Anlässlich des fünfzigsten Geburtstags des 1971 erschienenen ersten Albums von FAUST, einer der wahrscheinlich einflussreichsten deutschen Krautrock-Bands, veröffentlicht Bureau B am 8. Oktober eine 8CD- und 7LP-Box, die sämtliches Material der Schaffenszeit von 1971 bis 1974 enthält. Neben dem selbstbetitelten Debüt sind die Alben „So Far“, „The Faust Tapes“ und „Faust IV“ enthalten, ebenso wie Aufnahmen für ein nie erschienenes Album, die 1974 in Giorgio Moroders Münchner Musicland Studios entstanden, und noch weiteres bisher unveröffentlichtes Material.
Schon rein ästhetisch stellte das erste FAUST-Album damals etwas ganz Besonderes dar, denn die auf durchsichtigem Vinyl gepresste Platte steckte in einem ebenfalls durchsichtigen Plastikcover, auf das der Schriftzug FAUST und eine Röntgenhand gedruckt waren. Außergewöhnlich war auch der Coup des 2007 verstorbenen Journalisten und Schriftstellers Uwe Nettelbeck, der für die Zeit und Konkret schrieb, der Polydor, einem Deutsche Grammophon-Sublabel, als Musikproduzent eine namenlose Band als deutsche BEATLES unterzujubeln versuchte, deren Musik aber dann jegliche Kommerzialität vermissen ließ. Offensichtlich war die Angst der Polydor, die die BEATLES Anfang der Sechziger einfach so hatten ziehen lassen, wieder etwas zu verpassen, so groß, dass sie FAUST sogar in einer alten Dorfschule in Wümme extra ein Studio einrichteten, wo diese lange an ihrem ersten Album herumwerkelten, was dann im November 1971 durch ein völlig missglücktes Konzert in der Musikhalle Hamburg gekrönt wurde. Als eine Art Bauernopfer musste anschließend der zweite Schlagzeuger Arnulf Meifert die Band verlassen, zu der damals noch Werner „Zappi“ Diermaier, Gunther Wüsthoff, Hans Joachim Irmler, Jean-Hervé Péron und Rudolf Sosna gehörten. Die FAUST-Story kann man auch schön im kürzlich erschienenen Buch „Future Sounds“ des Spiegel-Autors Christoph Dallach nachlesen. Im Folgenden erinnert sich Meifert, Jahrgang 1943, der danach auch noch weiter Industrial-artige Musik aufnahm und inzwischen als Experte für das Werk des Karl May-Konkurrenten Robert Kraft gilt, an seine kurze, aber bewegte Zeit mit dieser Band, die der britische Musiker Julian Cope in seinem Buch „Krautrocksampler“ als eine der mythischsten der damaligen Krautrock-Ära bezeichnete.
Arnulf, kürzlich erschien ja das Buch „Future Sounds“, in dem auch FAUST ein längeres Kapitel gewidmet ist. Ich weiß nicht, ob du das Buch schon gelesen hast ...
Ja, das liegt hier vor mir. Dallach ist auch so ein Kapitel. Ich fand das komisch, da ich überhaupt nicht berücksichtigt bin, denn er hat mit mir ein über einstündiges Interview gemacht. Ich war über das Ergebnis ziemlich entsetzt und ich habe mich auch beschwert darüber. Denn wenn man so lange mit jemandem redet und der fasst das dann in ein paar Gedanken zusammen, die vorne und hinten nicht stimmen, also die rein faktisch nicht stimmen, und im Buch ist man dann auch weggelassen .... Also ich fand, das war eine schwache Leistung. Denn alle anderen kommen vor – Rudolf Sosna lebt ja nicht mehr.
Auf jeden Fall wirst du erwähnt, zum einem von FAUST-Kollege Jean-Hervé Péron, der über dich sagt: „Arnulf Meifert war zum Beispiel immer der Politischste von uns allen. Der hatte immer explizite Meinungen zu allem und wollte alles diskutieren.“
Das ist nicht falsch. Ich war der Wachste, der Politischste. Vor allem war ich jemand, der Theorie und Praxis gleichzeitig bedenken konnte. Ich war niemand, der links geschwafelt hat und dann Kapitalisten-Knecht sein wollte. Aber die anderen waren dazu bereit, wie man an der weiteren Entwicklung der Band gesehen hat. Wenn Uwe mit irgendwas rüberkam, knickten die sofort ein, während ich Widerstand leistete.
Die damalige Zeit war ja durch die 68er-Bewegung und den Linksterrorismus der Rote Armee Fraktion politisch extrem aufgeladen. Wie wichtig war Politik damals für euch als Band?
Wir waren alle politisch, aber jeder wiederum auf seine individuelle Weise. Also was Theorie und Praxis angeht und wie weit man darüber reden wollte. Zappi und Jean waren eher die Macher, die wollten nicht diskutieren, die wollten nur einfach das Instrument nehmen und losklappern. Und Rudolf und Gunther waren irgendwie die „Hirnis“, sage ich mal, und Jochen und ich waren beides.
Das andere Zitat über dich stammt von Hans Joachim Irmler: „Arnulf hat immer gesagt, wir müssen mehr üben, und ich habe geantwortet: Was sollen wir denn üben? Leider hat es sich so entwickelt, dass Arnulf aus der Band geschmissen wurde. Er hatte schon großen Einfluss, denn er war nicht nur am ältesten, sondern auch am vernünftigsten, aber vielleicht eben auch ein bisschen zu vernünftig. Wer nur vernünftig ist, kommt nicht weiter.“
Ja, das ist gewissermaßen richtig. Ich mit meiner Erfahrung als Musiker aus meinen Münchner Jahren und meinem schon etwas gereifteren Alter wollte versuchen, das gelingen zu lassen, ich war ein Kämpfer. Aber Jochen hat inzwischen sehr viele andere Sachen gesagt, auch in dem Booklet zur neuen Edition. Da sagt er ähnlich, aber positiver, der Widerstandsvirus sei, nachdem ich weg war, von mir auf ihn übergesprungen. Er hat sich ja in England einmal beinahe geprügelt mit Uwe. Er war mit Uwe total über Kreuz und hat sich so wie ich in der Wümme-Zeit dann nicht mehr alles von ihm bieten lassen.
Wie war es überhaupt für dich, sich an Sachen erinnern zu müssen, die schon fünfzig Jahre zurückliegen und auch nicht zu den durchweg angenehmsten in deiner Biografie gehören?
Das Problem ist, ich schreibe ja Bücher, ich habe ein Riesenarchiv, ich halte Vorträge, Lesungen und so weiter. Und dann ruft plötzlich Gunther Buskies von Tapete und Bureau B an und sagt: Fünfzig Jahre FAUST, da wäre was zu tun. Und dann habe ich zu meiner Frau gesagt: Entweder ich mache mit oder ich mache nicht mit. Wenn ich nicht mitmache, erspare ich mir viel Arbeit, wenn ich mitmache, werde ich sicher ein halbes Jahr im Boxring stehen. Und so war es dann auch, es ist richtig in Arbeit ausgeartet. Ich muss allerdings sagen, ich habe auch ein paar Sachen entdeckt dadurch, die ich selber nicht wusste. Einmal durch Gespräche mit Hans Joachim Irmler. Und zum anderen habe ich meine Riesensammlung FAUST-Zeug durchgeguckt und bin auf ein Booklet der CD-Edition von „The Wümme Years“ gestoßen mit einem langen Text von Uwe Nettelbeck, dem FAUST-Manager. Und dadurch bin ich auf Sachen gekommen, die ich nicht wusste. Insofern bin ich auf einem neuen Stand meiner Beurteilung von FAUST und muss sagen, Nettelbeck ist jetzt in meinen Augen eine noch viel negativere Figur, als er das schon vorher war.
Wie lange hast du konkret mit FAUST zu tun gehabt? Mit Irmler und Diermaier hast du ja zuvor schon Musik gemacht.
Ja, ganz kurz, vielleicht zwei Wochen. Die FAUST-Zeit war ungefähr ein Jahr, mehr war das nicht. Wir haben uns ja erst in Hamburg kennen gelernt. Dann wurden wir zwischengelagert in Schwindebeck, in einer super Villa der Familie der Frau von Nettelbeck. Und dann war erst Wümme bereit. Da gab es ein Schulgebäude, das erst renoviert werden musste, da war keine Heizung drin und nix. Das Studio musste eingebaut werden. Die Wümme-Zeit selbst war dann vielleicht ein halbes Jahr.
Trotz deines Rauswurfs tauchst du ja namentlich noch auf dem ersten Album auf.
Ich bin auf der ersten und auf der dritten Platte, „The Faust Tapes“, dabei. Ich bin da natürlich befangen, aber für mich ist die erste auch die relevante. Die dritte enthält auch interessantes Material, aber die zweite, „So Far“, ist mir trotz aller trancigen Musik zu rockig, zu stromlinienförmig und zu angepasst. Die ist ja auch völlig unter dem Einfluss von Nettelbeck entstanden, während er bei der ersten überhaupt nichts zu sagen hatte. Und „Faust IV“ habe ich lange nicht gehört, da sagt Jochen aber auch, die sei sehr kommerziell. Mir geht es, wenn ich von FAUST rede, um die erste und die dritte Scheibe.
Wenn man nach deinen weiteren musikalischen Aktivitäten sucht, liefert einem das Internet nicht allzu viel. Irgendwo war aber folgendes zu lesen: „Arnulf Meifert, Schlagzeuger und Allround-Musiker, begann in den Sechzigern mit Jazz und Soul.“
Ja, damit sind meine Münchner Jahre gemeint. Ich habe ja autodidaktisch Schlagzeug gelernt und mich dann hochgearbeitet zur Crème de la Crème der Münchner Bands im Jazz-Bereich, aber auch im kommerziellen Bereich. Ich war dann bei einem Quintett, mit dem wir auf ganz großen Events gespielt haben, das war so eine Art Showband. Und ich habe mit drei schwarzen G.I.s Soulmusik in einer Kneipe gemacht, die hieß Tabarin. Wenn ich heute zurückschaue, war mir das musikalisch die liebste Zeit, muss ich sagen. Denn ich habe wahnsinnig gern alten Jazz gespielt, also New-Orleans-Jazz. Für mich hat das Musikmachen eigentlich nie aufgehört, ich habe es natürlich nicht so betrieben wie die anderen, aber auch die hatten ja eine lange Pause, bevor sie wieder zusammengefunden haben, da sind zehn, fünfzehn Jahre ins Land gegangen. Und heute sind sie alle verkracht.
Das klingt aber schon so, als ob du vor deiner Zeit bei FAUST, mit denen man ja oft etwas bewusst Dilettantisches verbindet, musikalisch bereits einiges draufgehabt haben musst.
Ich war wie gesagt Autodidakt und verglichen mit den heutigen Drummern technisch wahnsinnig schlecht. Aber ich habe geswingt wie der Teufel und habe dynamisch gespielt. Ich konnte mich einstellen auf die Art, wie man andere Leute begleitet, also Gruppen. Und so konnte ich mithalten und habe in der Regel immer mit besseren Leuten gespielt. Zum Beispiel kamen im Tabarin am Sonntagnachmittag die Musiker von Max Greger vorbei. Der hatte sich, um im Fernsehen gut dazustehen, Spitzenleute aus den USA geholt wie den Trompeter Benny Bailey, den Tenorsaxophonisten Don Menza oder den Schlagzeuger Pierre Favre. Die kamen am Sonntagnachmittag und haben gejammt, so dass ich mit der Crème de la Crème der internationalen Jazzstars spielen konnte. Da musste ich mich natürlich schon anstrengen. Heutigen Maßstäben würde ich sicher nicht mehr genügen, aber damals war das dank meines musikalischen Einfühlungsvermögens gut genug. So konnte ich da viel lernen, und das erklärt auch nachher mein Verhältnis zu den anderen Fäustlingen und zu Nettelbeck. Ich hatte einfach diese vielen Jahre Münchner Erfahrung. Ich war als Musiker ja auf zig Jazz-Festivals und so weiter gewesen. Ich wusste, was auf einen zukommt, wenn man einen Konzerttermin hat. Und ich wusste, was das bedeuten würde, wenn wir in der Musikhalle Hamburg auftreten. Ich wusste, was es heißt, eine Schallplatte zu machen.
Das Deutschland der Nachkriegszeit wird ja oft als kulturelles Vakuum bezeichnet, wo man sich vor allem an Sachen orientierte, die aus England und Amerika kamen. Wie hast du das damals erlebt?
Vor allem aus Amerika, und zwar auf allen Gebieten, ob es Literatur, Film, Comic oder Musik war, egal, ob Rock, Pop oder Jazz oder was auch immer, das strömte ein in eine abgeschnittene Kultur. Die Kultur war vollständig amerikanisiert. Die Nazis hatten dermaßen Tabula rasa gemacht, da war nichts mehr, es war alles kaputt. Ein Ex-G.I. wie der kürzlich verstorbene Bill Ramsey, der eigentlich Jazz-Sänger war, musste erst mal „Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe“ singen. Später hat er, als die Karriere als deutscher Schlager-Fuzzi vorbei war, dann wieder Jazz gemacht. Diese Leute standen auf völlig verlorenem Posten. Übrigens auch eine Caterina Valente, die war auch Jazz-Sängerin und eine sehr gute Gitarristin, aber sie musste Schlager singen.
Zu den Eigenheiten der FAUST-Geschichte gehört ja, wie euer damaliger Manager Uwe Nettelbeck der Band einen Plattenvertrag besorgte, indem er sie als deutsche BEATLES anpries. Wie hat man sich das vorzustellen?
Das kann ich dir genau sagen. Ich glaube, es war die Deutsche Grammophon, die hat damals die BEATLES zurückgewiesen und sich hinterher die Knöchel blutig gebissen vor Ärger. Und als Uwe die Sache mit der Grammophon klargemacht hat, haben die gedacht, jetzt müssen wir dabei sein, das dürfen wir jetzt nicht versäumen. Und sie haben sich bereit erklärt, bestimmte Versprechungen zu machen, die aber, das muss ich ganz deutlich sagen, nicht eingehalten wurden. Wir hatten ja zwei Dinge zugesichert bekommen: einmal, dass wir unzensiert blieben und zum zweiten, dass wir ein Jahr hätten, um etwas zu entwickeln. Beides wurde nicht eingehalten. Bei der LP konnte ich noch sagen, die kommt so, wie sie ist, oder sie kommt überhaupt nicht. Beim zweiten Punkt konnte ich mich nicht durchsetzen. Denn es wurde dann sehr schnell verlangt, dass eine LP kommt und dass ein Konzert gespielt wird, wo auf unsere Kosten aus der ganzen Welt Journalisten eingeflogen wurden. Insofern ist die Grammophon uns gegenüber wortbrüchig geworden. Es wurde gesagt, dass man sich nicht einmischt in unsere Produkte, aber das hat man dann trotzdem gemacht. Uwe wollte die erste Scheibe bearbeitet sehen und das war der erste große Krach zwischen ihm und mir, und aufgrund dessen musste ich nachher auch als Bauernopfer nach dem unseligen Hamburger Konzert die Gruppe verlassen. Er wollte mich los sein. Uwe war ein Salonsozialist, ein Salonlinker. Der wollte mit diesem Pseudo-BEATLES-Versprechen an die große Kohle ran, er war hinter dem Geld her ... Und das Verhalten der Geldschneider bei der Grammophon war irrational, das war eigentlich völlig selbstzerstörerisch.
Wie lässt sich in Folge die Genese der Musik erklären, die letztendlich auf dem ersten FAUST-Album zu hören ist?
Wir waren ja sechs verschiedene Leute und kamen alle aus ganz verschiedenen Lagern. Ich mit meiner Münchner Vergangenheit und die anderen mit nix, die kamen von der Akademie und hatten mit Musik relativ wenig am Hut gehabt, die hatten halt so ein bisschen rumdilettiert. Der Interessanteste war Jochen mit seiner selbstgebauten Orgel. Und wir sechs mussten jetzt einen gemeinsamen Nenner finden, weil wir kein Repertoire hatten, wir waren ja nicht eingespielt. Ich war noch, sage ich mal, technisch der relativ Beste, aber die anderen hatten auf ihren Instrumenten noch weniger Erfahrung. Jetzt mussten wir irgendeine Form finden. Und das ist das Besondere an FAUST. Die Form, die wir gefunden haben, waren wir selber. Wir haben unseren Kommunikationsprozess zu Musik gemacht, und damit endete es dann auch in dem Moment, als von außen Einflüsse kamen, von Nettelbeck und Rockmusik ... Die erste FAUST-Platte ist ja kein Rock. Da gibt es meinetwegen gewisse Rock-Elemente, aber das lag an den einzelnen Leuten. Rudolf war zum Beispiel absoluter Zappa-Fan. Rudolf war auch ein Fan von Arbeiterliedern aus den Zwanziger Jahren und Hanns Eisler, und Brecht-Musik und so was. Jochen war fasziniert von Sounds. Und dessen Ideal war: Ich stelle was ein an der Orgel, dann gehe ich weg und die Orgel entwickelt von selber etwas. Zappi hatte so eine urtümliche Art Schlagzeug zu spielen, so rudimentär barbarisch, während ich, sage ich mal, eher elegant war, was sich gut ergänzte. Gunther hat sich für Elektronik interessiert und rumgebastelt. Jean spielte Bass und Trompete und war insgesamt ein wahnsinnig freakiger Typ. Also hat jeder was anderes mitgebracht. Und wenn du so unterschiedliche Elemente in einen Topf wirfst und auf den Herd stellst, dann musst du sehen, was sich daraus ergibt. Und wo sollten wir auch hin, nachdem meine Generation die rosaroten oder halbbraunen Brillen verloren hatte nach der Abrechnung mit den Vätern? Es machte ja keinen Sinn, wie Little Richard spielen zu wollen, das hatten die Ted Herolds und Peter Krauses schon versucht und gemacht. Was blieb da noch?
Die Frage ist natürlich, kann Musik überhaupt so funktionieren?
Ja, wir haben es bewiesen. Und ich habe seitdem mehrere Schallplatten gemacht, die noch extremer nach diesem Prinzip entstanden sind und die so was wie einer faustischer Auffassung entsprechen. Das geht, Musik als Kommunikationsform. Ich habe in solchen Sessions sogar Instrumente gespielt, die ich gar nicht spielen kann. Jeder Mensch hat ein ungeheures Reservoir, und wenn man dieses anzapft, können unglaubliche Dinge entstehen.
Aber es stand jetzt nicht von Anfang an so ein avantgardistischer Ansatz dahinter, dass man alles, was es so an kompositorischer Lehre gibt, einfach mal bewusst über Bord wirft?
Na ja, das weißt du ja selber auch, alles, was man hört in seinem Leben, formt einen. Also wenn du ein totaler Fan von THE VELVET UNDERGROUND bist und dann Musik machst, dann wird es irgendwie aufscheinen. Ganz naturgemäß. Und so hat natürlich jeder von uns die Harmonien und die Rhythmen unbewusst einfließen lassen, die ihn musikalisch geprägt hatten bis zu diesem Zeitpunkt. Und so hat sich das eben ergeben. Seite A von der ersten Scheibe ist konstruiert, das ist collagiert, das ist Stück für Stück zusammengesetzt zu dieser Einheit. Und die andere Seite ist in zwei Stunden durchgespielt worden, wie es da zu hören ist, von Anfang bis Ende. Und dann haben wir gesagt, das ist unsere B-Seite. Wir hatten auch gar keine andere Wahl, wir hatten ja keine Zeit. Wenn wir davon ausgehen, dass ich sowieso bloß ein halbes Jahr in Wümme war. Und im November war Schluss, da war schon das Konzert. Es war eine Situation wie in einem Buñuel-Film oder in einem Sartre-Stück. Du sperrst sechs Leute in einen Raum und sagst: Wenn ihr morgen früh nicht eine interessante Geschichte, ein Gedicht, ein Theaterstück oder eben eine Platte gemacht habt, dann werdet ihr hingerichtet. Also eine existenzielle Situation. Der Alltag hat uns ja auch gefressen. Wir waren arm wie die Kirchenmäuse, wir hatten überhaupt keine Kohle. Und warum ich mich jetzt im letzten halben Jahr so mit FAUST befasst habe, hat ja auch den Grund, dass ich endlich diese Legenden gekillt sehen will, wir hätten alle schnelle Sportwagen gefahren, seien bei der RAF gewesen und hätten massig Groupies gehabt. Das ist alles Quatsch mit Soße. Es war eine Art Kloster mit Studio. Wir hatten eine uralte, klapprige Rostlaube, wo alle fünf anschieben mussten, damit der Sechste den Gang einlegen konnte. Und Jochen und Rudolf haben jeden Monat 300 Mark in die Kasse gelegt, damit überhaupt Essen gekauft werden konnte, oft war aber überhaupt nichts da. Dann kam Uwe mit seinem Volvo an und hat gnädigerweise einen Fünfziger und eine Tüte mit Schrippen mitgebracht. Das sind die Fakten. Man hat versucht, da ein kommerzielles Großprojekt zu starten mit dem geringsten Aufwand. Gewisse Leute haben sich da viel Geld rausgeholt, und zwar auf unsere Kosten. Und wir selber haben finanziell vor uns hin gedümpelt. Am Schluss ging es dann bei mir um 2.500 D-Mark, die mir als Überbrückung beim Ausscheiden zugesagt waren. Damit ich acht Wochen irgendwie versorgt war, denn ich musste mir ja eine neue Existenz aufbauen. Die wurden nicht bezahlt, ich musste dann gegen die Grammophon prozessieren, und dabei haben die anderen fünf Leute eine ganz jämmerliche Figur abgegeben. Nettelbeck hatte denen gesagt, wenn ihr nicht so und so aussagt, dann löse ich die Gruppe auf. Er hat die richtig präpariert vorher. Und ich muss dir ehrlich sagen, natürlich war das schon auch psychisch belastend, von einem Tag auf den anderen da rauszugehen, aber auf der anderen Seite war ich heilfroh. Ich war richtig froh, dass ich da raus war und mir was Neues aufbauen konnte in meinem Leben. Denn mir kam die ganze Zeit immer vor wie reine Traumtänzerei. Die träumten ja alle davon, Erfolg zu haben, alternativlos, und, ich sage es mal ein bisschen böse, Rockstars zu werden. Und diese Idee hatte ich nicht, weil ich schon einen Namen hatte in den Münchner Kreisen.
Dennoch ist es heute schwer nachzuvollziehen, dass eine große Firma wie Deutsche Grammophon beziehungsweise Polydor sich tatsächlich auf so eine fragwürdige Geschichte eingelassen hat.
Das Schlüsselwort ist Gier. Dabeisein, nichts versäumen. Dazu kam sicher das Verhandlungsgeschick von Nettelbeck. Das hatte er ja, er wusste schon, wie man die Bosse anredet. Und darum musste ich auch gehen. Nach diesem fatalen Konzert musste ja irgendein Bauernopfer gebracht werden. Und da wird er den Bossen gesagt haben, da ist ein fauler Apfel drin und wenn ich den entferne, dann werdet ihr sehen, dann nimmt das Projekt Fahrt auf, das wird schon noch.
Man fühlt sich bei Uwe Nettelbeck und der FAUST-Geschichte manchmal fast ein wenig an Malcolm McLaren und seinen späteren „großen Rock’n’Roll-Schwindel“ mit den SEX PISTOLS erinnert.
FAUST war Uwes Idee, ja, und die ist ihm eben auch entglitten. Ohne Nettelbeck hätte es keine FAUST gegeben, das muss man ganz eindeutig und positiv lobend sagen. Aber ohne Nettelbeck wären FAUST dann auch nicht kaputtgemacht worden. Er hat sozusagen dieses Spielzeug in die Welt gesetzt und hat es dann wieder hingeschmissen. Er hat den gruppendynamischen Prozess, der einzig und allein FAUST erklärt, einfach nicht verstanden. Er wollte, dass Stücke eingeübt werden, und dass wir wie sechs schwitzende Affen diese Stücke dann wiederholen. Und das war nicht unser Ding, dafür waren wir auch viel zu verschieden. Aus uns eine Gruppe zu machen, war eigentlich gar nicht möglich. Es war eigentlich irrwitzig.
Das Ergebnis in Form des FAUST-Debüts ist natürlich Lichtjahre entfernt gewesen von allem, was man kommerziell nennen könnte.
Und zwar auch unter heutigen Aspekten. Es gab natürlich nachher ganz wilde elektronische Musik, diese ganze sogenannte Industrial Music oder Power Electronics, in der ich mich sehr gut auskenne. Die ist zum Teil natürlich viel wilder, aber die berufen sich oft auf FAUST. Solche Elemente waren ja bei FAUST schon angelegt, und auch in anderer elektronischer Musik. Aber diese Mischung auf der ersten Scheibe, die hat es so nicht mehr gegeben. Das ist wie eine Reise, wie ein Trip.
Wie wurde die Platte überhaupt vermarktet? Das mit den neuen BEATLES konnte man ja nur für einen schlechten Witz halten.
Aber das stand ja nirgends. Wenn du die Zeitungsausschnitte der Morgenpost, vom Abendblatt und der Zeit siehst oder wo die Platte sonst noch besprochen wurde, dann wird nirgendwo gesagt, das sollten die neuen BEATLES sein. Nein, das wurde so intern bei den Gesprächen zwischen Nettelbeck und dem Management der Grammophon sicher mal gesagt, aber es wurde nicht nach außen getragen. Vor allem in England, Japan und USA haben die Leute die Platte dann gekauft, und da haben FAUST ja auch bis heute einen Ruf. In Deutschland gab es auch starke Konkurrenz, das darf man nicht vergessen. Anfang der Siebziger gab ja noch AMON DÜÜL und AMON DÜÜL II, CLUSTER oder CAN.
Aber die werden doch wahrscheinlich alle ein ähnliches Problem gehabt haben, dass man solche Musik nur schwer vermarkten konnte.
Nein, die waren viel kommerzieller. Egal, welche Gruppe du nimmst, die haben alle durchlaufende Rhythmen. Die spielten Stücke, die sie auch wiederholen konnten. Wir konnten unsere Stücke nicht wiederholen. Wir waren meiner Meinung nach eine reine Studio-Band.
Wenn man sich heute bestimmte Krautrock-Platten anhört oder Sachen aus dem Psychedelic-Bereich, steht natürlich immer der Verdacht im Raum, dass dabei Drogen im Spiel gewesen sein müssen. War das bei euch auch so?
Ja, natürlich. Das ist ähnlich wie bei der Politik-Frage. Jeder Mensch hat sein eigenes Drogen-Profil, sage ich mal. Dem einen genügt der Sonnenuntergang, der nächste braucht zwei Biere, der dritte zieht einen Joint durch und der vierte schluckt zwei Captagon. Und so verschieden war es bei uns auch. Es gab Leute, die haben gar nichts genommen und nur Bier getrunken. Andere haben ab und zu mal an einem Joint gezogen. Ich hatte gewisse Erfahrungen mit LSD und natürlich Kiffen, war aber überhaupt nicht an Alkohol interessiert. Rudolf war mehr der Alki. Aber ich könnte jetzt nicht sagen, dass die Leute die ganze Zeit schwer unter Stoff gestanden hätten. Das war ja auch gar nicht möglich, denn bevor FAUST überhaupt spielen konnten, musste stundenlang verkabelt und gelötet werden und so weiter, bis dann alles so eingestellt war, dass man loslegen konnte.
Lass uns abschließend noch mal auf den bereits erwähnten verunglückten ersten FAUST-Auftritt im November 1971 in der Musikhalle Hamburg zu sprechen kommen. Was hat da überhaupt stattgefunden an Konzert?
Fast nichts. Wir hatten auf Jochens Idee hin vier große Farbfernseher auf der Bühne verteilt, vorne an der Rampe. Und das war damals was Besonderes. Farbfernsehen gab es noch nicht so wie später. Und da lief die „Tagesschau“ und danach kam der Grzimek und hat seine Tiere vorgeführt. Die Leute waren total fasziniert wegen der Farbfernseher. Es war ein bisschen wie Kino. Viele sind bis ungefähr 24 Uhr geblieben, weil sie dachten, das Ganze sei ein Happening, eine Performance. Und den Charakter hatte es auch. Das Kuriose dabei ist, es war vorher eine unserer Ideen gewesen, genau das zu machen, so eine Performance, und dabei gar nicht zu spielen. Und wenn die Leute anfangen, Zeug auf die Bühne zu schmeißen und zu buhen, erst dann mit dem Konzert zu beginnen. Und genau das ist hier passiert. Nur konnte kein Ton gespielt werden. Und als nach dreieinhalb Stunden so viel Saft auf den Instrumenten war, dass überhaupt gespielt werden konnte, dann wurde so ein bisschen vor sich hin gerockt. Aber das war alles nichts.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #158 Oktober/November 2021 und Thomas Kerpen