Neu und ganz besonders: „Darkbloom“, die erste WE CAME AS ROMANS-Platte in fünf Jahren, ist zugleich die erste nach dem tragischen Tod von Kyle Pavone im August 2018. Mit nur noch einem Sänger verändert sich zwar auch der Sound, doch im Fokus stehen die Texte – und somit der Schicksalsschlag der Band aus Michigan. Wir blicken gemeinsam mit Gitarrist Joshua Moore Song für Song auf den Trauerprozess zwischen Wut, Vorwürfen und einem eindringlichen Appell.
Es sind zwei Tage vor der Veröffentlichung von „Darkbloom“ und wenige Stunden vor der ersten (Pre-)Release-Show, als wir WE CAME AS ROMANS-Gitarrist Josh zum Gespräch treffen. Fertig ist die neue Platte bereits seit April 2021, doch unter anderem Engpässe in der Vinylproduktion haben für die eineinhalbjährige Verspätung gesorgt. „Wir brachten es nicht übers Herz, das Album lediglich in der digitalen Version zu veröffentlichen und das Beste zu hoffen – das wäre Kyle nicht gerecht geworden.“
Rock it or leave it
Die ersten Jahre nach dem Drogenunfall ihres Sängers und Bandkollegen sind schwierig. „Einfach furchtbar“, bringt es Josh auf den Punkt. „Wir saßen oft zusammen und haben ernsthaft überlegt, ob wir als Band weitermachen können.“ Das ist auch eine gesangliche Herausforderung. Shouter Dave Stephens arbeitet intensiv an seiner Vocal-Range, um zusätzlich cleane Passagen abdecken zu können, Bassist Andy Glass und auch Josh unterstützen dabei. Er fährt fort: „Als wir herausfanden, dass es zu fünft funktionieren würde, keimte aber die nächste Unsicherheit auf: Wollen wir das überhaupt? Denn ohne Kyle die Bühne zu betreten und eine Dreiviertelstunde schluchzend Gitarre zu spielen, war schlichtweg zu schmerzhaft. Nach vierzig Shows fragten wir uns: Wieso tun wir uns das an?“
Zur damaligen Zeit befindet sich die Band im Trauerprozess in einer Phase der Depression. Konzerte spielen, neue Songs schreiben – ohne Kyle? Wenn man sich sowieso schon am Boden fühlt, treffen einen solche Momente umso härter. Und während sich alle Bandmitglieder in Psychotherapie begeben, jeder einen persönlichen Umgang mit der Trauer findet, wird immer klarer: WE CAME AS ROMANS fortzuführen, bedeutet auch, die Erinnerungen an Kyle lebendig zu halten, ihn weiterhin einen Teil der Band sein zu lassen. „Letztendlich ist das für uns die einzige Möglichkeit, die Situation zu bewältigen. Es tut zwar immer noch weh ...“ Joshs Stimme bricht und er streicht sich nachdenklich über den Oberlippenbart. „Seien wir ehrlich, es gibt keine positive Seite an dem Ganzen. Wir können aber dankbar sein, dass wir diese wunderbare Zeit mit Kyle hatten, wir können die Freundschaft mit ihm wertschätzen und gute Erinnerungen aufrechterhalten. Ich glaube, die Trauer und der Schmerz werden niemals verschwinden, irgendwann im Alter von sechzig Jahren werde ich an Kyle denken und es wird ganz bestimmt noch immer wehtun. Aber gemeinsam Musik zu machen, hilft uns, den Schmerz besser zu ertragen.“
„Darkbloom“
Trauer und all ihre Begleiterscheinungen dominieren auf „Darkbloom“ – Verzweiflung, Wut, Angst, irgendwann dann Akzeptanz. Dabei spiegelt jeder Song einen Schritt im Trauerprozess wider, ein weiteres Stadium von Emotionen und Erfahrungen. WE CAME AS ROMANS verbringen buchstäblich Monate damit, die Tracklist der Platte festzulegen. Jeden Tag wird sie geändert, um den besten Flow zu kreieren, die richtige Message rüberbringen. Nur eines steht von Beginn an fest: Der Titeltrack soll auch der Opener sein. „Der Song gibt inhaltlich sehr ehrlich zu, dass wir uns in einer furchtbaren Situation befinden, nicht das Licht am Ende des Tunnels sehen, völlig verloren sind. Aber irgendwo gibt es diesen Hoffnungsschimmer, diese Möglichkeit, dass wir weitermachen und als Band und Menschen wachsen können.“
„Plagued“
„Um eine Frage kommt man nicht herum“, meint Josh. „Wieso ist uns das passiert? Hier geht es nicht um Selbstmitleid, dennoch kann es vorkommen, dass dich dieser Gedanke überwältigt. Dann fühlst du dich sehr bedrängt, bist verzweifelt und wirst wütend. Das verändert die eigene Persönlichkeit, wenn plötzlich so eine durchschlagende Emotion deine Trauer dominiert. Ich war einfach wütend, dass ich in dieser Situation steckte, dass das jetzt mein Leben ist.“
„Black hole“
Gemeinsam mit Caleb Shomo von BEARTOOTH steht eine weitere Komponente der Trauer im Fokus: die Angst. Josh seufzt. „Es geht bei Trauer auch darum, in seinen Ängsten gefangen zu sein beziehungsweise sich dort selbst gefangen zu halten. Das ist richtiger Mist, aber es passiert.“
„Daggers“
Ein weiteres Feature, diesmal mit Rapper Zero 9:36, – und WE CAME AS ROMANS wagen es, den ersten hoffnungsvollen Gedanken zu fassen. „Daggers“ ist ein nach innen gerichteter Song, bei dem es darum geht, die Schmerzpunkte der Trauer zu identifizieren, um sie bekämpfen zu können. „Verstehe mich nicht falsch, ich gehe seit vier Jahren zur Therapie, es macht immer Sinn, sich professionelle Unterstützung zu suchen, aber du musst auch mit dir selbst und an dir selbst arbeiten. Das kann dir keiner abnehmen“, erklärt Josh.
„Golden“
Der wohl persönlichste Song der Platte erzählt von der Woche, in der sich die Band von Kyle verabschieden muss. Nach einer ungewollten Überdosis liegt der 28-jährige Sänger noch einige Tage im Krankenhaus, dann steht die Welt plötzlich still. „Es ist wie ein Informationsüberschuss, der dazu führt, dass du gar nichts mehr wahrnimmst, während alles an dir vorbeizieht“, beschreibt Josh. „Du kannst keinen klaren Gedanken mehr fassen, nicht handeln, fühlst dich überwältigt und verloren, kannst einfach nicht erkennen, wie um Himmels Willen es weitergehen soll.“
„One more day“
„Einer meiner Lieblingssongs!“, verkündet Josh und lächelt dabei leicht gequält. Im Prozess der Trauer und vor allem bei dem Drogentod eines geliebten Menschen fragt man sich irgendwann unweigerlich: Wie hätte ich das verhindern können? „Am Ende machen wir uns keine Vorwürfe. Nicht mehr. Das bewahrt uns aber nicht davor, noch immer solche Gedanken zu haben“, gesteht Josh. „Jeder von uns würde alles geben, um noch einen einzigen Tag mit Kyle zu erleben, ihn noch einmal zu sehen ...“ Josh hält kurz inne, sein Blick schweift in die Ferne. Er atmet tief ein. „Egal, wie viel Frieden du in den vielen schönen Erinnerungen finden kannst – und wir haben eine Menge, schließlich haben wir über ein Jahrzehnt gemeinsam verbracht –, wie gerne würde ich noch einmal mit ihm sprechen, ein einziges Mal, obwohl wir tausende Gespräche geführt haben.“
„Doublespeak“
Der sicher bizarrste Track des Albums kehrt zurück zur Wut. Dieser Song sollte möglichst absurd und unerwartet klingen. Wieso? Damit er zum Inhalt passt. „In der Woche, in der Kyle starb, gab es einen signifikanten Treiber meiner Wut“, beginnt Josh. „Die Heuchelei von Leuten, die plötzlich überall in sozialen Netzwerken ‚Rest in peace, Kyle‘ schrieben, sich aber ein paar Monate zuvor noch unter irgendeinem YouTube-Video das Maul über seinen Gesang zerrissen hatten. Ihr habt öffentlich kundgetan, dass ihr unsere Band nicht mögt. Spart es euch, Kyle jetzt als Legende zu bezeichnen, weil er verdammt noch mal gestorben ist. Das tut furchtbar weh.“
„The anchor“
Inzwischen sind wir im letzten Drittel des Albums angelangt und ich stolpere über eine Textzeile des nächsten Refrains: „This grief is a ladder that I must climb“ – die Trauer ist eine Leiter, die ich erklimmen muss. „Jede Stufe symbolisiert eine andere Emotion. Trauer ist nicht immer traurig, sondern umfasst ein weites Spektrum an Gefühlen“, beschreibt es Josh. „Ich musste wirklich lernen, dass Verlust und Trauer nicht nach Plan verlaufen. Manchmal lässt mich eine Kleinigkeit wieder daran denken, wie ich neben Kyles Bett im Krankenhaus stand, und es macht mich schrecklich traurig. Dann gibt es Momente, in denen wir uns mit der Band an eine Situation mit Kyle auf Tour erinnern, und herzlich über die gute Zeit, die wir mit ihm hatten, lachen müssen. Es gibt keinen Zeitplan dafür, wann dich welche Emotion erfasst.“
„Holding the embers“
Von vornherein als Ballade geplant, erzählt dieser Song davon loszulassen, was einem nicht guttut. Gar nicht so einfach. „Es ist okay, traurig, deprimiert oder verängstigt zu sein, wird aber zum Problem, wenn du es zu deinem Normalzustand machst“, erklärt Josh. „Das passiert leicht, es ist schließlich bequem. Du erlebst dann immer den gleichen Tag, der ist zwar traurig, aber die Gewohnheit gibt dir immerhin Sicherheit. Ich befand mich eineinhalb Jahre in diesem Stadium, habe einfach akzeptiert, dass so mein neues Leben aussieht. Dabei verschenkt man aber das Potenzial, weiterzumachen und wieder Freude zu empfinden.“
„Promise you“
Beim Gedanken an den letzten Song des Albums beginnt Josh dezent zu strahlen: „Das ist das Beste, was ich je geschrieben habe – und zugleich das Traurigste“, offenbart er. Klingt kurios? Für Josh öffnete sich im Schreibprozess das erste Mal die Tür zu der vagen Vorstellung, dass Erinnerungen an Kyle irgendwann mit einem wohligen Gefühl statt purem Schmerz verbunden sein könnten. Der Refrain handelt von seiner Lieblingserinnerung mit dem ehemaligen Sänger. „Er hat sich nie für die Texte interessiert, nur für Melodien. Er hätte den größten Schwachsinn gesungen, solange es gut klang.“ Josh lächelt. „Aber eines Tages haben wir uns zusammengesetzt und Lyrics geschrieben und tauchten dabei in ein tiefes Gespräch über Kyles Leben ein. Daraus entstand ‚Promise me‘ von unserem letzten Album ‚Cold Like War‘.“ Dieser Track sollte zu Kyles persönlicher Hymne werden, nie zuvor war er einem Song so verbunden gewesen. „Und ich hätte nicht stolzer sein können, dass er sein tiefstes Inneres mit mir geteilt hat“, ergänzt Josh. „Es ging darum, dass er Angst hatte, einmal verloren oder vergessen zu sein.“ Und das neue „Promise you“? Es ist ein Versprechen an Kyle, dass er immer ein Teil von WE CAME AS ROMANS sein wird, immer einen Platz im Herzen seiner Freunde hat.
It’s okay not to be okay
Bevor wir das Gespräch beenden, hat Josh noch einen Wunsch: „Bitte lest euch die Texte zu unseren Songs durch. Wir hoffen, dass wir jeder Person, die Verlust erfahren hat – und es muss gar nicht der Tod eines geliebten Menschen sein, jede Art von Verlust gilt –, etwas Trost spenden können. Denn genau das habe ich damals auch gebraucht. Wir sind gesellschaftlich auf einem guten Weg, mentale Herausforderungen zu enttabuisieren, aber haben noch viel vor uns. Ich will niemanden an den Pranger stellen, aber das Mindset, das in älteren Generationen vorherrscht, ist Teil des Problems. ‚Sei stark, mach weiter‘ funktioniert nicht für alle. Für Menschen, die sich öffnen und verletzlich zeigen, können solche Sprüche ein echter Schlag ins Gesicht sein. Wer diese Erfahrung macht, öffnet sich nicht noch einmal, sondern wird sich nur daran erinnern, wie sehr das wehgetan und nichts gebracht hat.“
„Wenn es euch nicht gut geht, holt euch Hilfe – von einer Person aus dem Umfeld, der ihr vertraut, oder von Profis. Ich spreche heute noch jede Woche mit meiner Therapeutin, auch auf Tour“, sagt Josh mit Nachdruck. „Und wenn ihr eine Person kennt, die sich keine Unterstützung sucht, bitte, bitte reicht ihr die Hand. Seid dabei vorsichtig, drängt sie nicht, lasst sie aber wissen, dass ihr für sie da seid, wenn sie euch braucht. Seid sensibel, aber präsent. Ich habe das viel zu spät in meinem Leben gelernt, womit wir wieder bei ‚One more day‘ wären. Wäre ich bewusster mit meinem Freund umgegangen ...“ Joshs Stimme bricht, als er mir einen traurigen Blick zuwirft. Der Optimismus fällt ihm sichtlich schwer. „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, aber ich werde alles dafür tun, damit so etwas Schreckliches nie wieder passiert. Selbst wenn ihr das Gefühl habt, eure Bemühungen reichen alleine nicht aus, leistet ihr vielleicht dennoch einen entscheidenden Beitrag. Verpasst diese Chance bitte nicht, sie kann Leben retten.“
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© by Fuze - Ausgabe #97 Dezember 2022 /Januar 2023 2022 und Jeannine Michèle Kock
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