Anfang 1996 wurde Jan Philipp Reemtsma, Sohn des Zigarettenfabrikanten Philipp Fürchtegott Reemtsma, der zwar keine Verbindungen mehr zur Firma seines Vaters hat, aber durch den Verkauf seiner Anteile daran zu den 150 reichsten Deutschen zählt, Opfer eine Entführung. Gut 30 Tage war er in den Händen von vier Entführern, bis man ihn gegen Zahlung von 30 Millionen DM Lösegeld wieder freiließ. Über seine Verschleppung, Gefangenschaft und Befreiung schrieb er unmittelbar danach das Buch „Im Keller“. 2018 folgte das Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ seines zum Zeitpunkt der Entführung 14-jährigen Sohnes Johann Scheerer, der inzwischen in Hamburg das Tonstudio und Label Clouds Hill betreibt, aber schon in jungen Jahren in Bands spielte, der die Geschichte der Entführung aus seiner Perspektive schildert. Dabei vermischt Scheerer seine persönliche „Coming of Age“-Geschichte mit den für alle Beteiligten unglaublich belastenden Ereignissen der Entführung, in deren Verlauf zwei Geldübergaben scheiterten und die verzweifelten Angehörigen ohne Wissen der Polizei eine erneute Geldübergabe organisierten, die schließlich zur Freilassung von Reemtsma führte. Hans-Christian Schmid, der für mich aufgrund seiner Filme „23“ (1998), „Crazy“ (2000) oder „Requiem“ (2006) zu den derzeit interessantesten deutschen Regisseuren gehört, verfilmte Scheerers Buch im letzten Jahr, inzwischen erschien er auch auf DVD und Blu-ray. Schmids erfolgreiche Adaption wird dabei nie zum platten, spekulativen Entführungs-Thriller und verzichtet auf plakative Spannungsmomente, stattdessen steht das Leid der Angehörigen im Vordergrund, was dieses eindringliche psychologische Drama aber nicht minder mitreißend macht.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #168 Juni/Juli 2023 und Thomas Kerpen