In der kurzen Nahrungskette der Vinylknappheit und Presswerkauslastung ist der Sammler ein nicht zu unterschätzender Faktor, denn für wen wird der ganze Scheiß denn gepresst? Ja klar, für den geneigten Musikfan ... Träum weiter!
Münzen, Märklin-Lokomotiven, Briefmarken, Schmetterlinge, Steine sammeln ist nicht mehr wirklich hip, und aus dem Panini-Alter wächst man auch irgendwann raus. Spätestens wenn dir vier Zehnjährige sämtliche Aufkleber auf dem Schulhof abgerippt haben, weil dich einer als Mitschnacker denunziert hat und du stiften gehen musstest, brauchst du eine Ersatzbeschäftigung für Tüten aufreißen und Sticker schief einkleben. Wer zu dämlich fürs Kinderkriegen, einen frühen Drogentod, Saufen oder Haustiere ist, füllt sein Leben eben mit anderen nutzlosen Dingen. Vinyl ist das neue Ding, selbst ohne Plattenspieler kann jede:r mitmachen, einlagern, zocken, wie bei Aktien mit Rendite wieder abstoßen und anderen mit dem neuesten Hobby furchtbar auf die Eier gehen.
Nur wegen Vinylsammlern gibt es jeden Scheiß in neun bis zehn Farben, fette Boxen mit sechs einseitig bespielten LPs und die 48. Neuauflage einer Platte, an der es eigentlich nicht mangelt. Nur für dich wurde die Einfach-LP mit vier Live-Stücken auf Doppel-LP gepumpt, damit du eine Ausrede hast, sie dir noch mal in den Schrank zu pressen. Zwischen Luxuseditionen und zig Farb/Pressvarianten, alle zusammen im Zehner-Die-hard-Bundle, passt kein Finger. Warum allerdings das ganze Farbspektrum abgedeckt wird, erschließt sich dem Kenner nicht. Wo doch jeder weiß, dass rotes Vinyl mit Abstand am besten klingt (Luden Paule, Vinylexperte), dicht gefolgt von Lila und geswirltem Kakao. Vinylsucht: Es ist exakt dasselbe wie eine Oldtimer-Sammlung, nur ohne Altreifen.
Erblast
Hast du dich nie gefragt, warum du nie eine „United Blood“-, „Lower Eastside Crew“- oder „What Holds Us Apart“-7“ abbekommen hast? Weil es Menschen gibt, die jede, wirklich jede Pisspressung derselben Platte besitzen müssen. Ich hege dezente Vorbehalte gegenüber solchen Leuten, die dreißig Versionen derselben 7“ nebeneinander stellen, um dann zu jammern, dass ihnen noch der Blaue-Mauritius-Firstpress fehlt, vor allem wenn ich keine einzige davon jemals in den Fingern halten durfte, weil diese Horder auch jede Neuauflage wie ein Heuschreckenschwarm absorbieren und so für einen Engpass sorgen, wo eigentlich keiner ist. Dabei sind es quasi „unsere Kinder“, diese Amöben, für die ein „Upgrade“ eine zehn Nummern niedrigere originalverschweißte LP (MIB) bedeutet. Nach Erhalt wird die Neuerwerbung in den entsprechenden Onaniervorlagenforen stolz präsentiert, weil man bei der Aufnahme mit Nummer 51 ja quasi „fast im Studio mit dabei war“.
Also noch mal, wer hat’s erfunden, das sprichwörtliche Hardcore-Plattensammeln?
Jugend forscht!
So gesehen haben wir sie mit herangezüchtet, die Süchtigen, die nachts nicht schlafen können, nur weil ihre Kopie eine andere Coverfarbe als die bei Discogs hat. „Hier steht gelbes Hochglanzpapier, meine hat aber ein mattes Cover in zartrosa Tönen, und dann war da noch ein Flyer vom Label dabei, der nirgends steht. Ist das jetzt die Erst-, die Zweit- oder die Drittpressung, womöglich sogar die rarste von allen?“ Und das alles nur, weil der Typ von Vinyl Boogie damals einen Stapel buntes Papier wahllos in seinen Kopierer gestopft hat, für die einzige Auflage, die je gepresst wurde, jetzt aber schon in vier Auflagen gelistet ist, die einige natürlich allesamt ihr eigen nennen müssen. So entsteht künstliche Knappheit.
Die intensive Beschäftigung mit Pressmatrizennummern, anhand derer sich die 1998er von der nahezu identischen 1999er Pressung unterscheiden lässt, erfüllt ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Auftrag. Nichts ist wichtiger und erfüllender, als Detailfragen aus dem letzten Jahrtausend zu klären. Selbst bei mir, der sich nicht einmal genau daran erinnern kann, welche Konzertkarten er vor zwei Jahren für wen gekauft hat und ob wir das Ganze eigentlich abgerechnet haben, knistert es förmlich, wenn sich ein uraltes Mysterium über ein angebliches Textbeiblatt nach jahrzehntelanger Recherche in Luft auflöst, einfach weil es nie eines gab. Ungeklärte Fragen? Man kann den Labelbetreibern ellenlange Mails mit der Bitte um Aufklärung schreiben (lebenswichtig!) und vergeudet so seine Zeit wenigstens nicht mit dem Surfen auf irgendwelchen Pornoseiten, auf denen man zufällig mit dem Suchbegriff „Vinylfetisch“ gelandet ist, außerdem zettelt man so schon keine unnötigen Revolutionen an, verplempert sein Geld mit Kippen oder fällt auf Heiratsschwindler rein. So gesehen hat dieses Hobby eigentlich nur Vorteile!
Farbig
Eigentlich ja eine schöne Sache, das bunte Vinyl für die Vorbesteller. Paradoxer- oder interessanterweise sind es dann aber stets die Schnarchzapfen, die Unmengen dafür hinblättern, weil sie es wieder einmal verpennt haben. Ihre Dealer: die Vinyl-Skammer, die sich von einer Auflage gleich mal 25 Exemplare sichern, um sie einzeln zum Freundschaftspreis von nur noch 90 Euro wieder zu verkloppen. „Sorry, aber für die muss ich jetzt doch leider so viel nehmen.“ Wie buchstabiert man Vinylkapitalismus und freie Marktwirtschaft noch mal? „D-I-S-C-O-G-S“!
Dort gibt es auch ganz frisch im Universum des Lifestyle-Sammelns: Discogs-Popup-Stores, die für drei oder vier Stunden existieren, ausschließlich die rarsten und seltensten Platten für einen vierstelligen Betrag anbieten (Paypal aber nur bis 900 Euro akzeptieren, Direktüberweisung und Kreditkarte ist aber okay), um nach vier bis fünf Sofortkäufen wieder spurlos zu verschwinden. Gier funktioniert einfach immer! Wer’s nicht glaubt, aber viel Zeit hat, setzt einfach mal die Top 10 bis 20 der Ganzjahreshochpreischarts auf seine Suchliste und schaut tagsüber immer mal wieder rein. Ganz toll gemacht, alle Platten in „authentisch“ gebrauchtem Zustand mit kleineren Fehlern, aber eben genau die Dinger, die auf den Suchlisten von Leuten mit dicker Brieftasche ganz oben stehen. Ich garantiere großes Kino.
Discogs ist übrigens auch der Ort, wo man von freundlichen Amateuren nur aufgrund seiner NIRVANA-Platten in der eigenen Sammlung auf mögliche alte T-Shirts im Schrank angebettelt wird. Natürlich nur der „Liebe“ zu alten Lumpen wegen und nicht etwa, weil sich hinter dem Absender ein Vintage-Shop auf Etsy verbirgt.
Letzte Hoffnung
Wer zu blöd fürs Sammeln ist oder eigentlich gar keine richtige Zeit für so was, aber viel Geld hat, dem bleibt immer noch der Record Store Day (kein Rant ohne RSD!). Der RSD ist der Tag für die Powernapper unter den Sammlern, die zum „Angeln“ auch an einen Put & Take-Teich fahren. Es geht um das Kauferlebnis, die Jagd und den puren Rausch, wenn man mit den großen Scheinen wedeln kann. Beim RSD kann einfach nix schiefgehen, teuer ist es sowieso und die Druckbetankung spart eine Unmenge an Zeit. Stets passendes Argument: Wäre es nicht gut und/oder essentiell, würden die Label das ja sicher auch nicht wiederveröffentlichen. Beispiele aus dem aktuellen Kalenderjahr?
- Rick Astley „Whenever You Need Somebody“
- DIRE STRAITS „Love Over Gold“
- Donna Summer „s/t“
- Mike Oldfield „Tubular Bells II“
- Mampfred Mann dem seine Erdband – insgesamt vier Mal dabei (bitte 2023 nicht wieder wählen)
Pures Gold! Und es kommen ja nicht nur Rereleases raus, es gibt auch semilegale Live-Aufnahmen und geplünderte Archive von Musikern, die sich nicht mehr wehren können, weil sie tot sind, den Labels für ein paar Silberlinge ihr gesamtes Archiv überschrieben haben oder tot sind und die Nachkommen den Scheiß für ein Butterbrot denselben Labels überlassen haben.
Der RSD ist ein Franchise, das so überflüssig ist wie parfümiertes Toilettenpapier mit Bärchenaufdruck. Für die, die nicht konnten, bleibt immerhin noch die Nachlese zum vierfachen Ausgabepreis über die bereits erwähnte Plattform, wo Läden die Platten einstellen, die in ihrem Ladengeschäft niemand wollte oder nicht finden konnte, weil man sie beim RSD „irgendwie“ übersehen hat. Quasi der brandaktuelle Warehousefound, der seltsamerweise immer im absoluten Hochpreissektor stattfindet. Aber wir wollen nicht wirklich auf den Machern des RSD herumtrampeln, so gut kann es ihnen ja offenbar nicht gehen, schließlich ist die deutsche RSD-Seite immer noch so beschissen programmiert wie vor 14 Jahren. Navigation wie bei den alten Römern, bis Seite 5 über die Ziffern, danach geht’s nur noch über die Pfeile vorwärts, und bei jedem Seitenwechsel darf man dann wieder nach oben scrollen.
Coffetablebook
Schönster und jüngster Auswuchs: „Hard to find – The rarest and most valuable Vinyl 1990-2020“, der Platten-Michel, eine Art Briefmarkenkatalog mit vielen Bildern, ganz wenig Text und nur Platten, die über 100 Euro kosten. Ob die Musik auf den Platten scheiße ist oder hörenswert? Nebensache! Geben Sie all Ihre Daten ein, dann schätzen wir Ihr Haus, Ihr Auto, Ihren Hodendurchmesser und Ihren IQ. Was für eine geniale Idee, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?
Überteuerte Klassiker sammeln ist idiotensicher und taugt auch für Trottel ohne eigenen Geschmack, denn was andere bereits hundertfach als essentiell befunden haben, bewahrt einen davor, sich selbst eine Meinung oder gar Geschmack bilden zu müssen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #162 Juni/Juli 2022 und Kalle Stille