2006 besuchte ich ein Seminar für Anwält:innen, das sich unter anderem mit den medienrechtlichen Aspekten der Handy- und Smartphone-Nutzung befasste. Damals besaß ich noch ein kleines Nokia-Handy, in dem ich nur zehn Rufnummern einspeichern konnte und es sollte noch ein knappes Jahr dauern, bis das erste iPhone auf den Markt kam. MySpace war damals das populärste soziale Medium und Facebook noch ein kleines Portal für Ivy-League-Student:innen, das sich erst im September des Jahres für andere Nutzer:innen öffnen sollte.
In dem Seminar wurde jedenfalls davon gesprochen, dass wir in wenigen Jahren Smartphones ständig parat haben, darüber einen Großteil unserer Kommunikation abwickeln und diese neuen Geräte sowie soziale Medien unseren Alltag maßgeblich verändern würden. Als es schließlich in dem Seminar um lizenzrechtliche Aspekte von Pay-per-view-Filmdatenbanken ging und der Dozent davon sprach, dass wir in nur wenigen Jahren über unsere mobilen Endgeräte Serien und Filme gucken würden, habe ich einen Moment lang das winzige und grünlich schimmernde Display meines Nokia-Handys angeschaut und dann das Seminar vorzeitig verlassen, denn das klang für mich furchtbar abwegig. Warum um alles in der Welt sollte irgendwer Filme auf einem Mini-Display gucken, wenn es dafür größere Fernseher gibt? Tatsächlich denke ich häufig an dieses Seminar zurück und bewundere die Weitsicht der Dozent:innen. So ziemlich alles, was damals angesprochen wurde, ist exakt so eingetroffen, wie es bereits 2006 in Aussicht gestellt wurde.
Beruflich beschäftige ich mich mit Werbung, Kommunikation sowie Medienrecht und habe dadurch eine gewisse Vorstellung, wie Kommunikation und soziale Medien funktionieren. Natürlich weiß ich, dass für viele Nutzer:innen soziale Medien in erster Linie Plattformen sind, um sich zu produzieren. Natürlich weiß ich, dass die Algorithmen dieser Plattformen um mich herum eine Blase erzeugen, die mir eine homogene Umgebung vorgaukeln. Und natürlich weiß ich auch, dass soziale Medien ein Suchtpotenzial haben, da während deren Nutzung die Dopamin-Freisetzung im Gehirn erhöht wird, also Glückshormone ausgeschüttet werden, etwa wenn wir viele Likes auf einen Beitrag bekommen. Aber all dieses Wissen verdränge ich gekonnt, sobald ich soziale Medien nutze.
Einer der bekanntesten Werber Deutschlands, Jean-Remy von Matt von der Werbeagentur Jung von Matt, verursachte 2006 einen der frühen Shitstorms des Internets, indem er damals Blogs salopp als „Klowände des Internets“ bezeichnete. Die Klowände seien für ihn, so seine damaligen Erläuterungen, ein Synonym für „das Anpinkeln und Verpissen“, für Meinungsäußerung im Schutz der Anonymität, die er durch diese Überspitzung kritisierte. Dafür musste er sich schließlich öffentlich entschuldigen. Natürlich ist mir bewusst, dass Blogs und soziale Medien den egalitären Diskurs beförderten, ja sogar die Medienkultur demokratischer werden ließen und vor allem marginalisierten Gruppen eine niedrigschwellig erreichbare Stimme gaben. Dennoch fand ich schon damals und noch mehr heute, dass von Matt mit dieser Spitze richtig lag: Die Möglichkeit des anonymen Maulens im Internet veränderte den Diskurs zum Schlechteren. Was damals die Blogs waren, waren später in größerem Umfang die Leser:innen-Kommentarfunktionen der Online-Auftritte großer Medienanbieter. Dort überall zeigte sich in der Anonymität des Internets viel zu oft die hässliche und hassverbohrte Fratze der deutschen Gesellschaft, wo viel zu viele zu jedem beliebigen Thema stets ohne Zeitverzögerung ihre Meinung ungefiltert und unüberlegt hinausbrüllen. Und nach und nach spülte dieser Hass aus den Blogs und Kommentarspalten in die sozialen Medien, nachdem vor allem die Falschen früh das Kommunikations- und Propaganda-Potenzial dieser Plattformen entdeckten und für ihre Zwecke nutzten, wo disruptive Äußerungen mit Likes und von den Algorithmen mit Reichweite belohnt werden.
Auch ich nutzte lange soziale Medien; anfangs noch Facebook und Instagram, später fast nur noch Instagram, meist in einem moderaten Umfang. Dabei wurde ich irgendwann aber immer unzufriedener mit mir und meinem Medienverhalten, denn viel zu oft verbrachte ich viel zu viel Zeit damit, meinen Instagram-Feed durchzuschauen, sinnlose Video-Vorschläge anzugucken und mich dadurch von anderen Dingen, die ich an sich als sinnvoller erachte, ablenken zu lassen. Und viel zu oft saß ich spät am Abend im Büro und beneidete mein digitales Umfeld, das laut der Eigendarstellung auf Instagram irgendwie mehr Spaß und Aufregung im Leben zu haben und alles besser zu machen schien, angefangen bei großartig aussehenden Kochergebnissen, tollen Urlaubswanderungen bis hin zur kreativen Bastelei mit dem Nachwuchs. In diesen Momenten vergaß ich meist, was ich über die Funktionsweise von sozialen Medien wusste. Und irgendwann ertappte ich mich selbst dabei, mich auf Instagram zu produzieren, indem ich meine besonders raren Platten abfotografierte und zur Schau stellte, bloß um dafür Applaus zu erhaschen.
In meiner Abwägung der Vor- und Nachteile der Nutzung sozialer Medien überwog dennoch weiterhin für mich der positive Nutzen, denn als Plattensammler konnte ich mich mit anderen Sammler:innen austauschen, entdeckte auf diesem Weg viele Schallplatten, die ich davor übersehen hatte, hielt Kontakt zu Weggefährt:innen, stieß auf Skate-Videos meiner alten Heroen Natas Kaupas, Tom Knox und Ray Barbee und bestaunte Video-Parts von aktuellen Skater:innen wie Aurelien Giraud, Nyjah Huston, Lizzie Armanto oder Sky Brown, von denen ich zuvor nie Notiz genommen hatte. Doch dann kam 2020 Corona und kurz darauf der Irrsinn der Corona-Leugner:innen, der über Personen wie John Joseph, Chaka Malik, Craig Setari oder fehlgeleitete Bekannte auch den Weg in meinen Feed fand. Zunächst war es nur störend, als bei diesen Personen dann aber teilweise weitere Verschwörungserzählungen den klaren Blick auf die Dinge vernebelte, wurde es nervig und irgendwann auch belastend – aber irgendwie konnte ich mich dennoch noch nicht von Instagram lösen.
Als im Mai 2021 die Hamas mindestens 1.800 Raketen auf Israel schoss, zeigte der Antisemitismus sein hässliches Gesicht auch in der Hardcore-Punk-Community. Statt Israel als Opfer dieses kriegerischen Angriffs den woken Standards entsprechend beizustehen, gab es Attacken gegen das Angriffsopfer, die vielfach strukturell oder gar offen antisemitisch waren. Anfangs versuchte ich noch, darüber mit den Absender:innen zu kommunizieren, irgendwann fing ich hilflos an, immer mehr Personen zu blocken, und schließlich spülte der Instagram-Algorithmus ein „Free Palestine“-Posting von Dennis Lyxzén in meinen Feed, unter dem es ausschließlich problematischen Beifall und keinerlei Kritik zu lesen gab. Und spätestens in diesem Moment merkte ich: soziale Medien sind für mich plötzlich überwiegend toxisch geworden! In meiner Abwägung zur Nutzung überwogen nicht länger die positiven Erfahrungen und Momente. Folglich stellte ich nach dieser Erkenntnis unmittelbar meine Accounts bei Facebook und Instagram in den Schlafmodus und habe diese bis heute nicht mehr reaktiviert.
Anfangs fiel es mir schwer, den gewohnten Griff zum iPhone zu unterlassen, befürchtete gar, News, Konzertdaten oder irgendwelche Vorbestellungsmöglichkeiten für Schallplatten zu verpassen. Und natürlich verpasse ich tatsächlich viele Neuigkeiten, Konzertankündigungen sowie Preorder-Starts und habe zudem leider auch den Kontakt zu einigen Bekannten verloren. Aber irgendwann merkte ich, wie die negativen Aspekte der sozialen Medien aus meinem Leben verschwanden, wie gut das tat und wie zufrieden das tatsächlich machte. Ich konnte mich beispielsweise wieder lange auf Texte konzentrieren, guckte Filme ohne ablenkendes iPhone auf dem Schoß, las deutlich mehr Bücher und musste mich nicht mit abwegigen Sichtweisen von verblendeten Personen beschäftigen, die mir viel lange viel zu oft die Laune verdorben hatten. Oft hatte ich davon gelesen und es stimmte: mit weniger Bildschirmzeit am Abend wurde mein Schlaf tatsächlich auch viel erholsamer. Mit ein bisschen Arbeit und Aufwand bekomme ich mittlerweile vieles sogar wieder verlässlich mit: Ich habe einige E-Mail-Newsletter abonniert – wie den Ox-Newsletter – und mir Lesezeichen für Websites gesetzt, die ich ab und an aufrufe, um mich zu informieren, etwa lokale Konzertkalender. Und für den persönlichen Kontakt gibt es auch 2024 noch immer E-Mails. Natürlich verpasse ich dies und das weiterhin, aber das nehme ich gerne in Kauf.
Mit dem Ausschleichen der sozialen Medien aus meinem Alltag merkte ich schließlich nicht nur, wie diese Medien unsere Art der Kommunikation sowie des Disputes veränderten, sondern auch, wie wir Musik hören. Denn in den sozialen Medien werden Hypes um Bands generiert. Es gibt seit Instagram die Vorankündigung zur Vorankündigung (eine groteske Absurdität), gefolgt von der Vorab-Single zur Vorab-EP zum eigentlichen Album. Und am Ende entfernt sich das alles von der umfassenden Album-Idee hin zur medial geförderten Single – was in Summe gar nicht mehr weit weg ist von den Mechanismen der erzwungenen Hits der großen Musikindustrie oder Fernseh-Retortenbands.
Und selbst solche Singles unterliegen plötzlich neuen Zwängen: Spotify vergütet erst nach 30 Sekunden des Abhörens eines Songs, also darf ein Track sich nicht zu langsam aufbauen, damit die Hörer:innenschaft mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne nicht zu früh abspringt. Dann muss die Hook an der richtigen Stelle platziert werden, um bei der Reinhör-Funktion zum tatsächlichen Anhören des ganzen Songs zu animieren. Und schließlich sollte idealerweise alles noch derart kondensiert sein, dass ein Song sich zur Synchronisation unter ein Kurzvideo auf TikTok, YouTube oder Instagram legen lässt, denn wer den Weg in möglichst viele dieser Reels findet, kann auch als Hobby-Band einen Hit schaffen und damit selbst in Zeiten rückläufiger Tonträger-Verkaufszahlen richtig abkassieren. Über einen TikTok-Reel-Hit fand etwa – wenn auch sicherlich nicht erzwungen – der Song „Fahrradsattel“ von PISSE fast 78 Millionen Hörer:innen bei Spotify, was nach dem üblichen Spotify-Ausschüttungsmechanismus immerhin knapp 165.000 Euro entspricht und die Band sogar bis ins Programm von Jan Böhmermanns „ZDF Magazin Royal“ katapultierte.
Ohne all diese musikalischen Empfehlungsmechanismen sozialer Medien lese ich wieder mit größerer Aufmerksamkeit Reviews in Fanzines, wende Zeit auf, selbst musikalische Entdeckungen zu machen, und achte – wie früher als Jugendlicher – in den Dankes- und Grußlisten der Textbeilagen auf erwähnte Bands, um mich so durch die Flut der Neuerscheinungen zu hangeln. Natürlich verpasse ich ohne soziale Medien viele gute Bands und Veröffentlichungen, ich habe dadurch aber wieder mehr Zeit und Muße, mich mit den Veröffentlichungen, die ich auf diesem Wege mit etwas Energie und Arbeit entdeckte, auch wirklich zu beschäftigen statt sie bloß abzuhören, um dann sogleich wieder zur nächsten gehypeten Neuerscheinung zu hetzen.
Abgesehen von einem anderen Blick auf Reviews, sind ohne soziale Medien die meisten Fanzines für mich nicht mehr bloß die Zusammenfassung von allem, was ich durch Instagram und Co. schon längst wusste, sondern tatsächlich wieder ein wichtiges Informationsmedium geworden (im Ox etwa schlage ich seither als Erstes wieder die News-Seite auf), was mir wieder die Freude am ausgiebigen Lesen eröffnete. Mein neu entdeckter Enthusiasmus für Print-Zines lässt mich sogar uralte Ausgaben von Zap, Trust, Ox, Amok, Confrontation sowie No Answers, die im Laufe von vielen Umzügen verloren gingen, verschenkt oder entsorgt wurden, auf eBay nachkaufen, worin ich dann vor allem die Reviews nachlese, um meinen Blick auf alte Bands und Veröffentlichungen neu zu justieren.
Gut möglich, dass ich irgendwann wieder meine schlummernden Social-Media-Accounts reaktiviere. Hier und heute ist mein Leben ohne soziale Medien jedoch zufriedener, besser und deutlich produktiver. Wahrscheinlicher ist daher, dass auf meine zweieinhalbjährige Abstinenz eine noch viel längere folgen wird.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #172 Februar/März 2024 und Christian Unsinn