BEI BEDARF

Foto

Die heiligen Regeln des Punk

Nach sieben Jahren melden sich BEI BEDARF mit einem neuen Album zurück. Warum es bis zur Veröffentlichung so lange dauerte und welche Herausforderungen bis dahin bewältigt werden mussten, erklärt die Band im Interview.

Was hat es mit dem Albumtitel „10 Jahre in 30 Minuten“ auf sich? Mein erster Gedanke war, dass es sich um eine Art „Best-Of“ handelt. Dem ist ja nicht so.

Marek: Fast! Wir feiern irgendwann in diesem Jahr noch unser zehnjähriges Jubiläum!
Atschy: Und dann dachten wir halt, lass mal eine Platte machen. Eine ordentliche Punk-Scheibe. Beachtet man die heiligen Regeln des Punk, darf die auch nicht länger als dreißig Minuten gehen.

Warum hat es sieben Jahre gedauert, bis ihr mit „10 Jahre in 30 Minuten“ wieder ein neues Album veröffentlicht habt?
Marek: 2016/17 ist die Hälfte der Band aus Berlin weggezogen, zwecks Arbeit und Uni. Bis dahin hatten wir die Songs zusammen im Proberaum geschrieben. Lukas kam mit einem Gitarrenriff an, ich hatte noch ein paar Wortfetzen auf irgendwelche alten Briefumschläge gekritzelt und so sind wir dann ins Songwriting eingestiegen. Das wurde dann aufgrund der Entfernung – Berlin, Kassel, Frankfurt am Main – deutlich weniger und wir haben uns praktisch nur auf den Gigs gesehen. Das ging so circa zwei Jahre und wir mussten uns erst mal neu aufstellen. Jeder hat dann für sich zu Hause Aufnahmemöglichkeiten geschaffen, aber irgendwie haben wir das „damals“ nicht so gefühlt. Alle hatten zwar gute Ideen, aber so richtig gute Songs sind nicht dabei rumgekommen. Im März 2020 wollten wir wieder auf Tour gehen, da hat dann die Pandemie voll reingehauen und wir haben das mit dem „Album nicht im Proberaum schreiben“ noch mal versucht.
Lukas: Wir haben zwischen den beiden Alben 2017 eine EP rausgebracht mit drei Songs. Die gab es aber nur online zum Streamen. Mit der Pandemie hatten wir aber von heute auf morgen auf einmal genug Leerlauf, den es mit Beschäftigung zu füllen galt.

Dann gehen wir etwas näher auf einige Titel des neuen Albums ein. In „Chemiebaukasten“ scheint der übermäßigen Konsum von Alkohol und Drogen eine tragende Rolle zu spielen. Gibt es einen besonderen Auslöser oder Hintergrund für diesen Text?
Marek: Eine spezielle Situation gab es so nicht. Viel mehr eine ganze Reihe von Situationen. Nach der Nachtschicht in die Bar mit anschließender Party, danach morgens in der Bahn sitzen und von allen „Bürgerlichen“ auf dem Weg zur Arbeit verächtlich angestarrt werden. Immer wieder aufs Neue der Versuch der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Feier- und Trinkverhalten. Mit vielen kleinen Schritten nach vorn, um dann am nächsten Wochenende wieder fünf Schritte zurück zu machen und wieder von vorne zu beginnen. Keine einfache Zeit, aber immerhin ist ein Song daraus entstanden.
Jacob: Ich habe den Song immer etwas autobiografisch gesehen. Wir alle hatten, glaube ich, relativ wilde Zeiten in unseren frühen Zwanzigern. Auch wenn wir alle noch immer gerne nette und gesellige Abenden mögen, sind wir doch ein bisschen erwachsener geworden. Für mich ist der Song dadurch ein Rückblick auf die Zeit, wo die Selbstreflexion und -einschätzung vielleicht noch nicht so gefestigt war, wie sie es jetzt ist.

In „Tourlaub“ geht es um die große Bedeutung des Konzertspielens für euch. Welche Auswirkungen hatte die zwangsbedingte konzertfreie Zeit während der Corona-Pandemie auf euch als Band ohne euer Lebenselixier Tour?
Jacob: Ich denke, für alle, nicht nur für Musiker:innen, war es eine Zeit, in der sie sich neu zurechtfinden mussten. Wie für viele war es bei mir zuerst auch schön und besonders, mal mehr Zeit für sich und auch zu Hause zu haben. Natürlich hat aber auf längere Sicht der Ausgleich gefehlt. Wir haben in der Zeit ja unser Album fertig gemacht und alle versucht, möglichst viel Musik zu Hause aufzunehmen, uns Dateien hin und her zu schicken, am Ende ist es aber natürlich nicht dasselbe.
Lukas: In positiver Weise auf jeden Fall das Entstehen des Albums. Ich glaube, hätten wir nicht diese Zwangsbremsung hingelegt, hätten wir unsere Zeit für die Band weiter ins Live-Spielen investiert. Und uns noch weiter auf den alten Songs ausgeruht, bis wir dann irgendwann keine Booking-Anfragen mehr bekommen hätten, weil keiner mehr das alte Zeug hören kann.
Marek: Nach der ersten Enttäuschung, dass die geplante Tour nicht stattfinden kann, habe ich mich ganz gut mit den Gegebenheiten arrangiert und die neue Freiheit genossen. Erst mal fand keine Uni und Arbeit statt, alles wurde entschleunigt. Je länger der ganze Scheiß jedoch ging, desto schlechter ging es mir psychisch. Kein geregelter Alltag, keine Konzerte spielen und besuchen. Freunde treffen fast nur draußen an der frischen Luft, aber auch sehr viel weniger. Aus all dem hat sich bei mir eine Depression entwickelt. Mit viel Unterstützung aus meinem Umfeld und nach einigen Gesprächen mit anderen Musiker:innen, denen es ähnlich erging, habe ich es dann geschafft, mir Hilfe zu holen. Das hat sehr, sehr gutgetan. Zu wissen, dass man nicht alleine ist.

Im Titel „Gedankenmessi“ scheint der Kopf eine wichtige Rolle zu spielen und was darin auch mal schieflaufen kann. Marek erwähnte seine Depression bereits. Geht es in dem Song auch um psychische Erkrankungen?
Lukas: Der Text war so eine Reaktion auf das viele Grübeln, insbesondere zu Beginn der Lockdowns. Ich bin sowieso schon jemand, der gerne alles zerdenkt und zig mal hin und her wendet. Ohne die Möglichkeit der Ablenkung durch Freunde oder Hobbys hat das echt krasse Ausmaße angenommen und der Kopf wurde schwerer und schwerer. Dazu hatten dann noch einige im Freundeskreis auf einmal mit handfesten Depressionen zu kämpfen. Da habe ich gemerkt, was für eine heftige Wirkung das auf die Psyche hat, wenn auf einmal die ganzen, wahrscheinlich oft unbewussten, Coping-Strategien wegbrechen, die einen sonst mental stabil halten. Das als Freund zu begleiten und festzustellen, dass es die Person ohne professionelle Hilfe Tag für Tag tiefer und tiefer zieht, das war schon beängstigend. „Gedankenmessi“ ist irgendwie ein bisschen meine Quintessenz daraus.
Marek: Ja, da hast du einen guten Text geschrieben. Ich habe ich mich gleich darin wiedergefunden. Sprecht offen über das Thema Depression mit Freunden. Holt euch Hilfe, wenn es euch scheiße geht. Die Welt da draußen ist verdammt geil und hat so viel zu bieten. Die vielen lieben Menschen auf unseren und anderen Konzerten zu treffen, gibt uns verdammt viel zurück.