ALEJANDRO ESCOVEDO

Foto© by Nancy Rankin Escovedo

Fremd im eigenen Land

Als ich 1992 Alejandro Escovedos erstes Soloalbum „Gravity“ im Plattenladen meines Vertrauens erstand, wusste ich noch nicht viel über diesen Musiker mexikanischer Abstammung. Mitte der 1970er Jahre hatte Escovedo, der einer äußerst musikalischen Familie angehört – seine Nichte ist die frühere Prince-Mitstreiterin Sheila E. – mit THE NUNS eine der frühen kalifornischen Punkbands gegründet, während sein Bruder Javier parallel dazu bei THE ZEROS aktiv war.

In den 1980er Jahren war Escovedo dann Mitglied von RANK AND FILE und TRUE BELIEVERS, die man als Alternative Country-Pioniere ansehen könnte. Seit Anfang der Neunziger nahm Escovedo unter eigenem Namen einige durchweg exzellente, stilistisch breit aufgestellte Singer-Songwriter-Alben auf, bei denen auch seine mexikanischen Wurzeln immer eine gut hörbare Rolle spielten. Aktuell erschien auf Yep Roc sein neues Album „Echo Dancing“ mit eher retrospektivem Charakter, denn es handelt sich dabei um Neueinspielungen von 14 Songs aus der bisherigen Karriere des inzwischen 73-Jährigen.

Alejandro, grundsätzlich würde man dich wohl im Bereich Singer/Songwriter oder Alternative Country verorten, auch wenn deine Musik immer eine gute Portion Glam Rock oder klassischen Rock’n’Roll sowie Pop enthält. Wie würdest du deine stilistische Ausrichtung beschreiben, die sich, zumindest meiner Meinung nach, bis heute nicht wesentlich verändert hat?
Ja, meine Songs haben sich wirklich nicht sehr verändert, wie du richtig sagst. Ich denke, in erster Linie ging es immer darum, Geschichten zu erzählen, das ist mein ultimatives Ziel beim Schreiben von Songs. Für mich war es wichtig, so ehrlich und offen wie möglich zu sein, vor allem beim ersten Album „Gravity“, dessen Entstehung auf ein sehr tragisches Ereignis in meinem Leben zurückgeht. Meine Faszination für Streicher und Arrangements dieser Art begann schon vor langer Zeit durch VELVET UNDERGROUND, John Cale und Lou Reeds Album „Street Hassle“, das so eine Art Vorlage für das war, was ich später machen wollte. Diese Etiketten, die man einem anheftet, sind nichts, womit ich mich selbst identifizieren würde. Man hat meine Musik schon alles Mögliche genannt: Garage Rock, Punk, Post-Punk, Alternative Country, all diese verschiedenen Sachen. Und das ist wirklich nur das Produkt von Journalisten, die versuchen, einen Weg zu finden, das zu kategorisieren, was ich zu einer bestimmten Zeit gemacht habe.

Einer deiner Mitstreiter auf „Gravity“ war der 2009 verstorbene Stephen Bruton, der das Album auch produziert hat und fast 40 Jahre lang mit Kris Kristofferson gearbeitet hat, der neben Willie Nelson, Waylon Jennings und Johnny Cash den Begriff Outlaw Country prägte, als Vorläufer von Alternative Country. War diese Musik ein wichtiger Einfluss für dich, abseits vom kommerziellen Nashville-Country?
Bruton war extrem wichtig in meinem Leben, als er diese Platte produzierte. Er war einer meiner Mentoren, der mir geholfen hat, meine eigene Stimme zu finden. Wir hörten uns damals Platten aus Nashville und älteren Country an wie George Jones, Johnny Paycheck, Waylon Jennings und natürlich immer wieder Johnny Cash. Aber wir suchten nach einem anderen Blickwinkel, und wie wir das mit Reggae oder Dub verbinden könnten. Oder wir hörten uns Jorge Ben an und brachten ein paar schräge Gitarrenlicks in den Mix ein. Es ging uns also immer darum, nicht nur Country zu hören und davon zu lernen, sondern alle Arten von Musik kennenzulernen und ein offenes Ohr für all diese verschiedenen Stile internationaler Musik zu haben. Ich kann also nicht sagen, dass es immer nur auf Country beschränkt war.

Das musikalische Fundament für deine spätere Solokarriere wurde mit Bands wie RANK AND FILE und TRUE BELIEVERS in den Achtzigern gelegt. Wenn du zurückblickst, wie siehst du diese Bands, deren Wurzeln in frühen Punkbands wie THE DILS, THE NUNS und THE ZEROS zu finden sind – als echte Pioniere?
Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich meine, sie waren wichtig für mich, weil es meine Bands waren. Und ich liebte alles, was aus ihnen hervorging. Nicht alles, aber ich liebte einen Großteil der Musik, die in den frühen Punk-Jahren Ende der Siebziger aus San Francisco kam. CRIME waren meine Lieblingsband. THE SLEEPERS waren eine weitere Band, die ich liebte, oder NEGATIVE TREND. Es gab viele großartige Bands in dieser Zeit. THE ZEROS habe ich natürlich immer geliebt – das war die Band meines Bruders. Sie haben sogar auf Bomp! Records die allererste Punkrock-Single an der Westküste veröffentlicht. THE DILS waren auch meine Freunde, mit denen ich viel abhing. Und wir haben dann zusammen eine Band gegründet. Sie waren also wirklich wichtig für mich. Aber es steht mir nicht zu, zu sagen, wie wichtig sie aus historischer Sicht waren.

Während dein Bruder Javier bei den ZEROS spielte, waren die NUNS Mitte der Siebziger eine deiner ersten Bands – beide waren damals Teil der kalifornischen Punkszene. Was hat dich damals mit der Punkszene verbunden, gibt es besondere Erinnerungen oder Ereignisse, die dich bis heute beeinflusst haben?
Weißt du, Punkrock war für mich nur eine Erweiterung all der Platten, die ich bis dahin gehört hatte, ob es nun THE SHADOWS OF KNIGHT, THE STANDELLS oder PAUL REVERE & THE RAIDERS waren. Dann gab es noch diese großartigen lokalen Bands wie EAST SIDE KIDS oder LIMEY & THE YANKS. Sie alle landeten dann auf den Nuggets-Compilations. Das führte dann zu THE STOOGES, MC5, THE RATIONALS, all diesen Bands aus Detroit und Umgebung. Das war sehr einflussreich für mich. Was ich über Punkrock wusste, und was dann zu Punkrock wurde und vielleicht der Vorläufer von all dem war, kam von den NEW YORK DOLLS, Patti Smith oder TELEVISION. All diese Bands waren für mich sehr interessant, besonders Patti Smith. Als ich Patti Smith zum ersten Mal im Whisky a Go Go sah, waren außer uns und den STOOGES nur wenige Leute da. Aber sie hatte einen großen Einfluss auf mich, sie und ihre Band. Ihr Gitarrist Lenny Kaye war ziemlich cool und ermutigte uns, selbst Bands zu gründen. Punkrock war also wieder einmal nur ein Etikett, aber ein sehr weit gefasstes. Anfangs gehörte jeder dazu, von Typen, die auf irgendwelchem Zeug vom Schrottplatz herumhämmerten, bis hin zu Bands wie CRIME, THE NUNS, THE DILS oder AVENGERS.

Bevor ihr 1975 THE NUNS gegründet habt, waren du und Jeff Olener Filmstudenten am College of Marin. Was ist von dieser Begeisterung für Film geblieben und inwieweit hat sie deine Musik später beeinflusst?
Filme hatten schon immer einen großen Einfluss auf mich, vor allem als ich anfing, Songs zu schreiben. In gewisser Weise habe ich versucht, diese visuellen Bilder zu erschaffen, die wie Geschichten innerhalb eines Songs waren, ähnlich wie ein Film. Sie haben mich also schon immer beeinflusst, und das ist bis heute so geblieben. Ich liebe die Kunst des Filmemachens, und ich liebe Filme. Ich muss sagen, dass ich eher zu den Leuten gehöre, die sich immer wieder die gleichen Filme ansehen, von Godard, Truffaut, und vor allem von Bertolucci und Buñuel.

Du bist der Sohn eines mexikanischen Einwanderers in Texas und einer texanischen Mutter. Hast du damals auch Rassismus in der Punkszene erlebt?
Ich möchte natürlich vor allem an all die positiven Dinge zurückdenken, die in meinem Leben passiert sind. Aber es gab auch einige Orte, an denen eine Person meiner Hautfarbe nicht unbedingt akzeptiert wurde. Ich kann dir sagen, dass meine Soloplatten, als sie das erste Mal herauskamen, nie in der Rock-Ecke zu finden waren. Sie standen immer in der Salsa-, Latin-, World Beat-, Third World-Ecke, oder was auch immer es war, nur aufgrund meines mexikanischen Namens. Rassismus habe ich also mein ganzes Leben lang erlebt, sogar in der Punkrock-Community. Natürlich gab es dort eine Menge Skinheads und rechte Gruppierungen, wie etwa die National Front in England, die immer da waren und eine sehr hässliche und gefährliche Seite dessen zeigten, was wir als Punkrock kennen.

Du hast dein Album „Burn Something Beautiful“ von 2016 deinen Eltern gewidmet, „Einwanderern, die dieses Land so großartig gemacht haben“. Das war das Jahr, in dem Donald Trump Präsident wurde, der für den Fall seiner Wiederwahl bereits groß angelegte Abschiebungen von Migranten angekündigt hat, an der Aktualität des Themas hat sich also nichts geändert. Wie erklärst du dir, dass dieses Thema nicht nur in den USA so viele Menschen beunruhigt, als gäbe es so etwas wie eine multikulturelle Gesellschaft nicht? Warum verstehen diese Menschen nicht, dass ohne Migranten bestimmte Dinge überhaupt nicht funktionieren würden?
Das ist eine schwierige Frage und ich weiß nicht, ob ich darauf eine Antwort habe. Aber mein Album „The Crossing“ war 2018 in gewisser Weise eine direkte Reaktion auf das, wovon du sprichst. Als Trump damals die Rolltreppe herunterkam, um seine Präsidentschaftskandidatur anzukündigen, sagte er, Mexikaner seien Vergewaltiger, Drogendealer, Mörder, also im Grunde nur Ungeziefer. Und ein Teil der Rolle von Leuten wie Trump und Diktatoren ist es immer, darauf hinzuweisen, dass es einen Feind gibt, und plötzlich waren wir dieser Feind. Für einen jungen Mexikaner, der in den 1950er und 1960er Jahren aufgewachsen ist, war es sehr verwirrend, wenn ihm gesagt wurde, dass er in einem freien Land lebt, in dem ihm alle Möglichkeiten offen stehen, so wie jedem anderen auch. Und dann herauszufinden, dass das nicht der Fall ist, hat mir wirklich die Augen geöffnet. Beim Schreiben von Songs habe ich immer versucht, die Geschichte meiner Eltern zu erzählen, weil ich fand, dass es eine wichtige amerikanische Geschichte ist. Es war schon immer ein Teil meines Songwritings. Mein Vater stammte aus Saltillo im Bundesstaat Coahuila im Norden Mexikos. Er hat uns immer auf unsere Kultur aufmerksam gemacht, und sie war immer Teil seiner Geschichte, die dann auch Teil unserer Geschichte wurde. Es gibt zu diesem Thema ein großartiges Buch namens „Strangers In Their Own Land“. Und so war es im Grunde auch, als ich aufwuchs.

„The Crossing“ – die Geschichte eines jungen Mexikaners und eines Italieners, die in Texas ihrem persönlichen amerikanischen Traum nachjagen – wurde 2020 unter dem Titel „La Cruzada“ in einer spanischen Version neu veröffentlicht. Hat das nicht die Reichweite des Albums eingeschränkt? Von wenigen Ausnahmen abgesehen, singst du ja eigentlich immer auf Englisch.
Der Großteil von „La Cruzada“ wurde von Alex Ruiz von der Band DEL CASTILLO eingesungen. Ich habe aber auch Lieder auf Spanisch gesungen. Ich finde, es ist eine wunderbare Art, ein Lied zu singen, denn die Sprache ist sehr schön. Ich weiß nicht, ob mein Publikum dadurch limitiert wird, wenn ich eine spanische Version herausbringe. Ich glaube sogar, dass das Gegenteil der Fall ist, denn die spanische Version des Albums schaffte es bis in die Top Ten der Latin Pop Billboard Charts. Das war also ziemlich cool. Und ich denke, diese Geschichte auch auf Spanisch zu erzählen, war sehr, sehr wichtig, denn es hat sie glaubwürdiger gemacht.

Im Laufe der Jahre hast du mit einer beeindruckenden Anzahl großartiger Musiker zusammengearbeitet, darunter Wayne Kramer von MC5, James Williamson von THE STOOGES, Peter Perrett und John Perry von den ONLY ONES, Chuck Prophet von GREEN ON RED, Steve Berlin von LOS LOBOS und Peter Buck von R.E.M., um nur einige zu nennen. Drei deiner Alben wurden von Tony Visconti produziert, eines von John Cale. Gab es dabei eine Zusammenarbeit, die für dich besonders bedeutsam war?
Ich liebe all diese Kollaborationen. Es ist sicher nicht für jeden etwas, aber wenn es funktioniert, ist es eine wunderbare Art, eine Idee auszudrücken und sie durch die Augen und Ohren anderer Menschen zu verwirklichen. Die Arbeit mit Tony Visconti war fantastisch, denn ich mochte alle Platten, die er produziert hat, bevor ich mit ihm gearbeitet habe. Das Gleiche gilt für John Cale. Ich war schon immer ein großer Fan von John, also war das ein großes Vergnügen. All diese Kollaborationen hatten einen großen Einfluss auf meine Arbeit und ich hoffe, dass ich das auch weiterhin tun kann.

Alejandro, du bist am 10. Januar 2024 73 geworden. Gibt es etwas, das du rückblickend bedauerst, wie etwa den exzessiven Konsum von Drogen und Alkohol als Versuchungen des Lebensstils eines Musikers?
Bedauere ich etwas? Ich kann nicht sagen, dass ich das wirklich tue. Offensichtlich wurde das Trinken für mich zu einem echten Problem und brachte mich fast um. Bedauere ich also diese Zeiten? Nein. Ich wünschte, es wäre mir nicht passiert, aber das lag nicht in meiner Hand. Es ist passiert und ich habe es überlebt. Und ich fühle mich jetzt sogar stärker, weil ich es überlebt habe.