ZELLEN

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Nicht mehr Grau

GRAUE ZELLEN waren in den Neunziger Jahren eine der relevanten deutschsprachigen Polit-Hardcore-Bands. 2001 lösten sie sich auf. 2013 spielten sie zum Geburtstag der Rendsburger T-Stube noch einmal zwei Konzerte, wobei die von vielen erhoffte Reunion allerdings ausblieb. Jetzt sind sie wieder zurück – zwar mit gekürztem Namen und leicht veränderter Besetzung, aber immer noch mit der gleichen Wut im Bauch. Wir sprachen mit Sänger Jan über die Gründe für den Neuanfang, die ersten Konzerte, neue Songs und die Aktualität alter Texte. ZELLEN sind außerdem Knuth (gt), Micha (gt), Jens (bs) und Kai (dr).

Was waren seinerzeit die Gründe für die Auflösung von GRAUE ZELLEN? Und was war der Anlass für die Reunion?


Die Gründe für unsere Auflösung waren vielfältig. Nach dreizehneinhalb Jahren Band und über 500 Konzerten waren wir schon ziemlich ausgebrannt und brauchten einen Break. Rückblickend hätte man vielleicht eher pausieren sollen, ich weiß es nicht. Die Entscheidung war plötzlich im Raum und wir haben sie dann sehr konsequent durchgezogen. Es gab grandiose Abschiedskonzerte in Wien, Karlsruhe, Köln, Berlin, Hamburg und Rendsburg und dann war es – zack! – vorbei für viele Jahre. Immer wieder traten Leute in der Zeit an uns heran, ob wir noch mal spielen, aber es hat irgendwie nie gepasst. Als wir dann 2013 von T-Stuben-Leuten aus Rendsburg angesprochen wurden, ob wir auf dem vierzigsten Jahresfest des genialen selbstverwalteten Zentrums spielen wollen – die T-Stube war viele Jahre ja wie unser zweites Wohnzimmer –, haben wir zugesagt. Im September 2013 haben wir dann an zwei Abenden hintereinander in der ausverkauften T-Stube mit vielen ausrastenden Leuten gespielt, das sind unvergessene Konzerte ... aber auch danach war von einer Reunion bei uns nicht die Rede. Knuth und TR haben in anderen Bands gespielt, es hat einfach nicht gepasst. Vor knapp zwei Jahren lud Knuth Kai und mich dann in den Proberaum zum Musikmachen ein, einfach zum Spaß und mit der vagen Idee, was Neues auf die Beine zu stellen. Mit dabei war Jens, der Bassist von Knuths anderer Band ZYCHO. Wir spielten schließlich alte GRAUE ZELLEN-Songs und das hat so dermaßen viel Spaß gemacht, dass wir uns entschieden, wieder aufzutreten. Mit Micha kam noch ein zweiter Gitarrist dazu und los ging’s!

Wann standet ihr dann wieder auf der Bühne?

Im Dezember 2018 gab es ein erstes Konzert mit TURBOSTAAT und RANTANPLAN auf einem fetten Kollektiv-Geburtstag von Freunden der Angeliter Befreiungsfront/ABF in Angeln bei Flensburg. 2019 haben wir dann bis jetzt einige weitere sehr schöne und euphorische Konzerte spielen dürfen. Gerade vergangenes Wochenende waren wir mit KINA und KOYAANISQATSI im Clash, Berlin – es war ein großartiger Abend mit vielen alten und neuen Bekannten. Dass Tobi von Twisted Chords die Doppel-LP „Gegenrhythmus 1989-1997“ parallel zu unserer Neufindung veröffentlicht hat, ist ein wirklich glücklicher Zufall. Schon zum T-Stuben-Konzert kam von ihm die Anfrage, ob wir nicht Bock hätten, die ganzen alten GRAUE ZELLEN-Songs, die mittlerweile nicht mehr erhältlich sind, wieder zu veröffentlichen. Die drei LPs/CDs, die auf Rodrec erschienen, „Voran ins Gestern“, „Nichts bleibt stehen“ und „Krauts“, bekommt man ja noch über diverse Mailorder, die ersten beiden EPs, die auf Skuld erschiene Split-LP mit NAFTIA und die ganzen Samplerbeiträge hingegen gab es nirgends mehr zu kaufen. Zudem lag bei uns noch der eine oder andere unveröffentlichte Song herum. Tobi hatte Bock, diese Songs auf Vinyl rauszubringen. 2018 hatten wir nach teilweise langer Suche die meisten alten Tonbänder wiederentdeckt und ließen das ganze Material von Ulf aus Kiel remastern. Twisted Chords veröffentlichte im Februar 2019 dann diese Compilation unserer Frühphase als wunderschöne Doppel-LP mit Poster, Download-Code und viel Liebe zum Detail. An dieser Stelle noch einmal ein riesiges Dankeschön an Tobi von Twisted Chords, seine Hartnäckigkeit war bei alledem nicht ganz unwichtig.

Wer ist von der letzten Besetzung noch mit dabei? Und was machen die anderen?

Knuth, unser Gitarrist, Kai, unser Schlagzeuger – und mein Bruder – und ich am Gesang sind von der GRAUE ZELLEN-Urbesetzung dabei. Unser Bassist TR fehlt. Er spielt in Hamburg bei RESTMENSCH und SORT OF SOBER. TR hat vorher viele Jahre bei NEUE KATASTROPHEN gespielt. Die letzten zwei Jahre bei GRAUE ZELLEN hat außerdem Steffen Frahm die zweite Gitarre gespielt. Er war nach GRAUE ZELLEN jahrelang bei KEINE ZÄHNE IM MAUL ABER LA PALOMA PFEIFEN ... aktiv und tüftelt aktuell wieder an einer neuen Formation. Neu bei den ZELLEN sind Jens am Bass und Micha als zweiter Gitarrist. Jens spielt zusammen mit Knuth, wie schon erwähnt, noch bei ZYCHO und Micha ist außerdem Gitarrist bei den TYPHOON MOTOR DUDES und den PATHFINDERS OF MOSH. Jens kennen wir alle schon ewig aus unseren gemeinsamen Zeiten in Rendsburg. Micha ist seit Jahren mit Knuth und Jens unterwegs. Kai und ich haben ihn erst durch den Neustart mit den ZELLEN kennen gelernt. Es ist großartig mit den beiden! Ich habe neben den ZELLEN mit einem Freund ein kleines Seitenprojekt, bisher noch ohne Namen, bei dem wir ausschließlich Singer/Songwriter-Songs covern, countrymäßig nur mit Akustikgitarre und Gesang. Kai ist in Berlin als Künstler tätig. Er ist Maler. Wir waren – bis auf die Zeit seit der „Krauts-LP“ mit Steffen – immer wir vier: Kai, Knuth, TR und ich.

Und wieso die Namensänderung?

Wir waren GRAUE ZELLEN, seit wir uns als junge Dorfpunks zusammengetan haben, um gemeinsam Musik zu machen. Als wir vor eineinhalb Jahren wieder gestartet sind, fanden wir die Idee gut, die personelle Veränderung im Namen zu dokumentieren, zumindest für den Start. Abgesehen davon haben uns früher die Leute auch so oft gerne einfach nur ZELLEN genannt. Aktuell geht es, was den Namen angeht, manchmal drunter und drüber. So wurden wir für ein Konzert auch mal als GRAUE ZELLEN angekündigt, unsere Facebook-Seite läuft auch noch über den alten Namen, da die Leute uns sonst vielleicht nicht finden. Mal gucken, wohin sich das entwickelt. Ich finde beides cool.

Wie fühlt es sich an, wieder auf der Bühne zu stehen? Stehen unten „nur“ alte und bekannte Gesichter?

Was die Konzerte angeht, müssen wir alle geschlossen sagen, dass es einfach fantastisch ist, wieder die Songs zu spielen und alles rauszuhauen. Das macht glücklich! Nach dem Berliner Konzert hat einer auf Facebook gepostet, dass wir fünf während des ganzen Konzertes gesmilet hätten, und das trifft es. Die Stimmung unter uns ist super und macht mega Bock auf mehr! Es waren bisher total euphorische Abende dabei, insbesondere die beiden ersten Konzerte in Flensburg und Kiel, aber auch das Wilwarin Festival im Juni oder Berlin letzte Woche haben uns von der Resonanz, der Stimmung im Publikum und auf der Bühne her total umgehauen. Uns war nach so vielen Jahren überhaupt nicht klar, wo wir mit der Band stehen. Erfreulicherweise waren die Reaktionen großartig, zum Teil sogar überwältigend, die meisten Konzerte waren Partys ohne Ende. Wir treffen auf den Konzerten bisher natürlich eimerweise alte Freunde und Bekannte aus gemeinsamen Tagen, aber erfreulicherweise sind auch sehr viele jüngere Leute im Publikum, die die Songs kennen.

Habt ihr schon neue Songs?

Ja, im Live-Set spielen wir bisher vier bis fünf neue Stücke und sie kommen sehr gut an. Es ist schön zu sehen, dass die Leute sichtbar positiv überrascht sind, neben den bekannten Sachen plötzlich auch völlig neue zu hören. Wir sind schon diverse Male gefragt worden, wann die neuen Songs rauskommen. Ein neuer Song, „Herbst“, behandelt beispielsweise die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden in den deutschen Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und Sobibor in Ostpolen. Ich war vor einigen Jahren an den Gedenkorten dieser barbarischen Vernichtungsfabriken der deutschen Nationalsozialisten im Rahmen einer antifaschistischen Gedenkfahrt. Als die Rote Armee sich näherte, hat die SS alle Tatorte abgerissen, nichts sollte auf ihre grausamen Verbrechen hinweisen. Heute sind dort neben kleinen Ausstellungen nur Wälder, nichts als Wälder. Wälder auf der Asche von Millionen von Toten. Ich habe damals geschworen, alles dafür zu tun, dass die Millionen von jüdischen Opfern niemals vergessen werden und das widerwärtige Kalkül der SS nicht aufgehen darf. Dieser Song ist ein winziger Mosaikstein gegen das Vergessen. Ich liebe diesen Song. Das Publikum nimmt ihn ebenfalls sehr gut an. Ein anderer Song, „Die Welt ist schön“, thematisiert die ganzen kaputten Nazi-Internet-Trolle, die ihren menschenverachtenden Dreck Tag für Tag in die virtuelle Welt kübeln, da ihnen das Internet die Möglichkeit dazu gibt. Früher hat dieses Pack vielleicht am Stammtisch Gleichgesinnte getroffen und dort besoffen zusammen abgehetzt – jedoch ohne nennenswerte Außenwirkung. Durch die sozialen Netzwerke vernetzt sich dieses widerwärtige Gehasse und permanente Herabwürdigen anderer nun jedoch soweit, dass sie phasenweise sogar die Kommentarspalten dominieren und das Gefühl vermitteln, sie seien mehr – obwohl sie nur eine jämmerliche Kombo von ehemaligen Stammtischhetzern und bezahlten Bots sind. Zum Glück gibt’s da immer mehr Gegenwind im Netz und die Nazi-Troll-Armee gerät in die Defensive. Weitere Songs sind schon in Arbeit. Künstlerisch brennt es immer noch in uns. Jede Veröffentlichung war ja ein weiterer Schritt einer Entwicklung, das hat uns immer interessiert: Was ist mit unseren Mitteln, mit dem, was wir mit all den unterschiedlichen Charakteren und Biografien mitbringen, möglich.

Ihr habt als GRAUE ZELLEN Bands wie MINOR THREAT, TERVEET KÄDET und SO MUCH HATE gecovert. Welche Bands oder Songs würdet ihr, wenn überhaupt, heute covern?

Ehrlich gesagt hätte ich immer noch am ehesten Bock, Songs von den Helden meiner Jugend zu covern, also irgendwie alten Klassiker von Bands, mit denen uns auch persönlich viel verbunden hat, wie zum Beispiel SO MUCH HATE. Eben Songs, die mich mein Leben lang begleitet haben und die mir immer noch wichtig sind.

Viele eurer alten Texte sind noch ziemlich aktuell, etwa „Manipulation der Köpfe“ oder „Von Flucht und offenen Messern“. Wie fühlt sich das an?

Gut, weil die Songs offensichtlich in gewisser Weise zeitlos sind. Schlecht, weil sich zeigt, dass die Probleme in unserer Gesellschaft nicht weniger werden, sich die Verhältnisse im Gegenteil an vielen Punkten sogar noch deutlich verschärft haben. Als wir jetzt den Song „Von Flucht und offenen Messern“ von 1994 wieder hörten, waren wir über die Aktualität des Textes selbst fast erschrocken, problematisiert er doch das europäische Grenzregime, bei dem es schon damals nur um Abschottung ging. Elend, Armut, Hunger, Perspektivlosigkeit werden weltweit durch die liberalisierten, kapitalistischen Märkte geschaffen beziehungsweise verschärft. Ganz zu schweigen von den Millionen, die aufgrund von Kriegen, die nicht selten mit exportierten deutschen Waffen geführt werden, fliehen müssen. Wenn zum Beispiel im kurdischen Teil Syriens, in der demokratisch selbstverwalteten Region Rojava, die Kurden durch einen terroristischen Angriffskrieg der Türkei auch mit deutschen Panzern angegriffen werden, ist das alles einfach nur noch krank. Und wenn die Leute dann aufbrechen, ja aufbrechen müssen, und ihre eigene Lebenssituation durch Flucht verbessern wollen, werden sie an den Grenzen abgewiesen, ertrinken im Mittelmeer oder werden abgeschoben. Da hat sich die Situation in keiner Weise verbessert. Durch die Hetze gegen Flüchtlinge, insbesondere durch die völkisch-nationalistische Faschopartei AfD, ist die Situation sogar noch viel krasser geworden, die Flüchtlinge werden mit einem viel offenerem Rassismus konfrontiert. Da stimmt die Aussage des Stücks auf bittere Weise immer noch eins zu eins. Auch „Der Untertan“ oder die Antifa-Hymne „Never surrender“ sind zeitgemäßer denn je.

Schlimm, wenn solche Texte nichts an Aktualität verlieren.

Als diese Texte entstanden sind, hätten wir uns nicht im Ansatz vorstellen können, dass so eine Dreckspartei wie die AfD, die sich völlig offen und unverhohlen rassistisch und antisemitisch präsentiert, mal in fast allen Parlamenten zweistellig vertreten ist. Eine Partei, in der ein Bernd Höcke ungestraft äußern darf, dass er ein umfassendes „Programm der Remigration“ durchführen wird, also „Ausländer raus“ umfassend umsetzen wird, wenn die AfD die Macht dazu bekommt. Und wenn er dann noch äußert, dass bei diesem Prozess „Teile der deutschen Bevölkerung unweigerlich verlorengehen werden“, denken diese Nazis die Lager für die Opposition, für ihre Gegner offenbar schon ganz unverhohlen mit. Das alles macht uns wahnsinnig wütend und das wollen wir mit unserer Musik und auf unseren Konzerten in jedem Fall deutlich rüberbringen, und das geht mit den Songs ganz hervorragend. Genauso wichtig sind uns die persönlicheren Themen, Songs wie „Plötzlich Ruhe“, „Dach“, „Sage nie ...“ oder „Dieser Sommer“ haben für uns immer noch die gleiche Dringlichkeit wie damals, als sie in ganz verschiedenen Situationen entstanden sind. Für uns ist es, vor allem wenn wir sie live spielen, als seien sie eben erst geschrieben worden.

Nachdem mit dem Doppelalbum „Gegenrhythmus“ gerade eure „Werkschau“ erschienen ist, wird es weitere Rereleases geben?

Wir haben, wie gesagt, schon jetzt neue Stücke im Set und arbeiten an weiteren. Da wir alle weit auseinander wohnen, in Berlin, Hamburg, Rendsburg und Kiel, ist es uns nicht möglich, so oft zu proben. Also war es uns erst mal wichtig, unser Live-Set mit alten Hits und paar neuen Songs an den Start zu bringen. Nun haben wir ein Set, mit dem wir mit ein, zwei Proben schnell live-kompatibel sind. Wir hoffen allerdings sehr, dass wir im Laufe des Jahres genügend Zeit für Neues finden. Auf eine neue Platte hätten wir schon sehr viel Bock.