Ich bin sicher nicht der Einzige, der gefragt nach dem besten deutschen Schauspieler, „Jürgen Vogel“ antworten würde. Eigentlich komisch, der Typ hat schiefe Zähne, schütteres Haar und sieht nun wirklich nicht wie Tom Cruise aus.
Aber vielleicht ist es genau das, denn Vogel ist Vogel, so wie Robert De Niro Robert De Niro ist, und das kann er in Matthias Glasners filmischer Tour de force eindrucksvoll unter Beweis stellen, einer der besten und kompromisslosesten deutschen Filme der letzten Jahre, wenn nicht sogar ein absolutes Meisterwerk.
Von ursprünglich sechs Stunden wurde der Film erst auf dreieinhalb und dann auf 164 Minuten heruntergeschnitten, um ihn noch halbwegs Kino-kompatibel zu machen. Ein langer Film, aber seinem Thema durchaus angemessen, und gerade seine Länge macht die Intensität des gemeinsamen Babys von Vogel und Glasner aus, ein emotionales Jammertal, das niemand unbeeindruckt durchschreiten dürfte.
Vogel spielt darin den Serienvergewaltiger Theo, der nach neun Jahren aus dem Knast entlassen wird und nun den Wiedereinstieg in die Gesellschaft versucht, nachdem ihm während der Haft Medikamente bei der Blockierung seiner Triebe geholfen hatten.
Jetzt hilft ihm nur noch sein eigener Wille, der aber den Widerständen des alltäglichen Lebens nicht gewachsen zu sein scheint. Seine Versuche, ein normales Verhältnis zu Frauen aufzubauen, sind von wenig Erfolg gekrönt, bis er auf Netti trifft, die Tochter seines Chefs in der Druckerei, wo er arbeitet, die auf ihre Art eine ähnliche zerrissene Persönlichkeit wie Theo besitzt, der Täter und Opfer zugleich ist.
DER FREIE WILLE läuft im Gegensatz zum ähnlich gelagerten, positiveren THE WOODSMAN mit Kevin Bacon (da war es ein Kinderschänder) auf den ernüchternden Schluss hinaus, dass es für Theo keine wirkliche Hoffnung gibt, aber bis dahin hat er eine der bewegendsten wie verstörendsten Liebesgeschichten des deutschen Kinos erzählt, in dem sich die großartigen Hauptdarsteller einem bemerkenswerten Seelenstriptease unterziehen.
Glasner und Vogel, der auch am Drehbuch beteiligt war, bohren sich förmlich in ihre Figuren hinein, kehren ihr Innerstes nach Außen, und diese chaotische Emotionalität geht unter die Haut.
Aber auch sonst spart DER FREIE WILLE nicht mit schockierenden Szenen, wie schon die Vergewaltigung zu Beginn zeigt, die um Realismus bemüht ist, im Gegensatz zu der distanzierten Ästhetisierung in Gaspar Noés sinnentleertem IRRÉVERSIBLE.
In Glasners Film liegen Brutalität und Zärtlichkeit nah beieinander, was für viele Zuschauer schwer zu schlucken sein dürfte, ebenso wie die Form von Erlösung, die DER FREIE WILLE für seine Hauptfiguren bereithält.
Es geht hier nicht um Analysen oder Lösungen, sondern um die Darstellung individueller menschlicher Konflikte, wodurch der Zuschauer selbst letztendlich gefordert ist, was er aus dem Dargestellten macht.
Ein verdammt mutiger Film, mit dem sich Glasner nach SEXY SADIE und FANDANGO erneut als einer der vielleicht interessantesten Regisseure Deutschlands empfiehlt. Und nach 164 Minuten verspürt man beinahe Lust, sich dem Film noch mal mit dem Audiokommentar von Glasner und Vogel auszusetzen, um mehr über diese faszinierende und mitreißende Produktion zu erfahren, die Arthaus jetzt als Doppel-DVD mit informativem Bonus-Material veröffentlicht hat.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #72 Juni/Juli 2007 und Thomas Kerpen