Tattoo ist Kunst und Handwerk zugleich. Oft bin ich von Tätowierungen eher auf der Basis der handwerklichen Leistung auf allerhöchstem Niveau begeistert; künstlerisch sind viele Motive den Wünschen der Kundschaft geschuldet, Tradition und altbekannter Ikonographie verhaftet.
Dieses französische Buch, dessen Begleittext auf Französisch wie auch auf Englisch abgedruckt ist, zeigt eine ganz andere Tattoo-Tradition, die sich erst in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat und unter dem Begriff „La Veine Graphique“ respektive „The Graphic Vein“, also „Der graphische Stil“ nur allmählich etwas Aufmerksamkeit erfährt.
Hier ist das Tattoo-Motiv selbst Kunst, eben nicht „nur“ Handwerk, statt auf Leinwand oder am Computer wird (oft freihändig) auf Haut gemalt, von jungen Tätowierern oft mit Bezug zur Hardcore/Punk-Szene, mit Erfahrung in graphischem Design.
Und so entwickelte sich hier in den letzten Jahren eine immer wieder expressionistisch anmutende Bildsprache, die so rein gar nichts zu tun hat mit der dagegen unglaublich altmodisch wirkenden Welt der bunten Drachenmotive und Tribals.
Die hier abgebildeten Fotos der Werke von Tätowierern aus unter anderem Frankreich, Belgien und Berlin (Léa Nahon, Topsiturby, Yann, Kostek, Jean Luc Navette, Peter Aurisch ...) lassen eine Nähe zur Bildsprache der Siebdruck- und Rockposter-Szene erkennen, zu Band-T-Shirt- und Album-Designs, zu avantgardistischen Print-Layouts und Photoshop-Kreationen.
Musas Stil etwa besteht auf wie willkürlich mit einem Pinsel über den Körper gezogenen zackige Linien, dazu bunte Farbverläufe ohne Konturen, ein hier abgebildeter Rücken sieht aus, wie von den wirren Wandkritzeleien eines Irren bedeckt.
Ein beeindruckender wie verstörend abstrakter Stil.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #104 Oktober/November 2012 und Joachim Hiller