„Die Kohlfee“ („La Fée aux Choux“, der französische Klapperstorch) von Alice Guy (1873-1968) war 1896 vermutlich der erste Film mit einer fiktiven Handlung überhaupt. Er knackte zudem die Grenze von einer Minute und wurde damit zum längsten Film des Jahres. Zuvor begnügte man sich mit kurzen dokumentarischen Aufnahmen von alltäglichen Begebenheiten. Erhalten ist nur Guys eigenes Remake aus dem Jahr 1900, auf diversen Videoplattform zu finden und ziemlich befremdlich anzuschauen (echte Säuglinge werden hier recht unsanft auf den Boden gelegt/geworfen). Damit sind auch schon mehrere Grundprobleme benannt: Viele ihrer Filme sprachen das Publikum schon bald nicht mehr an, wurden weggepackt oder entsorgt und galten in Prä-Internetzeiten überwiegend als verschollen. Guy wurde nahezu vollständig vergessen. Dabei hatte sie zwischen 1897 und 1912 hunderte Kurzfilme gedreht, zunächst in Frankreich als Produktionsleiterin der Firma Gaumont gearbeitet, später in den USA ihr eigenes Studio gegründet und früh mit Ton- und mit Tricktechnik experimentiert, bevor ihr Mann Herbert Blaché ihr gesamtes Vermögen an der Börse verzockte und damit das schleichende Ende ihrer Karriere einläutete. Diese und viele weitere Stationen im Leben einer bemerkenswerten Frau erzählen Szenarist José-Louis Bouquet und Zeichnerin Catel Muller in klar umrissenen, dezent in Graustufen schattierten schwarzweißen Bildern. Ein sehr umfangreicher Anhang mit Filmografie, Bibliografie, Kurzbiografien wichtiger erwähnter Persönlichkeiten und einer Chronologie mit den wichtigsten Ereignissen rund um die Entwicklung des Kinos und Guys Schaffen lassen keine Wünsche offen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #169 August/September 2023 und Anke Kalau