Trau niemals Kritikern, vor allem keinen amerikanischen, die gerade das lahme Remake des John Wayne-Klassikers TRUE GRIT als Film des Jahres abfeiern. Vor gut zwei Jahren sah sich hingegen Spike Lee mit seinem Film MIRACLE AT ST.
ANNA, so der Originaltitel, einer regelrechten Hasskampagne ausgesetzt, denn man könne so ein wichtiges Thema wie „Der Einsatz von Schwarzen Soldaten im 2. Weltkrieg“ doch nicht in so einem blödsinnigen, überlangen Machwerk verarbeiten.
Die Kardinalfrage lautet dabei natürlich: Ist der Film wirklich so schlecht, wie alle Welt behauptet? Da ich noch nie ein besonders inniges Verhältnis zu Spike Lee hatte (sieht man mal von 25TH HOUR und INSIDE MAN ab) kann ich die Frage relativ entspannt beantworten: Nein, ist er nicht.
Ein Film mit Schwächen möglicherweise, dem es vielleicht gut getan hätte, wenn Lee ihn um ein paar Minuten gestrafft hätte, aber der dennoch über zweieinhalb Stunden eine interessante Geschichte zu erzählen hat, vor allem im Vergleich zum unerträglichen SAVING PRIVATE RYAN, der die amerikanische Volksseele natürlich mehr anspricht.
Eine Geschichte, die damit beginnt, dass 1983 ein Schwarzer namens Hector Negron in einem Postamt, wo er arbeitet, einen Italiener vor seinem Schalter mit einer Luger erschießt, die Standardpistole der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg.
Und in der Wohnung von Negron findet man in der Abstellkammer den Kopf einer wertvollen Statue, die auf einer von den Nazis zerstörten Brücke in Florenz stand. Danach springt die Handlung ins Jahr 1944, als die Alliierten in Italien einmarschieren und eine große Anzahl schwarzer Soldaten bei dem Versuch, einen strategisch wichtigen Fluss zu überqueren, von deutschen Truppen dezimiert wird.
Nur vier Soldaten erreichen das andere Ufer lebend und müssen sich fortan alleine hinter den feindlichen Linien durchschlagen. Zu einer Art Schlüsselerlebnis wird, als die Truppe einen kleinen italienischen Jungen aus einem bombardierten Haus rettet, der seltsame Visionen hat.
Autor James McBride, der hier sein eigenes Buch adaptierte, und Lee verlassen spätestens an dieser Stelle das Feld des normalen Kriegsfilms und bedienen sich dabei an Elementen des italienischen Neorealismus und verpassen MIRACLE AT ST.
ANNA gleichzeitig einen Anflug von magischem Realismus, bei dem vor allem die Religiosität und Spiritualität der Protagonisten im Mittelpunkt steht, die im weiteren Verlauf mit der harten Lebensrealität der italienischen Dorfbevölkerung konfrontiert werden, zwischen überzeugten Faschisten und Untergrundkämpfern.
Aber Lee wäre nicht Lee, wenn er dabei nicht auch deutlich das Thema Rassismus thematisieren würde. Zum Schluss ergibt alles auf wundervolle Art wieder Sinn, auch wenn der Weg dorthin für manchen Zuschauer vielleicht zu lang und steinig sein mag und er sich dabei in irgendwelchen Nebenhandlungen wie im Geflecht der zahlreichen Charaktere verheddert.
Was aber gerade den großen Reiz von MIRACLE AT ST. ANNA ausmacht, der fast ein Überangebot wirklich bemerkenswerter Szenen zu bieten hat, nur vielleicht ganz am Schluss etwas zu pathetisch wird, nachdem er uns zuvor einen fantastisch inszenierten Kampf zwischen den Amerikanern und Deutschen in den engen Gassen eines italienischen Dorfes geliefert hatte.
Wahrscheinlich war der größte Fehler von Lee dabei, einen Film ohne jeglichen Massenappeal zu drehen und stattdessen seiner künstlerischen Vision ohne Wenn und Aber zu folgen, was ihn für unterschiedlichste Form von Kritik anfällig machte.
Man kann sich also überlegen, ob man lieber von den üblichen stereotypen Kriegsfilmen gelangweilt werden möchte, wo ein Blick ins Geschichtsbuch oft spannender ist, oder sich auf ein Werk einlässt, das auf lebendige, fantasievolle und empfindsame Art Fakten und Fiktion miteinander verbindet.
Ab Mitte Februar als Kauf-DVD erhältlich.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #94 Februar/März 2011 und Thomas Kerpen