BABY JAIL

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Botschaften vom Friedhof

2012 überraschte die Ankündigung einer BABY JAIL-Reunion die Schweizer Musikszene. Die Gruppe hatte sich 1994 getrennt und lehnte seither sämtliche Konzertanfragen ab – bis auf jenes einmalige Konzert 2003 anlässlich der Best-Of-Doppel-CD „Auf Wiedersehen“. Nachdem die Nachfrage nach weiteren „einmaligen Konzerten“ nicht abebben wollte, entschied man sich für das Experiment einer einjährigen Konzertserie. Diese scheint so viel Spaß gemacht zu haben, dass BABY JAIL erneut im Studio verschwunden sind und – produziert von Olifr M. Guz (DIE ARONAUTEN) – nun das Album „Grüße aus dem Grab“ eingespielt haben.

Gegründet wurden BABY JAIL 1985 von Sänger und Gitarrist Boni Koller. Bald stieß Bice Aeberli – Sängerin, Bassistin, Akkordeonistin, später außerdem Mutter zweier gemeinsamer Söhne mit Koller – zur Formation. Mit wechselnden MitstreiterInnen veröffentlichte man vier LPs, ein Live-Album und ein Dutzend EPs, bevor sich 1994 das Paar und infolge dessen auch die Band trennte. Zu jenem Zeitpunkt hatte der ungestüme Züricher Kabarett-Punk aus den Kellern besetzter Häuser die Top Ten der Schweizer Hitparade erklommen. Der bissige Text zum Lied „Tubel Trophy“ traf mit seiner antirassistischen Botschaft offenbar den Nerv der Zeit. Und den eingängigen Refrain kriegt man auch heute noch zu allerhand passenden und unpassenden Gelegenheiten vorgesungen.

Anders als damals in den Neunzigern, weigern sich die „neuen“ BABY JAIL heute nicht mehr, den Hit zu spielen. Er kommt meistens ganz zu Anfang der Konzerte und wird zuweilen mit den Worten beendet: „Wenn ihr nur für dieses Lied gekommen seid, dann dürft ihr jetzt gehen.“ Die „Tubel Trophy“ – einst in Zweierformation und bloß mit Djembe und Indischer Flöte dargeboten – sei eine achtstrophige, uninteressant zu spielende Predigt, ließ Boni mehrfach verlauten, die Aussage des Textes sei 22 Jahre später allerdings leider aktueller denn je. Im Interview, welches kurz nach jenem Abstimmungswochenende stattgefunden hat, an dem die „Masseneinwanderungsinitiative“ der Schweizerischen Volkspartei (SVP) angenommen worden ist, erregt sich Boni nicht nur darüber, dass es der Partei mit der „immer gleichen Angstmacherei“ gelungen sei, die Abstimmung zu gewinnen, sondern zeigt sich auch schockiert darüber, wie viel salonfähiger ausgrenzendes Gedankengut inzwischen geworden ist. „Und dass ausgerechnet die Egoisten-Partei SVP mit dem Wort Maßlosigkeit agitiert, ist eigentlich unglaublich!“

„Tubel Trophy“ hin oder her – BABY JAIL haben nie explizit politische Texte geschrieben. Dennoch hat die Band im vergangenen Jahr auf dem Wagen einer Anti-Gentrifizierungs-Demo aufgespielt und die Kandidatur des inzwischen gewählten Alternative-Liste-Stadtrates Richard Wolff unterstützt. Wolff war der Band bekannt aus Rote-Fabrik-Zeiten, dem bis heute existierenden alternativen Kulturzentrum Zürichs. Im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung/NZZ erklärte Boni kürzlich, dass der Punk-Szene während der AJZ-Bewegung in den frühen Achtzigern der lustige „Pfadi-Groove“ abhanden gekommen sei und nach dem Zerbrechen der Bewegung sowieso Katerstimmung geherrscht habe, „Punk-Fan“ sei er jedoch geblieben.

Für mich, der als Pfadfinder seinerzeit die BABY JAIL-Stücke am Lagerfeuer gesungen hat, durchaus amüsant zu hören, wie Boni während des Telefoninterviews erneut in Richtung der Jugendorganisation frotzelt: Auf die Frage, wie die neuen Songs entstanden sind, meint er, dass für gewöhnlich zuerst der Text stehe und er diesen in einer „Pfadi-Version“ in den Bandraum bringe, wo das Stück arrangiert und ausgearbeitet werde. Das BABY JAIL-Interview anlässlich der Reunion 2012 ist übrigens in Ox-Ausgabe #104 erschienen und online im Archiv nachzulesen. Zur Geschichte von BABY JAIL empfiehlt sich außerdem das Buch von Lurker Grand und André P. Tschan über die Schweizer Post-Punk-Szene der Achtziger Jahre „Heute und danach“ (Edition Patrick Frey). Roman Wasiks Film („BABY JAIL – Die Rückkehr des lautesten Cabarets“) kann über babyjail.com bezogen werden. „Grüße aus dem Grab“ erscheint erneut auf Lux Noise.

Boni, die Songs auf dem neuen Album „Grüße aus dem Grab“ sind nach und nach entstanden und stückweise aufgenommen worden. Bereits vor dem ersten Reunion-Gig wurden zum Beispiel die Stücke eingespielt, welche anlässlich des 25. Jubiläums des Lux Noise-Labels auf eine 7“ gepresst worden sind.

Anfangs hatten wir zwei beziehungsweise drei neue Lieder, aber damals war noch nicht klar, ob wir tatsächlich weitermachen werden. Nun hat sich immer mehr Material angehäuft und ich habe die Sache schlussendlich vorangetrieben, trotzdem noch einmal ein Album zu machen.

Wie reagieren die Leute bei den Konzerten auf die neuen Stücke? Einige wurden live ja bereits dargeboten, andere sind tatsächlich brandneu ...

Außer dem Militärmarsch haben wir alle neuen Lieder im Programm. Wir probieren noch aus, wie wir die Stücke einbetten und mit den alten mischen können. Natürlich sind „Zum Glück“, „Sex“ oder „Prost“ – die alten Stücke, die alle kennen – immer noch die Knüller. Die neue Platte kaufen sich Leute häufig auf dem Konzert, sie ist ja erst gerade erschienen – aber die Sachen kommen dennoch gut an.

Roman Wasik hat mit seinem Film „Rückkehr des lautesten Cabarets“ das BABY JAIL-Comeback dokumentiert. Was war das für eine Erfahrung?

Es war ungewöhnlich, von einer Kamera begleitet zu werden, und bis zur Premiere an den Solothurner Filmtagen wusste ich nicht, was uns erwartet. Da wir mit dem Comeback nicht komplett auf die Nase gefallen sind, ist der Film zum Glück vorteilhaft für uns ausgefallen. Mit all dem Filmmaterial hätten verschiedene Geschichten erzählt werden können und ich hätte einiges weggelassen oder reingenommen – aber schlussendlich ist das Romans Film und ich finde gut, dass ihm da nicht alle reingeredet haben. Das Schweizer Fernsehen hat ihm ursprünglich Geld zur Finanzierung in Aussicht gestellt, dann jedoch wurde die verantwortliche Abteilung geschlossen und Roman stand mit einem finanziellen Problem da. Via Crowdfunding konnte ein Haufen Geld gesammelt und der Film damit realisiert werden. Die Leute, die da gespendet haben, sind so gesehen auch ein Maßstab und ich habe bisher niemanden sagen hören, dass das alles ein totaler Schwachsinn sei.

Mit der Punkband von Fidel, einem der Söhne von Boni und Bice, habt ihr inzwischen Konzerte bestritten. Der andere Sohn, Max, ist auf dem neuen Album zu hören und gibt am Ende der Neubearbeitung des BABY JAIL-Klassikers „Jede Tag“ eine Runde Beatbox zum Besten. Auf der CD-Version von „Grüße aus dem Grab“, die übrigens der Vinyl-Version beiliegt, befindet sich das Stück zusätzlich in chinesischer Sprache. Wie seid ihr denn darauf gekommen?

Unser allererster Schlagzeuger, Andy Grünberg, ist 1987 nach China ausgewandert, um dort Sinologie zu studieren und ist inzwischen – mit chinesischer Familie – wieder hier. Auf unserem Konzert am 1. August 2012 vor dem Klub Helsinki in Zürich standen er und die meisten anderen ehemaligen Mitglieder mit uns auf der Bühne. Er hatte seinen Spaß dabei und erkundigte sich anschließend, ob er der Band irgendwie behilflich sein könnte. Nun ja, einen zweiten Schlagzeuger brauchten wir nicht, aber ich fragte, ob er eine chinesische Version eines Liedes anfertigen möchte. Zusammen mit seinen Töchtern hat er uns im Studio gecoacht und nach den zwei bisher erhaltenen Rückmeldungen versteht man unseren Text nun sogar. Und ansonsten ist auf YouTube das „Mei Tian“-Video ja chinesisch untertitelt.

Im Klub Helsinki spielt Aad Hollanders TRIO FROM HELL seit Sommer 2004 allsonntäglich zum Tanz auf. Nach dem Tod von deren Bassist Rienk Jiskoot hat inzwischen BABY JAIL-Bice die Instrumentalformation wieder komplettiert. Die derzeit meistbeschäftigte „andere“ Band von BABY JAIL-Gitarrist Nico Feer dürften PAPST UND ABSTINENZLER sein, eben ist vom Schaffhausener Mundartquartett das Album „Geischterfahrer“ erschienen. Du trittst nach wie vor ab und an mit der Gangsta-Rap-Verulkung ALLSCHWIL POSSE auf, die eigentliche Hauptband heißt aber SCHTÄRNEFÖIFI: Hier werden seit 1995 neue Kinderlieder erfunden. Um sich der Theateraufführung „Die Odyssee für Kinder“ im Schauspielhaus Zürich gebührend zu widmen, wurde sogar die Veröffentlichung des BABY JAIL-Albums auf Februar 2014 verschoben. Wie lässt sich das alles miteinander vereinbaren?

Dieses Jahr werden wir mit BABY JAIL um die 15 Konzerte geben, vielleicht sind es dann auch zwanzig oder 25, mehr wird das sicher nicht. An einem anstrengenden Wochenende muss man sich einfach vor Augen halten, was der folgende Tag bringen wird. Habe ich zum Beispiel nachmittags ein SCHTÄRNEFÖIFI-Konzert, abends BABY JAIL und nachmittags darauf erneut SCHTÄRNEFÖIFI, dann muss ich aufpassen, dass die Stimme reicht. Auf den Rauch kann man es nicht mehr schieben, seitdem nirgends mehr geraucht wird – trotzdem dauert ein BABY JAIL-Konzert länger und in die Nacht hinein, man schreit zuweilen ... da muss ich schauen, dass ich mich anderntags bei SCHTÄRNEFÖIFI nicht mit Hustentabletten und Tee aufpäppeln muss. Freuen tue ich mich auf jedes Konzert, auch wenn wir heute etwas älter und bestimmt abgeklärter sind.