APPLIED KNOWLEDGE

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Peter und die Perspektiven

„Put it in perspective“, sang Peter Cortner in jenem Song, der genau so heißt wie die Band, der er gerade beigetreten war: DAG NASTY. Weil er dabei in die nicht gerade kleinen Fußstapfen von Dave Smalley trat, waren zahlreiche Anhänger des Revolution Summer nur allzu bereit, genau dies zu tun. Was sich damals zeitnah abzeichnete und aus heutiger Sicht rückblickend dick unterstrichen werden kann: Cortner machte sein eigenes Ding und etablierte neue Perspektiven auf etwas, das erst Jahre später als „Emo“ auch kommerziell erfolgreich sein sollte.

Zu diesem Zeitpunkt war Cortner allerdings mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden, was sich erst 2019 änderte, als er mit Bassist Doug Carrion als FIELD DAY antrat, um jene Songs live zu präsentieren, die bei der DAG NASTY-Reunion mit Shawn Brown unter den Tisch gefallen waren: ausgewählte Stücke von den Alben „Wig Out At Denkos“ und „Field Day“. Statt sich auf Jahrzehnte alten Lorbeeren auszuruhen, schrieben FIELD DAY schon bald neue Songs, die PMA propagierten und eher PENNYWISE-Fans abholten, als die nerdigeren Dag-Songs neu zu interpretieren. Von einer Enttäuschung mag man da nicht sprechen wollen, wohl aber von einer Unterrepräsentanz gewisser Cortner-Qualitäten, die er Anfang der 1990er Jahre mit LOS VAMPIROS und später mit den GERUNDS einem kleinen Kreis eingefleischter Fans kredenzte: eher schrullige Arrangements und vor allem Texte, die Geschichten und Abgründe andeuten, die eine Positive Mental Attitude dezidiert vermissen lassen.

Mit seiner neuen Band APPLIED KNOWLEDGE knüpft er nun genau dort wieder an und veröffentlichte im August 2023 eine 4-Song-EP. „Als FIELD DAY Ende 2022 eine Pause einlegten, ermutigte mich Sam Pinola auch weiterhin Musik zu machen. In dessen New Sofa-Studio in Philadelphia hatte ich die FIELD DAY-Vocals aufgenommen. Er gab mir nicht nur die Gelegenheit, Ideen auszuprobieren, die ich mit FIELD DAY nicht verwirklichen konnte, er stellte auch die Band zusammen, in der ich nun singe. Was meine Texte anbelangt: Ich habe lange gebraucht, meinen diesbezüglichen Ansatz zu vergegenwärtigen. Nicht dass dieser kompliziert oder komplex wäre, es ist nur so, dass mir meine eigenen Motive, egal, wie offensichtlich sie sind, nicht sehr bewusst sind. Heutzutage betrachte ich meine Songs als meine engsten Freunde. Es hat etwas Tröstendes, dass die Songs den gesamten Inhalt und Kontext meiner Träume und Albträume widerspiegeln. Das, was ich im Schlaf murmle. Ich bin mir bewusst, dass ich wie ein Verrückter klinge oder zumindest prätentiös. Aber so ist es nun mal. Die Texte der GERUNDS und von APPLIED KNOWLEDGE sind nicht sonderlich positiv, obwohl ich diese Perspektive nicht absichtlich vermeide.“

Für die musikalische Umsetzung seiner Texte und Melodien benötigt Cortner Kollaborateure. Was Brian Baker für DAG NASTY und Hunter Bennett (DOT DASH, JULIE OCEAN, STABB) für die GERUNDS waren, ist nun also Sam Pinola (BLACK FRIDAY DEATH COUNT) für APPLIED KNOWLEDGE, der an dieser Stelle auch zu Wort kommen soll: „Alle Mitglieder von APPLIED KNOWLEDGE sind musikalische Weggefährten. Scotty Why und Joe Carminati spielen Gitarre, Jay Dyer ist unser Drummer, ich spiele Bass und schreibe die Songs. Eine gemeinsame Geschichte zu haben, fördert die Kreativität und macht die Mühe erträglich, die man abseits der Bühne in eine Band stecken muss. Peters textliche Perspektive ist einzigartig und er hat ein Händchen für Arrangements. Er fordert uns als Künstler heraus und inspiriert uns, was ihm vermutlich ebenfalls nicht allzu bewusst ist. Ich denke, er würde vehement alles abstreiten, was ich gerade gesagt habe.“

Bescheidenheit ist eine Zier, aber wer, wie Cortner, ein musikalisches Genre entscheidend geprägt hat, um es dann anderen zu überlassen, kehrt nicht zurück, um sich einem bestimmten Publikum anzubiedern. „Ich muss mich sehr darauf konzentrieren, ein Mensch zu sein, der die Anstrengungen seiner Band rechtfertigt. Ich bin kein Musiker und furchtbar unorganisiert. Ich habe verdammtes Glück, dass sie mich einfach machen lassen.“ Eine Karriere in der Musikindustrie steht also folgerichtig nicht zur Debatte. „In den letzten Jahren habe ich für eine gemeinnützige Organisation gearbeitet, die Menschen mit verschiedenen Behinderungen hilft, eine wettbewerbsfähige Beschäftigung zu finden.“

Wenn Cortner nun also mit APPLIED KNOWLEDGE auf kleineren Bühnen weitermacht, dann aus einem inneren Antrieb heraus. Und dieses kreative Jucken ist eine gute Nachricht für alle alte Säck:innen, die das Ox seit seinen Anfangstagen verfolgen. Es erzählt von Inspiration und Integrität, von Wertschätzung und Kompromissen, vom Älterwerden und Punkbleiben. Und was Peters Perspektiven und seine Lyrics anbelangt, diesbezüglich gewährt er uns doch noch einen Einblick: „Wenn ich einen Autor auswählen müsste, der mich in den letzten Jahrzehnten am meisten inspiriert hat, dann wohl James Ellroy. Ich empfehle seine ‚Underworld USA‘-Trilogie.“
Bleibt noch zu erwähnen, dass APPLIED KNOWLEDGE im November ihre Debüt-LP im Magpie Cage-Studio von J Robbins aufnehmen werden. Zieht da etwa ein Revolution Autumn auf?