In letzter Zeit trudeln hier im Ox-Büro immer häufiger Päckchen aus Übersee ein, deren Absender ein kleines Label ist, das auf den kryptischen Namen 54° 40´ Or Fight! (sprich: fiftyfourfortyorfight) hört. Niemand weiß, was dieser Name zu bedeuten hat, aber die Bands, namentlich etwa 31KNOTS, DILUTE, ABILENE, THIS BRIGHT APOCALYPSE, CAESURA, DROPSONIC oder EYES OF AUTUMN – da sind sich die beteiligten Rezensenten einig – bieten allesamt höchst anspruchsvolle und eigenständige Musik, die beim ersten Hören schon aufregend ist, bei weiterer Beschäftigung aber sogar noch wächst. Das weckt natürlich Interesse. Höchst interessant“, so war im Ox zu lesen, sei das Label, und „dringend im Auge zu behalten“, ein paar (also ich) sprechen sogar vom „persönlichen Lieblingslabel“, zu dem sich 54° 40´ Or Fight! langsam entwickelt. Ein Label gar, mit ähnlicher Charakterstärke wie Dischord? Die hoffentlich drängendsten Fragen klärte ich mit Labelchef Steve Brydges.
Steve, erzähl doch erst mal, wie es mit dem Label angefangen hat.
Mit 54° 40´ or Fight! ging es im Frühling 2001 los, aber die Idee ist schon seit Jahren wie eine lästige Murmel in meinen Gedanken hin und her gerollt. Ich habe so oft ein Album gehört oder eine Band live spielen gesehen und gerufen: ‚DAS ist die Band! Für die starte ich ein Label.’ Aber das hat sich nie ergeben, bis Royce Deans, mein Partner, ein Demo von THE DOUBLE in die Finger bekam. Es war so innovativ, erstaunlich, wunderbar und einzigartig, dass wir wussten, dies müsse die Band sein. Ironischerweise ist genau diese Band gar nicht mehr auf unserem Label, und die drei Songs auf dem Demo haben wir nie veröffentlicht. Mittlerweile arbeiten wir an unserer achtzehnten Veröffentlichung, ‚Fadeoutsoul’ von SPEAK LOW mitgezählt, die vermutlich nie erscheint, weil sich die Band vor der Fertigstellung aufgelöst hat.
Was zum Henker hat es denn mit dem Namen des Labels auf sich?
Das war ein Name für die Kampagne von James K. Polk, womit er sich im Jahr 1844 erfolgreich um die Präsidentschaft beworben hat. Manifest Destiny, Baby! Das ist unser Slogan, und es war der Slogan dieser Zeit, einer, der mit großer Leidenschaft vorangetrieben wurde. Die Idee war, nach Norden ins britische Territorium vorzustoßen, bis nach 54° und 40´ – notfalls mit Gewalt. Bei 49° wurde letztendlich ein Kompromiss erzielt.
James K. Polk war also Präsident der Vereinigten Staaten. Woher rührt denn deine Bewunderung für diesen Menschen? Und wurde die Polk High, für die Al Bundy einmal vier Touchdowns erzielt hat, nach ihm benannt?
Ja, ich glaube, Polk High wurde nach ihm benannt. Polk war der elfte Präsident, aber dass wir seinen Namen für das Label gebrauchen, hat weniger mit einer Verbundenheit, politisch oder anderweitig, zu tun, sondern vielmehr damit, dass ich den Klang des Slogans mochte. Dazu eignete sich Manifest Destiny für unser Label. Wir wollen uns gerne nehmen, was uns gehört, nämlich die Ohren der Leute, die doch gerne die allerfeinste Musik hören wollen, die erhältlich ist. Und wir wollen das Label vergrößern, mehr und mehr großartige Bands anhäufen, um ihnen ein sicheres Heimatlabel zu bieten, von dem aus sie ihre Kunst, ihre Musik, verbreiten können. Präsident Polk war ein sehr starker Führer, einer, der signifikante Landzuwächse für die USA herbeiführte. Unter ihm haben wir Texas annektiert, sind zum 29. nördlichen Breitengrad vorgestoßen, dahin, wo jetzt Washington State ist, und haben das US-Territorium bis zur Westküste ausgedehnt.
Was ist die Philosophie eures Labels, welche Ansprüche stellt ihr an Bands?
Manifest Destiny, Baby. One set of ears at a time. Wir wollen großartige Musik veröffentlichen, Musik, die wir lieben, und wir wollen so hart und weise wie möglich arbeiten, um die Musik unters Volk zu bringen – das Volk weiß oft genug überhaupt nicht, was es will, bis es etwas hört. Da ist höchstens ein nagendes Verlangen nach etwas Neuem. An unsere Bands stellen wir keine Ansprüche, aber selbstverständlich müssen sie touren. Auf dem Level, auf dem wir uns bewegen, können wir Alben nicht durch Promotion und Werbung allein verkaufen. Die Bands müssen es zu den Leuten bringen – und das oft.
Was verbindet die 54° 40´ Or Fight!-Bands?
Sie teilen alle eine Hingabe für das, was sie tun. Außerdem hat jeder ihrer Sänger eine gute Stimme. Sogar Evan von CAESURA, der wirklich viel schreit, singt ziemlich gut. Überhaupt sind sie alle wahre Könner an ihren Instrumenten.
Wie groß ist denn 54° 40´ or Fight!, wie werdet ihr außerhalb der USA wahrgenommen?
Das Label selbst wird nur von Royce und mir geführt, und von meiner Frau Tyann, die den Mailorder übernommen hat. Unser erfolgreichstes Release war bisher ‚Two Guns, Twin Arrows’ von ABILENE. Außerhalb der Staaten ist unser Vertrieb noch sehr klein, wird aber stetig besser. Shellshock vertreibt uns in Großbritannien, dazu kommen diverse kleinere Vertriebe. Wir wollen in Europa nun erst mal durch Reviews und Anzeigen auf unsere Veröffentlichungen aufmerksam machen, Nachfrage und Interesse schaffen und dann die Bands über den Teich schicken. Wenn die Promotion einmal anschlägt, kommen die Tourneen von ganz allein.
Welche Band hättest du gerne auf deinem Label?
Da gibt es natürlich eine ganze Menge, ich würde andererseits auf keine Band, die wir haben, verzichten wollen. Ich habe mich stark um SHINER bemüht, und nun habe ich Allens neue Band THE LIFE AND TIMES. SHINER haben sich Anfang des Jahres aufgelöst, sehr zur Trauer ihrer Fans. Aber THE LIFE AND TIMES sind super und ich kann die Reaktionen auf ihre EP, die wohl im Juli kommt, kaum noch erwarten. Nebenbei bin ich ein wenig neidisch auf Ascetic Records, weil sie das nächste RIDDLE OF STEEL-Album rausbringen, und auf Flameshovel wegen THE RACE. Na ja, neidisch ist nicht das richtige Wort, weil es einen negativen Beigeschmack hat. Es freut mich für die Labels – ich bin ganz nebenbei der Promoter und Booker für RIDDLE OF STEEL – und schließlich habe ich die Chance verpasst, ‚The Perfect Gift’ von THE RACE zu veröffentlichen, als sie mir ihr Demo schickten. Was hab ich mir nur dabei gedacht?
Welche Bands haben den Menschen aus dir gemacht, der du heute bist?
Faszinierende Frage, die könnte ich in so viele Richtungen ausführen. Musik hatte einen großen Einfluss auf mich, seit ich denken kann. Die tiefe Liebe und riesige Wertschätzung meines seligen Vaters für Musik hat mich sehr inspiriert. Was Bands angeht: JOY DIVISION waren die Ersten, die mir tiefste Verzweiflung und die Schönheit des Schmerzes gezeigt haben. In den DEAD KENNEDYS fand ich Adrenalin – aber keine politische Erfüllung. POLVO demonstrierten, wie prächtig schräge Gitarren klingen können. SLINT und DRIVE LIKE JEHU haben Songstrukturen neu erfunden. Von heutigen Bands und aus der Perspektive eines Labelmachers haben mir 31 KNOTS am meisten beigebracht. Sie sind eine unserer am härtesten arbeitenden Bands, und durch die Zusammenarbeit mit ihnen habe ich sehr viel darüber gelernt, wie man ein Label führt. Label und Band sind eng zusammengewachsen während der Veröffentlichung ihrer ersten Alben, während des Überstehens mehrerer Tourneen, durch Investitionen in Werbung und PR usw., und das beginnt sich langsam auszuzahlen.
Wie sieht eure Zukunft aus?
Wir überzeugen FUGAZI davon, dass 54° 40´ Or Fight! das absolut beste Label für sie sind. Ach, du meinst realistisch? Expansion in alle Himmelsrichtungen und nach Übersee. Ich würde es gerne sehen, wenn man unsere Alben überall problemlos bekommen könnte, und dass unsere Bands in der Lage sind, überall auf der Welt zu touren, und wenn wir durch die Früchte unserer Mühen in der Lage sein könnten, weiterhin das zu tun, was wir lieben, nämlich in diese Art Musik involviert sein zu können.
Mir ist aufgefallen, dass ihr überhaupt kein Vinyl verkauft. Wie ist denn eure Einstellung dazu?
Ich liebe es. Leider können wir es uns momentan nicht leisten, Vinyl herzustellen. Mich bestürzt immer wieder, dass Leute erwarten, für Vinyl weniger zu bezahlen, als für eine CD, wo Schallplatten eigentlich zum selben, wenn nicht gar zu einem höheren Preis verkauft werden müssten. Da geraten Indie-Ästhetik und ‚Punkrock sein’ in Konflikt mit der Realität. Wenn Vinyl teurer in der Herstellung ist – und das ist es, glaub mir – dann sollte es auch teurer verkauft werden. Aber hier sehen wir, wie CDs für $12 verkauft werden und LPs für $8. Ziemlich blöd.
Royce und du, ihr seid hauptberuflich die Herausgeber eines Magazins namens Copper Press. Was genau ist das?
Copper Press ist ein alle zwei Monate erscheinendes, perfekt gebundenes Magazin, das völlig unseren Leidenschaften gewidmet ist, welche unter anderem Musik, Snowboarding, Kunst, Photographie, Skateboarding, Graphikdesign und Literatur umfassen. Und man kann es mit ins Badezimmer nehmen. Wohin auch immer. Aber lest es! Bitte!
Wie ist Copper Press mit dem Label verbunden?
Das Magazin war zuerst da, und es ist organisatorisch alles unter dem Dach von Weatherbeaten & Bound, Inc., der Firma von Royce und mir.
Könnt ihr denn von dem leben, was das Magazin und euer Label abwerfen?
Im Moment leider noch nicht. Es ist ein lohnenswertes Ziel – trotz allem eines, nach dem es sich zu streben lohnt. Wir tun, was wir lieben, also warum damit aufhören?
Das war ein ganz wunderbares Schlusswort. Danke für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #51 Juni/Juli/August 2003 und Christian Meiners