31KNOTS

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Höhere Mathematik

Die Trainingslehre besagt, dass das, was man sich langsam und stetig erarbeitet hat, am längsten halte. Und wie häufig sagt man doch, die Alben, die am längsten brauchen, bis sie wirken, seien die besten. Solche Alben schaffen es dann mit der Zeit auch in die ewige persönliche Bestenliste. 31KNOTS aus Portland ist so eine Band, die das bei mir geschafft hat, mit Anlaufschwierigkeiten freilich, denn wenn drei hoch begabte Musiker zusammen Musik machen, dann ist das keine leichte Kost. Stehen in den Reviews ständig Hinweise auf den Progrock der Siebziger, auf YES, MINUTEMEN und FUGAZI, dann droht das alles zu einer Kopfsache zu werden. Allerdings nur, wenn man den Rock dabei nicht vergisst, und das tut der Dreier gewiss nicht. So sind 31KNOTS eben auch unter allem, was sich an schrägen Akkorden und krummen Takten versucht, also im weitesten Sinne unter Post-Hardcore läuft, dabei aber immer nur Schemamusik produziert, ein echter Sonderling – oder besser: eine absolute Ausnahmeband.

Die Band wurde von Joe Haege, dem musikalischen Mastermind, und Bassist Jay Winebrenner in deren Chicagoer Collegezeiten gegründet. Die Ausbildung langweilte, also folgten die beiden dem Ruf des Rock’n’Roll und landeten schließlich über Umwege in Portland, einer lebendigen und kreativen Musikerstadt, die in letzter Zeit unter anderem die THERMALS, THE PLANET THE oder CROSSTIDE hervorgebracht hat. Dort stießen die zwei auf Schlagzeuger Joe Kelly, der für sie den Bodenkontakt herstellte. Joe Haege erzählt: „Wir haben sehr pedantische, epische Songs ohne irgendeine Richtung geschrieben. Es hat uns sehr geholfen, dass Joe Kelly Kontakt zum musikalischen Underground hatte. Er hat uns gezeigt, dass wir nicht so einzigartig waren, wie wir dachten, und dadurch konnten wir erst unsere Identität ausbilden.“
Das Ergebnis der Identitätsfindung war das Debütalbum namens „ClimaxAntiClimax“, für das man schnell ein kleines Label finden konnte. Dieses Label brachte noch eine EP und zwei weitere Alben heraus, unter anderem den bisherigen Höhepunkt, das beinahe perfekte „It Was High Time To Escape“. Mit diesem Album trat die Band schlagartig auch öffentlich in Erscheinung, zumindest in Europa. Trotz allem Anspruch wurden die 31KNOTS hier so etwas wie Kritikerlieblinge, obwohl sie zunächst ein absoluter Geheimtipp blieben. Die Reaktionen waren jedenfalls überschwänglich, auch beim Publikum. Zu einem Konzert in Münster im Rahmen der ersten Europatour, damals hier noch ohne Vertrieb und Album, kamen zwar nur etwa 30 Leutchen, allerdings ging nach der Show schätzungsweise die selbe Zahl an mitgebrachten CDs über die Theke, begleitet von Tränen der Rührung in den Augen der Käufer und von viel dankbarem Händeschütteln. Die Tour war ein schöner Erfolg für eine Band, die nach eigenem Bekunden daheim in den USA kaum erst aus dem eigenen Vorgarten herausgekommen war.
Weitere Veränderungen folgten. Die Band trennte sich vom bisherigen Label 54° 40’ or Fight! Records. Ein notwendiger Schritt, wie Jay Pellicci, der aktuelle Schlagzeuger, berichtet. Labelbesitzer Steve Brydges, nebenbei Herausgeber der Zeitschrift Copper Press und erster Mann bei der Booking- und Promotionfirma 43 Rocket, ist zwar ein echtes Arbeitstier, „er konnte sich allerdings nicht mehr genügend um uns kümmern. Er will einfach zu viel auf einmal, und dabei kommen die einzelnen Bands zu kurz“. Seitdem übernimmt das luxemburgische Own-Label die Veröffentlichungen in Europa, beginnend mit der EP „The Curse Of The Longest Day“. Sogar in Japan fand sich ein Label, nur im Heimatland rührte sich zunächst nichts.

Mit dem neuen Album „Talk Like Blood“, ihrem vierten insgesamt, ist die Band zumindest in den USA mittlerweile auf Polyvinyl gelandet, einem renommierten Label also, nachdem man sich im Heimatland jahrelang erfolgreich geweigert hat, von dem Trio Notiz zu nehmen. Die Aufmerksamkeit war im Ausland immer größer, wie zwei Europatouren und eine Japantour zeigen. „Wir sind in den USA eine zeitlang gewissermaßen unter dem Radar geflogen“, gibt Joe zu. Einerseits lag das sicher daran, dass lange Zeit mit 54° 40’ or Fight! Records zwar ein ambitioniertes, aber nur ein sehr kleines und eher unbekanntes Label hinter allem stand, andererseits aber an der größten Konsumnation, bei der der ausuferndste Konsum die kleinste – oder gar keine – Aufmerksamkeitspanne zurückgelassen hat.
„Noch vor drei Jahren hatten wir mehr Songs über fünf Minuten als darunter“, erklärt Joe Haege, „und sogar die amerikanische Underground-Musikpresse neigt dazu, vor allem Bands zu bemerken, die melodische, kurze Songs spielen. Die sind für ein großes Publikum viel genießbarer, als wir es je sein werden.“ Deshalb sind eben Bands wie die DECEMBERISTS, MODEST MOUSE oder DEATH CAB FOR CUTIE richtig groß geworden, und nicht andere, anspruchsvollere. Der Songschreiber musste erkennen, dass nicht jeder gewillt ist, einem langen Song seine Aufmerksamkeit zu widmen, und dass nicht jeder Song ein episches Meisterstück sein kann und muss. „Ich schreibe Songs nun aus einer anderen Perspektive, nicht mehr nur aus der, die mich selbst emotional berührt.“
Der Vorschlag Polyvinyl kam übrigens auf der Europatour im letzten Jahr vom Schlagzeuger der seligen Q AND NOT U, der sich darüber wunderte, dass niemand wusste, wer das neue Album veröffentlichen würde. War die Kombination Polyvinyl und 31KNOTS bisher von der Band nicht angedacht worden, ging plötzlich alles sehr schnell, nachdem Haege ein paar Demos verschickt hatte, und die Zusammenarbeit erwies sich ebenso schnell als sehr fruchtbar. „Es ist sehr schön, mit Leuten zusammen zu arbeiten, denen tatsächlich noch etwas an der Musik liegt. Das ist hier in den USA sehr selten“, meint Joe Haege, ein Kompliment, das auch dem luxemburgischen Label gilt.

Ein Markenzeichen der Band, und gewiss auch ein kleines Hindernis für breite Rezeption, ist ihr auffällig ästhetischer Anspruch, der sich in Bild und Ton niederschlägt. Die Künstlerin Rachel Carns, nebenher Mitglied in der Band KING COBRA, zeichnet für das Coverartwork der letzten drei Alben verantwortlich und gab ihnen durch Schriftzüge und ähnliche künstlerische Elemente einen optischen Rahmen. Der Sound wiederum ist für übliche Hörgewohnheiten extrem trocken. Er klingt beinahe gänzlich unbehandelt, dabei war es für den Produzenten Jay Pellicci harte Arbeit, ihn genau so hinzubekommen, wie Joe Haege das von ihm wollte. „Dadurch empfinde ich den Sound überhaupt nicht als simpel, verglichen mit dem von MARS VOLTA aber ist er das natürlich.“ Eine Mischung aus ästhetischen Vorstellungen und musikalischer Sozialisation also. „Wir sind vergleichsweise rohe Aufnahmen gewohnt und mögen diese Art von Klang“, meint Haege, gibt aber auch zu, dass dies auch eine Folge des Geldmangels ist. „Wir träumen natürlich davon, unbegrenzte Studiozeit zu haben und genügend Geld. Bis zu einem gewissen Grad wäre es sehr erfüllend, wenn wir mal ein richtig fett produziertes Album aufnehmen könnten. Mein Traumalbum hätte einen vollen Klang wie Aufnahmen von BLACK SABBATH und wäre so zackig wie SONIC YOUTH, und das alles bei voller Lautstärke über ein billiges Autoradio.“

Nach all den Jahren hat sich 31KNOTS immer mehr zu Joe Haeges Baby entwickelt, was nicht zuletzt am Drummertausch lag. Während der Aufnahmen zum Vorgängeralbum „High Time ...“ verließ Joe Kelly die Band Richtung PSEUDOSIX und wurde durch Jay Pellicci ersetzt, der zuvor bei DILUTE spielte und lediglich am Mischpult fummeln sollte. Dabei ist es nur eine Kuriosität am Rande, dass dadurch aus zwei Joes und einem Jay zwei Jays und ein Joe wurden. Mit der personellen Änderung ging auch eine veränderte Arbeitsweise einher. „Früher kam es nur ganz selten vor, dass ich mal einen Song ganz allein schreiben konnte, mit Pellicci haben wir nun einige Songs realisiert, die ich schon lange mal machen wollte. Die anderen entwickeln natürlich eigenständig ihre Parts dazu und bremsen mich auch, wenn sie das Gefühl haben, dass ich auf dem Holzweg bin, die Entscheidungen über Tempo, Rhythmus und Melodie liegen aber bei mir. Den anderen beiden bedeutet die Band sehr viel, beide haben ihren ganz besonderen Einfluss auf das Gesamtergebnis. Vor allem Jay Winebrenner, mit dem ich ja schon seit Ewigkeiten zusammen Musik mache. Aber ich bin die treibende Kraft dahinter und definitiv derjenige, der von der Musik besessen ist.“
Einen entsprechenden Status nimmt Musik in Joe Haeges Leben ein, wobei er zugibt, dass es sehr schwer ist, kein Geld mit seiner Kunst zu verdienen und dennoch so hart dafür zu arbeiten. „Es gibt nur ein paar Dinge in meinem Leben, die mir wirklich wichtig sind: Meine Freundin, meine Freunde, meine Katze, lesen, ein Bad nehmen und Musik. Musik steht nicht ganz oben auf der Liste, aber sie ist der Klebstoff, der alles zusammenhält. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich das so machen kann. Früher habe ich mir selber leid getan, aber schließlich wissen Millionen von Menschen nicht, wann und wie sie die nächste Mahlzeit bekommen, oder ob sie den nächsten Morgen erleben. Ich sollte mich also glücklich schätzen. Deshalb bin ich zufrieden damit, pleite zu sein, Piano und Gitarre zu spielen und an den musikalischen Projekten zu arbeiten, an denen ich arbeiten will.“

Und nun? Das aktuelle Album „Talk Like Blood“ ist gerade raus. Ein weiteres kleines Meisterwerk und bisheriger Höhepunkt des Schaffens. Die Band hat, in Kontinente und Label/Booking/Promotion aufgeteilt, eine kleine Armada von Menschen auf der ganzen Welt um sich geschart, die sich um deren Belange kümmern. Im Heimatland ist das Label größer geworden, die Promotion dadurch einflussreicher. Die Band hat sowieso außerhalb ihres Heimatlandes mehr und größere Aufmerksamkeit bekommen als innerhalb, aber sollte sich das in Zukunft umkehren und bedenkt man dann, dass hierzulande bekannte Bands aus den USA eh freundlicher aufgenommen werden, dann kann man sich für Joe Haege und seine Mitstreiter über eine vergleichsweise rosige Zukunft freuen. Das wäre doch mal ein schönes Zeichen und ein Beweis dafür, dass man sich – zum Abschluss ein wenig Pathos – als kleine Band durch Zähigkeit und Ausdauer hocharbeiten kann, und dass man auch als kleine Band, ohne Teil der „Industrie“ zu sein, seinen Lebensunterhalt allein durch die Musik bestreiten kann.