. Früher als Drummer legte ich das Fundament für die Musik, jetzt saß ich im Cockpit, musste den Sound entwickeln und die Richtung vorgeben. Es war ein Wahnsinnsunterschied für mich, viel Lernen durch Fehler machen. Mein größter Moment war, noch einmal zusammen mit Rainer spielen zu können, nach meiner Entlassung, kurz vor seinem Tod. Wir spielten meine Songs und es schien, als ob es ihm gefiel, was ich machte. Der Gig war unglaublich wichtig für mich und ich bin dankbar dafür, dass er mich noch als Songwriter erleben konnte. Ein wenig fühlte es sich so an, als ob ich seinen Segen bekam.
Mary: Was Billy von seinen Weggefährten unterscheidet, ist sein Geist. Sein Lebenswille ist einzigartig. Nicht nur physisch, obwohl er alle möglichen gesundheitlichen Probleme überlebte, die andere längst ins Grab befördert hätten, nein, auch seine psychische Zähigkeit. Sein Wunsch, Wahrheit zu verspüren und zu empfinden ist echt. Vielleicht ist es das, was unsere Freundschaft und gegenseitige Bewunderung ausmacht. Es gibt nichts, das ich nicht mit ihm teilen kann, und kein Geheimnis von mir, das er nicht für sich behalten würde.
Billy, nachdem du wieder draußen warst, hast du zwei Alben zusammen mit Rich Hopkins veröffentlicht.
Billy: Richard und ich sind zusammen aufgewachsen. Während ich im Knast saß, hatte er ziemlichen Erfolg mit den SIDEWINDERS und SAND RUBIES. Er kam nach meiner Entlassung vorbei. Wir saßen einfach mit unseren Akustikgitarren da und spielten stundenlang. Wir fingen an, aus meinen Geschichten und Notizen aus der Knastzeit Texte zu entwickeln, außerdem hatte ich dort bereits 25 bis 30 Songs geschrieben. Die ersten beiden Alben fühlten sich fast kathartisch an. Das dritte, „The Fifty Percenters“, war ein Greatest-Hits-Album, die besten Songs aus den beiden vorherigen Alben und ein paar neue dazu. Ich bin sehr stolz auf die CD. So lernte ich Michael Davis von MC5 kennen, und trat sogar mit ihm zusammen auf. Als Teenager war er mein Held, dieses ganze Detroit-Ding eben.
Ich habe auch gehört dass du eine Zeit lang Englisch-Unterricht für illegale Einwanderer gabst, die dir im Austausch Spanisch beibrachten, stimmt das?
Billy: Haha. Ja, als ich in Phoenix lebte. Einmal pro Woche, ungefähr ein Jahr lang. Mary holte mich da rein. Wir unterrichteten die „Illegalen“ in Englisch und sie brachten uns Spanisch bei. Dabei hingen wir einfach mit mexikanischen Kids ab und spielten Basketball. Das gehört zu den coolsten Sachen, die ich je gemacht habe. Ehe ich mich versah, sprachen wir Spanisch und konnten Witze reißen.
Du schreibst auch Gedichte und Kurzgeschichten. Wie unterscheidet sich die Herangehensweise dabei vom Songwriting?
Billy: Kurzgeschichten und Gedichte müssen sich nicht reimen. Songtexte zwar auch nicht unbedingt, aber es gibt immer ein Element von Rhythmus und Betonung, das berücksichtigt werden muss.
Und was entsteht zuerst, die Worte oder die Musik?
Billy: Unterschiedlich, manchmal kommt die Musik zuerst. Ich finde einen Groove auf der Gitarre und schaue, wo er hinführt. Ich fühle mich allerdings inzwischen genauso zum Schreiben hingezogen wie zum Komponieren. Manchmal weiß ich nicht, ob aus dem, was ich gerade schreibe ein Song oder eine Geschichte wird. Manchmal bin ich mir sicher, es ist ein Gedicht, und dann verwandelt es sich doch in einen Song, fragt nach einer Melodie. Ich bin dann selbst überrascht. Es gibt kein besseres Gefühl, als einen guten Song fertig zu haben.
Mary: Ich glaube, dass Menschen, die Musik lieben, seine Art Songs zu schreiben und seine Leidenschaft zu würdigen wissen. Es gibt genug Menschen, die gute Songs schätzen, die sie mit auf die Reise nehmen!
Kannst du mir was erzählen über die Ideen hinter Songs wie „The desert is no lady“, „Monsoons, Florence“ und „Tucson kills“, der ja fast dein Signature-Song geworden ist?
Billy: „The desert is no lady“ ist inspiriert durch ein indianisches Gedicht. Die Wüste kann großzügig zu dir sein, hält deine Knochen warm, wenn an anderen Orten alles friert. Wenn ihr aber danach ist, schlägt sie zu und bringt dich in Sekundenschnelle um. Widersprüchlich, atemberaubende Sonnenuntergänge, ein intensiver und inspirierender Ort. „Monsoons, Florence“ handelt vom Monsun-Regen, während ich im Knast von Florence saß. Es regnete in meine Zelle hinein. Der Wüstenregen brachte den Geruch des Kreosot-Buschs mit, das riecht wie Teeröl. Das erinnerte mich an meine Kindheit, und an die Freiheit, die ich damals besaß. „Tucson kills“ schrieb ich erst nach meiner Entlassung. Das Stück kam mir eines Morgens einfach zugeflogen und floss aufs Papier binnen Minuten, es fühlte sich fast so an, als sei ich nur das Sprachrohr von etwas Größerem.
––––––––––––––––––––––––
Vor fünf Jahren begegnete Billy in Tucson dem Musiker und Produzenten Gabriel Sullivan. Ein Treffen, das sich als Glücksfall für beide erweisen sollte. Künstler und Produzent spürten beide, dass Gabriel früher oder später ein Album mit Billy produzieren würde. Durch seine Erfahrungen in unterschiedlichsten Line-ups wusste Gabriel genau, welche Musiker er für das Projekt wollte.
Wie genau entwickelte sich eure Zusammenarbeit?
Gabriel: Mein Vater spielte hin und wieder „The Fifty Percenter“. Ungefähr zur selben Zeit, als ich die Songs hörte, ging das Gerücht um, dass Billy auf der Suche nach Gigs sei. Ich lud ihn ins Red Room ein, wo ich für das Booking verantwortlich war. Billy bat mich, meine Gitarre zum Auftritt mitzubringen, ich begleitete ihn bei ein paar Songs und seitdem spielen wir zusammen. Es ist großartig, mit ihm abzuhängen, und genug Zeit zu haben, so dass er seine Geschichten erzählen kann, wo jeder einzelner Song herkommt. Er ist vor allem eines – ein Dichter. Seine Texte sind mindestens genauso wundervoll auf Papier, vielleicht sogar schöner, als wenn man sie mit Musik unterlegt. Er kann mit einer einzigen Zeile dein Herz brechen.
Billy: Gabriel ist so talentiert, spielt fast jedes Instrument, weiß, wie Musik zu klingen hat, ist clever, arbeitet hart, das ganze Paket. Wir machten die Vorproduktion von den Songs, an denen ich seit der Entlassung herumgefeilt hatte, bei ihm zu Hause. Er fügte Rhythmus hinzu und half mir sicherzustellen, dass das Material diesen authentischen Tucson/Hispanic-Sound bekam. Unbeschreiblich, was er für mich getan hat, und was er alles aus mir herausholte.
Wann bist du das erste Mal THE MOTHER HIGGINS CHILDREN’S BAND begegnet?
Billy: Die Jungs sind Tourmusiker von Gabriel und Howe Gelb. Sie sind jung und talentiert und bereichern unsere Gigs. Es ist mir eine Ehre, mit ihnen zu spielen. Inzwischen sind sie wie Brüder für mich. Während der Fünfziger war Mother Higgins eine Besserungsanstalt für minderjährige Jungen, mit einem schlechten und unheimlichen Ruf. Den Namen kennen auch heute noch viele Menschen in Tucson.
Wie lief die Kickstarter-Kampagne, die du zur Finanzierung deines Soloalbums initiierst hast?
Billy: Die Leute haben mich umgehauen. Einige haben bis zu 1.000 Dollar gegeben. Anstrengend war es auch und es blieb spannend bis zum Schluss, wir erreichten unser Ziel erst in der letzten Stunde. Letztendlich hat es funktioniert. Aber ohne Mike Sullivan, Gabriels Vater, dem Besitzer von Fell City Records, wäre das Album nicht erschienen. Ein toller Typ, der immer interessiert gewesen ist an meiner Musik.
Wie sind die Shows bisher gelaufen, die ihr gespielt habt, um „Charmed Life“ zu promoten?
Billy: Die Menschen in Tucson sind sehr gut zu mir gewesen und das Album kam super an. Wenn ich auftrete, singen die Leute mit. Es ist so cool. Es war ein schönes Gefühl, dass „Charmed Life“ so tolle Kritiken bekam. Es fühlt sich an, als ob ich irgendetwas richtig gemacht habe. Es steckt sehr viel von mir und meiner Geschichte in diesen Songs, und nach allem, was geschehen ist, spüre ich, dass die Musik mich noch nicht verlassen hat. Musik hat immer noch den gleichen Stellenwert, wie als ich auf dem orangenem Ludwig-Schlagzeug das erste Mal loslegte.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #123 Dezember 2015/Januar 2016 und Kent Nielsen
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #122 Oktober/November 2015 und Kent Nielsen
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #145 August/September 2019 und Kent Nielsen