„Eigentlich unbegreiflich, dass soviel Schalk, Humor und Ironie überhaupt in Zürich gedeihen konnte“. So werden NILP im Beiheft zur fantastischen „Definitiv Zürich 1976-1986“-Compilation kommentiert. NILP waren eine dilettantische Kabarett-Punkband, welche von 1978 bis 1983 existierte und zwei Singles veröffentlicht hat. Nach dem Split sollte es nicht lange dauern, bis Sänger Christian „Boni“ Koller mit einer neuen Band startete: BABY JAIL. Und 2012 sind BABY JAIL nach langer Pause wieder unterwegs!
Die Geschichte: BABY JAIL stellten von 1985 bis 1994 einen Gegenpol zur „abgelöschten“, harten Zürcher Punk-Szene dar. Die Band war zwar in der Squatter-Szene verankert, spielte zahllose Benefizkonzerte und hat politisch Stellung bezogen, jedoch wurde nie mit der indoktrinierenden Ernsthaftigkeit gearbeitet, welche sich die Politpunk-Szene selbst auferlegt hat. Musikalisch wechselte sich Punkrock mit Schlagerschnulzen und selbsterfundener Schweizer Volksmusik ab, der Gitarre/Bass/Schlagzeug-Instrumentenpark wurde durch Saxophon, Handorgel und Blockflöte erweitert. Gesungen wurde in Englisch und Deutsch, Französisch und Zürcher Mundart, alles durchtränkt mit bitterbösem Humor. Selbst „Tubel Trophy“, jenes Lied, welches – trotz klar antirassistischer Position – zu Schweizer Kulturgut geworden ist, verpackt den Inhalt in eine Geschichte, welche auch den darin verspotteten Stammtischsäufer zum schenkelklopfenden Lachen mitgerissen hat. Somit waren BABY JAIL damals für einige ein rotes Tuch, für mich hingegen war es bloß ärgerlich, dass die Band auch bei irgendwelchen Trotteln Anklang gefunden hat; ihre Konzerte allerdings waren ein zu großer Spaß, als dass ich sie mir deswegen hätte entgehen lassen.
1994 war dann aber Schluss: Bice Aeberli, welche kurz nach der Gründung zu BABY JAIL gestoßen, für Bass, Akkordeon und den zweiten Leadgesang zuständig war, und Boni Koller hatten inzwischen zwei Kleinkinder zu Hause, was mit den immer länger dauernden Tourneen kaum mehr unter einen Hut zu bringen war. Die Band hatte zuvor mehrere Besetzungswechsel überlebt. Als sich das „Duo Fröhlich“ (so wurden Boni & Bice bei ihren Auftritten in Zweierformation jeweils angekündigt) privat trennte, bedeutete dies kurz darauf auch das Ende der musikalischen Zusammenarbeit.
Boni Koller begleitet mich neben seiner Tätigkeit mit BABY JAIL auch als Moderator von „Sounds!“, der besten Radiosendung aller Zeiten auf dem staatlichen Radiosender DRS3, durch meine Jugend. Die Jugendradio-Verballhornung „Brutalo“, welche kurz vor Mitternacht in „Sounds!“ ausgestrahlt worden ist, ist schuld daran, dass ich seit frühen Jugendjahren nie mehr vor Mitternacht schlafen gegangen bin.Später konzentrierte er sich auf das Gangsta-Rap-Verarschungsprojekt REVOLTING ALLSCHWIL POSSEE und die Kinderliederproduzententruppe SCHTÄRNEFÖIFI mit Bices Schwester (und FEMALE TROUBLE-Sängerin) Sibylle Aeberli.
Bice wurde zu einem späteren Zeitpunkt unter anderem Mitglied von THEE AVERELLS, also der Begleitband des AERONAUTEN-Sängers Guz auf Solopfaden, bei welcher auch LES CONGÉLATEURS-Sänger David Langhard aka Admiral James T. und Aad Hollander, Schlagzeuger der holländischen Anarcho-Punks ZOWISO (und auch THE EX, später unter anderem THE HAPPYSAD, HILLBILLY MOON EXPLOSION und TRIO FROM HELL) spielten. Ohne Guz, dafür wieder mit Boni entstand daraus 2001 die Moped-Rockband ZLOTY MACHINE, welche 2003 anlässlich der Veröffentlichung der Best-Of-Compilation „Auf Wiedersehen“ wiederum ein Konzert als BABY JAIL absolvierten. Boni und Bice waren ab 2002 außerdem mit EL WATUSI gemeinsam musikalisch unterwegs.
2012 bestehen BABY JAIL nun aus Boni Koller, Bice Aeberli, Aad Hollander und dem viel beschäftigten Gitarristen Nico Feer, welcher durch seine Zeit in Admiral James T.’s-Begleitband THE BELL GARDEN FOUR (mit Bice, Aad und A. Wolfensberger) zum Kosmos hinzugestoßen war. Das erste Konzert der Reunion-Tour wird in der Reitschule Bern stattfinden – in Bern und dessen Vorort Solothurn wurden 1994 auch die letzten Konzerte gegeben –, und was der Hauptstadt der Schweiz nun eigentlich diese Ehre verschafft, wollte ich von Boni Koller vor dem Tourstart wissen.
Boni, Bern und dessen Mundartrockszene, also Polo Hofer, ZÜRI WEST etc., wurde von BABY JAIL immer gegeißelt, warum spielt ihr jetzt ausgerechnet euer erstes Konzert dort?
Wir haben immer sehr gern im Gebiet Bern gespielt, allerdings gab es nach der Veröffentlichung unserer Single „Polo Lovers“ 1990 bis zum Hitparadenerfolg 1992 fast keine Konzerte mehr für uns im Kanton. In der Reitschule Bern und im Café Mokka Thun waren wir aber auch in diesen Jahren regelmäßig zu Gast, und so spielen wir auch auf unserer Reunion-Tour an diesen beiden Orten.
Die Kinder waren 1994 ein guter Grund für die Trennung der Band. Am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, werdet ihr in Zürich mit der Punkband des einen Sohnes auftreten ...
Das ist unser ältester Sohn Fidel Aeberli, 23, der ein Punk-Trio namens ENTWERTER gegründet hat. Da wir am 1. August in Zürich eine großzügige Gage und genügend Zeit zur Verfügung haben, dachten wir, es wäre eine lustige Idee, neben uns alten Berufsteenagern auch ein bisschen echte Jugendlichkeit auf die Bühne zu bringen. Fidels zwei Jahre jüngerer Bruder Max ist übrigens kein Punk-Fan, er interessiert sich viel mehr für Breakdance. NILP kennen beide kaum, BABY JAIL und später SCHTÄRNEFÖIFI haben sie hingegen ausgiebig gehört, als sie noch klein waren.
Wenn wir gerade dabei sind: Wo sehen sich BABY JAIL heute in der Punk/Squatter/Autonomen-Szene? Welche Relevanz gesteht ihr dieser heute noch zu?
Gute Güte, da kann wohl jeder von uns nur für sich selber sprechen. Ich war in den AJZ-Jahren aktiv dabei, später nur noch als Musiker für die Unterhaltung in besetzten Liegenschaften zuständig. Ich halte das Besetzen von Häusern nach wie vor für zulässig, wenn Spekulanten die Liegenschaften leerstehen oder verlottern lassen, um irgendwann einen besseren Preis oder die Abbruchgenehmigung zu erhalten. Heute käme es mir aber nicht mehr in den Sinn, mich in Straßenschlachten zu stürzen, um politisch etwas zu bewegen. Ich halte die Autonomen- und Punk-Szene – zumindest in der Schweiz und in Deutschland – für ziemlich stagnierend und völlig in Klischees gefangen. Aber wenn man jung ist und es einem gefällt ...
Und in Sachen Musik, wird da noch Punk gehört?
Ich kenne mich nicht besonders aus mit neuen Punkbands. Was in den letzten 20 Jahren als neu gefeiert wurde, kam mir meistens bekannt vor, einfach moderner produziert und von jungen Leuten gespielt. Für mich geht es nicht um Punk oder nicht Punk, sondern um – ich weiß es klingt blöd – Rock’n’Roll. Der ist eben schon länger in der Welt als seit den Siebziger Jahren. Ein alter Swing, ein Rock aus den Fünfzigern oder selbst ein Flamenco können viel mehr Punk haben als eine amtliche Mitgrölnummer von GREEN DAY. Ich habe schon immer offene Ohren gehabt, und die sind mit dem Alter nicht enger geworden. Selbstverständlich stoße ich auch immer mal wieder auf eine junge Band, die mir die Hoffnung vermittelt, dass Rock und Punk nicht längst zu Tode gespielt sind. Ich glaube, die Energie und die Haltung von Punk ist immer noch bestechend und tut auch heute noch jedem Konzert gut. Aber schau dich um: von HipHop bis Lady Gaga, überall Leute, die dem Punk ganz viel abgeschaut haben. Aber meistens reduziert sich heute alles darauf, Aufmerksamkeit zu erlangen und Geld zu machen.
Ist Geld auch der Grund für die BABY JAIL-Reunion oder was hat den Ausschlag dazu gegeben?
Wir werden seit unserer Auflösung 1994 regelmäßig gefragt, ob wir nicht bitte ausnahmsweise wieder einmal ein Konzert spielen könnten, und diese Anfragen haben in den letzten Jahren sogar zugenommen. Nun ist es 20 Jahre her, seit der „Tubel“ in den Schweizer Top Ten war, wir sind um die 50, und deshalb ist es sicher nicht zu früh für eine Reunion-Tour, wenn wir noch Rockmusik im Stehen machen möchten. Wir spielen nicht umsonst, aber der finanzielle Aspekt hat kaum einen Einfluss. Mit fast jedem anderen Job verdient man viel mehr. Selbst mit SCHTÄRNEFÖIFI, wo wir richtig gute Gagen haben, werde ich nicht reich.
Es war auch mal von einem Studiobesuch die Rede, daher würde ich gern Genaueres über mögliche neue Stücke wissen.
Es gibt momentan drei neue Lieder, vielleicht kommen noch zwei weitere dazu. Wir werden die neuen Sachen live spielen und auf YouTube veröffentlichen. Vermutlich gibt es davon im Herbst eine kleine Auflage von CDs, aber ein ganzes Album ist momentan nicht geplant. Wir gehen vorläufig mal davon aus, dass das Publikum vor allem die alten Sachen hören will, und es macht auch richtig Spaß, das Zeug wieder zum Leben zu erwecken.
Konzerte sind bis Ende des Jahres angekündigt. Ist dann definitiv Schluss oder ist alles wieder offen?
Wir lassen es mal auf uns zukommen und sehen dann weiter. Vorläufig ist nichts Weiteres geplant im nächsten Jahr. Im Moment freuen wir uns einfach auf die Konzerte und sind gespannt darauf, wie gut unser Publikum gealtert ist.
Diskografie:
1987: Four Serious Love Songs (7“ EP) | Sad Movies (Flexi)
1988: Oma kochte Enkelkind, denn sie wollte Sex! (12“ MLP) | Moonshine Baby (7“)
1989: Zum Glück (7“) | Bébé Gel (LP/CD – CD enthält sämtliche bisherigen Veröffentlichungen)
1990: The Polo Lovers: Nëi! (7“) | Truckerboy (7“) | I Won’t Go Back To School (7“) | Trau keinem über 11 (Kinder-MC inklusive Märchen-Hörspiel) | Primitiv (LP/MC/CD – CD wiederum inklusive sämtlicher neueren Veröffentlichung)
1991: 3 Songs (7“ EP) | Live Souvenir (Live-LP/CD)
1992: Tubel Trophy (CDS) | Trendy (LP/MC/CD)
1994: Laser Party (CDS) | Benefiz (LP/CD)
dazu einiges an Samplerbeiträgen, 1989/1993 etwa zur Unterstützung der Abstimmungskampagnen der „Gruppe für eine Schweiz ohne Armee“ (GSOA)
Die gesamte Diskografie ist – abgesehen von der Abschieds-LP/CD „Benefiz“ (1994) und der 2003 erschienenen Doppel-CD „Auf Wiedersehen“ (CD1: Best Of, CD2: Live-Mitschnitt von 1992) – nicht mehr erhältlich. Details sind nachzulesen auf swisspunk.ch
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #113 April/Mai 2014 und Benedikt "Lepra" Gfeller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #118 Februar/März 2015 und Benedikt "Lepra" Gfeller