Letztes Jahr versuchten wir in mehreren Artikeln zu ergründen, wie sich die Situation für jene kleinen DIY-Unternehmungen darstellt, die neben dem Live-Geschäft der Motor unserer Szene sind: den Labels. Und damit den Leuten, die mittels teils über Jahrzehnte aufgebauten Strukturen LPs von all unseren Lieblingsbands veröffentlichen und meist auch über einen hauseigenen Mailorder unters Volk bringen. Wie hat sich die Lage seitdem verändert? Meine Fragen beantworteten Thomas von Power It Up, Alex von Kidnap Music/Tante Guerilla beziehungsweise PASCOW, Tom von Flight 13, Gunnar von Gunner Records, Chris von Sunny Bastards, Monster von Wanda Records, Bönx von Bakraufarfita, Jürgen von Rookie Records und Onni von Fire and Flames.
Bitte stell dich und dein Label in ein paar Sätzen vor.
Thomas, Power It Up: Mein Name ist Thomas, ich bin Sozialarbeiter, habe einen Tischtennisladen und mache Power It Up mittlerweile seit 29 Jahren. Ich habe in dieser Zeit über 300 Veröffentlichungen herausgebracht, zum Beispiel INFERNO, TERVEET KÄDET, RIGHTEOUS PIGS, BRUTAL VERSCHIMMELT, ÄNI(X)VÄX, AGATHOCLES, OHL, EMILS, STOSSTRUPP ...
Alex, Kidnap Music/Tante Guerilla: Ich bin Alex und zusammen mit unserem Team betreibe ich das Label Kidnap Music. Mit der Labelarbeit habe ich Ende der Neunziger begonnen, wobei die ersten zehn Jahre nur dazu dienten, die Platten meiner Band PASCOW und die Bands von Freund:innen zu veröffentlichen, für die sich damals kein anderes Label interessierte. Das hat sich in den letzten zehn Jahren geändert und mittlerweile kennt man uns als Label von etwa THE BABOON SHOW, AKNE KID JOE, LYGO, WONK UNIT und eben PASCOW.
Tom, Flight 13: Ich bin Tom Haller und betreibe neben dem Flight 13-Mailorder und -Laden in Freiburg das Label Flight 13 Records. Ich mache das seit Ende der Achtziger, begonnen hat alles mit meiner eigenen Band SCARECROW, deren erste Releases ich damals auf dem Flight 13-Vorgänger Weed Productions veröffentlicht habe, die übrigens soeben via Golden Core Records als „Complete Discography“ neu aufgelegt wurden. Anfang der Neunziger gab es die Umbenennung in Flight 13 Records und andere Bands kamen dazu. Mit OIRO entstand eine starke Düsseldorf-Connection, die dann auch BRATSETH beziehungsweise jetzt JOSEPH BOYS hervorbrachte. Vinyl-Editionen der BOXHAMSTERS und DIE GOLDENEN ZITRONEN folgten, durch Shows in Basel lernte ich DR. PARANOISE kennen und wenig später dann die LOMBEGO SURFERS, deren fast kompletter Katalog bei uns erscheint. In Zusammenarbeit mit meinem guten Freund und früheren Mitarbeiter Jürgen Schattner von Rookie Records habe ich das Label weiter professionalisiert und einen Musikverlag gegründet, um unsere Bands noch besser unterstützen zu können. Seit circa drei Jahren ist Tobi beim Label mit dabei und kümmert sich unter anderem um die Herstellung, den Digital-Vertrieb, Administration und die Promoplanung. Das „Signen“ von Bands machen Tobi und ich gemeinsam. Musikalisch ist alles Punkrock, Post-Punk und Garage-Punk. Wir verstehen uns auch als regionales Label, das heißt wir haben auch einige Bands aus Freiburg wie SCHALKO, LEOPOLD KRAUS WELLENKAPELLE, DAS BLANKE EXTREM oder die MALADRO!TS auf dem Label und arbeiten mittlerweile Richtung Katalognummer 200.
Gunnar, Gunner Records: Ich bin Gunnar von Gunner Records aus Bremen. Ich betreibe das Label seit 15, 16 Jahren und veröffentliche Punk und punkverwandte Musik auf CD, LP und digital. Ich versuche, spannende Musik von Bands rauszubringen, die vielleicht noch nicht jeder kennt. Dabei sollen die Veröffentlichungen für jeden bezahlbar sein.
Chris, Sunny Bastards: Wir sind Sunny Bastards Records, bestehend aus Sunny und mir. Wir haben letztes Jahr unser zwanzigjähriges Jubiläum irgendwie verpasst. Wir veröffentlichen seit 2002 Musik und früher auch Filme aus dem subkulturellen Bereich von Punk, Ska, Oi! bis Billy, Hardcore oder halt einfach, worauf wir Lust haben. Seit zwei Jahren sind wir auch nebenbei eine Art Vinyl-Broker für befreundete Bands und Labels, haben das aber bislang noch nicht so an die große Glocke gehängt. Ach ja, einen subkulturellen Club in Essen haben wir auch noch, das Don’t Panic, und veranstalten dort jede Menge Konzerte außerhalb des Mainstreams.
Monster, Wanda Records: Ich bin Monster und betreibe das Label und den Mailorder Wanda Records jetzt schon seid über zwanzig Jahren. Ich denke, Wanda Records als Label steht für 1a Punkrock-Releases, hüstel, und der Mailorder für eine Top-Auswahl und schnellen Versand, hüstel-hüstel.
Bönx, Bakraufarfita: It’s me, Bönx! Zusammen mit Fö habe ich vor 19 Jahren, das Label Bakraufarfita Records gegründet. In erster Linie kennt man uns wegen des unaussprechlichen Namens und Veröffentlichungen von WAR WITH THE NEWTS oder LEONARDO IM CABRIO. In meiner raren Freizeit sitze ich im Esszimmer meines Landsitzes in Brandenburg, trinke Rotkäppchen-Sekt, warte darauf, dass der Jahreswechsel abgeschlossen ist, und beantworte Fragen, die wie auch die Antworten, nicht mit dem Rest des Labels abgesprochen sind. Prost!
Jürgen, Rookie Records: Mein Name ist Jürgen Schattner, ich betreibe mein Label Rookie Records seit über 25 Jahren – „finest punkrock since 1996“, zuerst nur als Hobby, seit 2006 auch zum Broterwerb. Seit 2009 führe ich unter Rookie Publishing verschiedene Verlagseditionen mit meinem Verlagspartner Gerhard Zimmermann und im vergangenen Jahr habe ich mit Musiker, Komponist und Produzent Sebastian Kiefer noch Rookie Mastering ins Leben gerufen. Außerdem mache ich seit vielen Jahren auch Promotion für externe Bands und Labels.
Onni, Fire and Flames: Wir sind Fire and Flames Music aus Kiel, ein kollektiv geführtes linksradikales Label vorrangig für Punk, Oi!, Ska und HipHop mit politischem Anspruch. Gegründet wurde Fire and Flames 2002 in Boston und anschließend in Göttingen aufgezogen. 2013 haben wir, das aktuelle Kollektiv, das Projekt von unseren Vorgänger:innen übernommen und nach Kiel geholt. Zu diesem gehört auch ein Klamottenlabel, ein Mailorder und ein Ladengeschäft. Im September 2022 haben wir das zwanzigjährige Bestehen von Fire and Flames mit unserem jährlichen Festival gefeiert.
Wie stellt sich ganz generell die Situation für ein DIY-Label aktuell dar?
Thomas: Durch die Pandemie hat sich vieles geändert, lange Wartezeiten in den Presswerken, Mangel an bestimmten Rohstoffen, größeres Interesse der Majors, wieder aufs Vinyl zurückzugreifen.
Alex: Ich glaube, die Situation für DIY-Label ist etwas schwieriger und vielleicht auch weniger spannend geworden. Auf der einen Seite gibt es die Vinylkrise, die das Veröffentlichen von Schallplatten deutlich erschwert hat, und zum anderen gibt es die Entwicklung hin zum Digitalen, wodurch es vielen Bands leichter fällt, ihre Musik selbst zu verbreiten, und sie ein klassisch arbeitendes Label weniger brauchen, als dies früher der Fall war. Gleichzeitig erleben wir es täglich, dass ein Team aus guter Band, guter Labelarbeit, kreativer Promotion und engagiertem Booking nach wie vor das beste Netzwerk bilden, um eine Platte und die dahinterstehenden Künstler:innen nach vorne zu bringen. Die Labelarbeit hat sich also etwas vom reinen Plattenmachen hin zum Netzwerken entwickelt.
Tom: Die letzten zwei, drei Jahre ist es sicherlich schwieriger geworden, weil durch die verschiedenen Krisen eins zum anderen kam. Das hat zu nicht unerheblichen Preissteigerungen und langen Lieferzeiten geführt. Und natürlich sitzt das Geld bei den Leuten nicht mehr so locker ...
Gunnar: Für mich wird es gerade immer schwieriger, da die Preise für alles so unglaublich anziehen. Am stärksten ist das bei den Produktionskosten für CD und LP zu merken, die sich innerhalb der letzten Jahre mehr als verdoppelt haben. Das bedeutet, dass die Preise meiner Veröffentlichungen sehr viel höher geworden sind und das somit gegen meine Idee arbeitet, gute Musik von neuen Bands zu fairen Preisen, die sich jeder leisten kann, zu veröffentlichen. Es gilt ernsthaft zu hinterfragen, wie lange bei dieser Spirale mitgemacht werden soll. Das nächste Problem sind die Lieferzeiten für die Produktionen. Vielen Kund:innen fällt es schwer, das nachzuvollziehen, und auch die Promo fällt schwer, da es sein kann, dass zwar ein Release und die dazugehörige Band überall sehr gut besprochen und gepusht werden, aber das Ergebnis verpufft, weil die Tonträger noch nicht verfügbar sind, sogar oft auch erst bis zu fünf Monate später ankommen.
Chris: Es ist ein bisschen mehr „back to the roots“, mehr Eigeninitiative und Arbeit beim Vertrieb durch aufgebaute Szene-Netzwerke bei gleichzeitig schwieriger gewordenen Produktionsbedingungen und Kostenexplosion. Großvertriebe verlieren zunehmend an Bedeutung, bedingt durch viele weggefallene Handelsstationen. Labels, die in der Szene etabliert sind und sich ein Netzwerk mit Plattenläden und Mailordern aufgebaut haben, beliefern sich wieder mehr gegenseitig, bis hin zu Tauschgeschäften. Vinyl ist zum Glück wieder, insbesondere in der Subkultur, das vorrangige Medium, aber teurer, langfristiger und viel schwieriger zu produzieren. CDs verlieren weiter an Bedeutung und die geringe Absatzstärke mit Kleinauflagen kann einen Studiobesuch und die Produktion nicht mehr tragen. Streaming ist zwar weiter auf dem Vormarsch, aber gerade für DIY-Labels nur ein Zubrot, da der Payback in keinem Verhältnis steht und das Geld leider woanders gemacht wird. Ich nenne es insgesamt mal „Gesundschrumpfen“ und mag diese aktuelle Schwarzmalerei gar nicht, da es auch immer positive Nebeneffekte und Chancen gibt. Klar, wenn man keine Anpassungen vornimmt und entsprechend reagiert, kann man das alles nur negativ sehen und wird im Worst Case tierisch gegen die Wand fahren. Aber war das nicht immer schon so?
Monster: Seit 2021 etwa ist es unmöglich geworden, in Bezug auf Releases irgendetwas zu planen. Man versucht es trotzdem immer wieder und manchmal hat man auch wirklich Glück, aber meistens eben auch viel Pech. Am besten hat man keinen Zeitdruck und die Platte kommt dann halt irgendwann. Alles andere raubt nur Nerven und macht einen irre krank. Ich muss dazu sagen, dass ich Wanda Records nur im Nebenerwerb betreibe und damit nicht den Lebensunterhalt finanzieren muss. Also bin ich in der komfortablen Situation, nicht unbedingt etwas releasen zu müssen. Hart ist es natürlich für die Bands, die zwölf Monate oder länger auf ihre Platte warten.
Bönx: Chapeau! Generell und aktuell in einer Frage, das bringt mich ins Grübeln. Generell sieht es natürlich so aus, dass dieses ganze DIY-Ding reine Selbstgeißelung ist. Um ein paar Cent zu sparen, konfektionieren wir die meisten LPs, CDs und Tapes selber, versuchen, bei den günstigsten und dennoch vertretbaren Presswerken und Druckereien unseren Kram zu bekommen, um coole Preise für unsere Kund:innen hinzubekommen. Tja, und aktuell, da sieht es ganz genauso aus. Wir machen das ja nun seit 19 Jahren und so richtig viel hat sich da nicht verändert.
Jürgen: Die letzten Jahre hatten sicher einschneidende Auswirkungen für alle Beteiligten der Musikwirtschaft. Nur ein paar Stichworte: Pandemie, Vinylkrise, abgesagte Live-Konzerte ...
Onni: Die in den letzten Jahren zunehmend erfolgte Verlagerung des Musikkonsums ins Digitale hat viele Standards eines aus der physischen Tonträgerproduktion kommenden Labels infrage gestellt und verlangt Umstellungen von Gewohnheiten, denen wir oft nur bedingt gewachsen sind. Insbesondere ein jüngeres Publikum ist mit physischen Tonträgern zunehmend schwerer zu erreichen, was mit einer Alterung unserer Zielgruppen einhergeht, die sich auch in sonstigen Szenekontexten widerspiegelt. So oder so haben wir mit Fire and Flames ohnehin immer schon schamlose Selbstausbeutung betrieben, um den Laden am Laufen halten zu können, was unter den Bedingungen der Dauerkrise des Kapitalismus und der zuletzt massiven Preissteigerungen nicht unbedingt einfacher wird.
Wie hast du geschäftlich 2022 erlebt?
Thomas: Schon anders als die Jahre zuvor. Ich habe weniger Veröffentlichungen herausgebracht, was ja an den langen Wartezeiten lag. Ich bin fast gar nicht mehr auf Festivals gefahren mit meinem Stand.
Alex: Nach dem Corona-Schock sind 2022 viele Releases erschienen und viele Bands getourt. Es hat sich in den vorangegangen Jahren viel angestaut, was dann 2022 rausging. Dadurch gab es an mehreren Stellen ein Überangebot, vor allem live. Dazu kam die bereits genannte Vinylsituation mit belegten Presswerken, steigenden Rohstoffpreisen und daraus resultierenden Kostensteigerungen und ständigen Verschiebungen von Veröffentlichungen. Nicht zu vergessen der Krieg und die allgemeine Inflation. Daher verlief das Jahr nicht so einfach, wie viele es Ende 2021 noch gehofft hatten. Jetzt, Anfang 2023, würde ich in unserem Fall trotzdem von einem guten Jahr sprechen, da wir schöne Veröffentlichungen hatten und unsere Labelarbeit durch die Kooperation mit neuen Presswerken, verbesserter Digitalpromo und einem neuen Shop-System an mehreren Stellen verbessern konnten.
Tom: Wir sind in der komfortablen Lage, dass wir nicht vom Label leben müssen, aber natürlich wollen wir auch kein Geld verlieren. Wir machen aber schon auch mal einen Release, weil er uns besonders am Herzen liegt. Da wissen wir vorher genau, dass eine Kostendeckung kaum zu schaffen ist, Arbeitszeit sowieso mal außen vorgelassen. Das Mailordergeschäft läuft auch dank der vielen Stammkunden gut. Das ist natürlich super, auch für die eigenen Labelreleases, die es bei uns natürlich am günstigsten gibt und/oder wo wir auch oft exklusive Farbeditionen haben, wie zuletzt bei den Alben von JOSEPH BOYS und LOMBEGO SURFERS. Qualität, tolle Aufmachung und ein faires Preisgefüge, das setzt sich am Ende dann doch durch.
Gunnar: Deutlich mehr Kund:innen bestellen bei mir direkt, um mich und das Label zu unterstützen, aber auch weil die Tonträger hier einfach günstiger sind als im Laden. Das hilft natürlich sehr und ist wahrscheinlich auch ein Hauptgrund, dass ich überhaupt noch in der Lage bin, neue Musik zu veröffentlichen. Ich bin sehr auf meine direkten Kund:innen angewiesen. Daher habe ich Unsicherheiten durch die Pandemie und den Krieg und die dadurch ansteigenden Preise, mit denen jeder Mensch auskommen muss, deutlich gemerkt. Glücklicherweise hat es sich aber immer wieder eingependelt.
Chris: Aus Labelsicht schwierig, mit vielen Baustellen, Mehrarbeit bis zur Belastungsgrenze, Umplanungen und Umstrukturierung, aber letztendlich auch sehr erfolgreich. Aus Club- und Veranstaltersicht zum Teil katastrophal und leider nach den Pandemiejahren insbesondere bis zum Herbst alles andere als erfolgreich oder schön. Aber es gab auch viele schöne Momente, Kontakte und Aufbruchstimmung statt Resignation.
Monster: 2022 war eigentlich mega. 2021 war nicht so gut, da ging ab Mitte des Jahres gar nichts mehr. 2022 kamen dann die ganzen Platten, die eigentlich 2021 erscheinen sollten. Am Schluss wurde es sogar so viel, dass ich die Platten hier erst mal einlagern musste. Es wurde einfach zu viel. So habe ich schon die ersten Releases für 2023 im Haus. Also geht es in diesem Jahr munter weiter mit tollen Wanda-Platten.
Bönx: Da wir alle drei – vor einiger Zeit stieß noch Dennis zu unserem Team – nicht von unserem Label leben müssen, lief 2022 für uns eigentlich ziemlich okay. Ich muss aber erst noch mit unserem Steuerberater sprechen, wie er das alles einschätzt, um hier eine valide Antwort geben zu können. Ach nee, wir haben ja gar keinen. Haha. Nee, lief gut, kann so weiter laufen.
Jürgen: Ich bin mit den zusätzlichen Tätigkeitsbereichen Musikverlag, Promotion und Mastering breiter aufgestellt als Menschen, die nur ein Label führen. Dadurch lassen sich ausgefallene Konzerte und verschobene Releases etwas besser auffangen. Außerdem gab es einige Förderprogramme, die wir in Anspruch nehmen konnten. Alles im grünen Bereich also, aber opulent ist auch anders.
Onni: Während wir als vorrangig onlinebasierter Mailorder einigermaßen unbeschadet durch die Corona-Pandemie gekommen sind, hat die Krise auch uns spätestens ab Mitte 2022 hart erwischt. Die Umsatzeinbußen sowie Preissteigerungen waren schon während des Festivalsommers spürbar, der Herbst war geschäftlich ziemlich katastrophal und wir hatten im Jahresvergleich drastische Einbrüche, die natürlich auf die Verunsicherung durch die Energiekrise und reale Einkommensverluste auch bei unseren Leuten zurückzuführen gewesen sind. Zeitgleich haben wir binnen weniger Wochen gleich mehrere, teils für unsere Verhältnisse große Pressungen von Aufträgen erhalten, die wir meist noch 2021, also unter ökonomisch besseren Rahmenbedingungen und mit niedriger veranschlagten Preisen, geordert hatten. Die dazugehörigen Rechnungen hätten uns bei weiterhin dahinplätschernden Umsätzen beinahe das Genick gebrochen. Wir sahen uns deshalb gezwungen, den drohenden Kollaps Anfang Dezember 2022 öffentlich zu machen. Mit gutem Ausgang: Die Resonanz war überwältigend und die Szene hat uns in wenigen Wochen vor dem Bankrott gerettet. Der Dezember war arbeitsintensiv und hat uns rausgehauen. Wir konnten die Bilanz für 2022 einigermaßen gerade ziehen, so dass wir zum Jahreswechsel wieder mehr oder weniger solide dastanden und definitiv weitermachen können. Das war stark!
Wie war, wie ist bei dir/euch aktuell die Lieferzeit für neu beauftragtes Vinyl? Und wie wird sich das deiner Einschätzung nach 2023 entwickeln?
Thomas: Da ich mit zwei Presswerken arbeite und mittlerweile gut organisiert und strukturiert bin, plane ich meine Veröffentlichungen dementsprechend.
Alex: Die Situation hat sich bei uns etwas entspannt und wir haben mittlerweile auch wieder gute Lieferzeiten von drei bis fünf Monaten. Die Preissteigerungen scheinen sich ebenfalls zu beruhigen und wir glauben, dass Vinyl weiterhin eine gute und bezahlbare Ergänzung zum Digitalbereich sein kann. Anfang 2022 waren wir nicht sicher, ob Vinyl noch das passende Medium für die Szene bleiben sollte, da die steigenden Preise und die Verknappung Ausmaße wie bei Luxusartikeln angenommen hatten, und Vinyl als Statussymbol für wohlhabende Menschen wollen und werden wir nicht machen. Daher ist es gut, dass die Situation wieder etwas besser geworden ist, da Vinyl, trotz allem, das schönste Medium für Musik ist.
Tom: Wie die meisten Leute wissen, hat das Presswerk Flight 13 Duplication den Geschäftsbetrieb zu Ende 2021 eingestellt, deshalb mussten wir uns neue Partner für die Herstellung suchen. Die Lieferzeiten lagen dabei im Schnitt bei sechs bis sieben Monaten nach Abgabe aller Produktionsunterlagen. Anscheinend ist es so, dass sich die Situation 2023 etwas entspannen soll, weil es mehr Kapazitäten gibt. Vielleicht sind wir dann mal bei vier oder fünf Monaten?
Gunnar: Die Lieferzeiten liegen gerade bei etwa fünf Monaten und mehr. Ich denke nicht, dass sich das entspannen wird, da sich an der Lage natürlich wenig geändert hat. Es gibt immer noch eine Rohstoffknappheit, Krisen weltweit, Majorlabels, die alles auf Vinyl nachpressen ,was sie können, und damit die Presswerke so auszulasten, dass wenig Platz für kleine Produktionen ist. Leider steigt auch der Preis immer weiter.
Chris: Allgemein haben sich die Lieferzeiten und Pressmöglichkeiten 2022 extrem verschärft, bei fast monatlichen Preiserhöhungen für Papier, Kartonagen und Vinyl, insbesondere farbiges Granulat. Da ich Slots in meinem Stamm-Presswerk reserviert habe, mit dem ich seit fast vier Jahren ausschließlich zusammenarbeite, haben wir da weniger Probleme gehabt. Mit Presszeiten zwischen vier und sechs Monaten, was auch vor der Krise eigentlich ein guter Durchschnitt war. An den Preiserhöhungen kamen aber auch wir natürlich nicht vorbei, aber auch hier empfinde ich es als moderat, wenn man bereit ist, einige Dinge selber in die Hand zu nehmen und aufzufangen. Stichwort: Vinyl selbst konfektionieren und keine bequeme „All in one“-Mentalität. 2023 wird es sicherlich etwas besser, da es neue Presswerke gibt und einige Werke auch aufgestockt haben. Außerdem haben einige Majors offenbar gelernt, dass man nicht jede Scheiße völlig überteuert rereleasen kann, um damit das große Geld zu machen, was ich sehr begrüße. Das wird die Lage in den Presswerken zusätzlich entspannen. Einige Werke, die scheinbar vergessen haben, dass gerade kleine Labels noch vor Jahren ihre Existenz gesichert haben, und Majors als „preferred VIPs“ vorziehen, fallen hoffentlich richtig auf die Schnauze nach dem Platzen der Blase. Der Risikofaktor Rohstoffknappheit insbesondere durch den Krieg bleibt natürlich ein Damoklesschwert.
Monster: Ich habe 2022 begonnen, die Pressaufträge auf verschiedene Presswerke zu verteilen, das war nicht die schlechteste Idee. Von sieben bis dreizehn Monaten Presszeit war alles dabei. Ich habe jetzt aber schon Feedback bekommen, dass sich 2023 alles wieder etwas normalisiert. Dann werden Presszeiten von drei bis vier Monaten wieder normal sein.
Bönx: Da hatten wir echte Unterschiede 2022. Es war in unserer Geschichte auf jeden Fall das unberechenbarste Jahr, was Lieferzeiten angeht. Von drei Monaten, inklusive Testpressung bis zum fertigen Produkt, bis hin zu zehn Monaten warten auf die Testpressung war da echt alles dabei. Hängt aber auch ganz einfach immer vom Lieferanten ab. Ganz klar, wenn wir tiefer in die Tasche greifen, dann geht’s auch mal schneller. Aber ist das noch DIY?
Jürgen: Aktuell sind es circa fünf Monate. In der Übergangsphase, als Bieber mit Flight13 Duplication Ende 2021 seinen Betrieb einstellte, war es deutlich länger. Zuletzt bei LOVE A acht, neun Monate! Auch weil die meisten Presswerke völlig überlastet waren und sind. Wie es mit den Lieferzeiten 2023 weitergeht, lässt sich nur schwer vorhersehen.
Hat sich auch was Positives entwickelt 2022? Hier und da gab es ja Kapazitätsausweitungen, wie man hört.
Thomas: Ja, ich habe auch positive Momente 2022 gehabt, ich habe mein Netzwerk erweitert, neue Menschen kennengelernt oder Mitglieder von alten Bands, mit denen ich in den kommenden Jahren Scheiben wiederveröffentliche. Aber auch neue Projekt wurden angestoßen und durchgesprochen.
Alex: Ich habe auch viele Gerüchte von neuen Maschinen und Presswerken gehört, aber nichts aus erster Hand, daher bin ich mit Prognosen vorsichtig. Es gibt aber ein paar Presswerke, die sich dafür entschieden haben, nur mit Indies zusammenzuarbeiten und die Anfragen von Majors ablehnen. Das ist eine gute Entwicklung, da ein Hauptgrund für die verrückten Lieferzeiten und schlimmen Preise war, dass Majorlabels Kapazitäten in Presswerken reserviert und somit blockiert haben. Eine weitere gute Entwicklung ist das bessere Bewusstsein für die ökologischen Bedingungen, unter denen Schallplatten hergestellt werden. Wir arbeiten aktuell viel mit einem Presswerk, das klimaneutral produziert. Recycletes Vinyl ist hier ein weiteres Stichwort.
Tom: Der positive Effekt an den längeren Lieferzeiten ist, dass man die Releases besser planen kann und mehr Zeit für eine vernünftige Promo hat, weil einfach mehr Vorlauf da ist. Ja, die Lieferzeiten sollen sich wieder verringern, aber das ist alles auch noch etwas vage.
Gunnar: Ehrlich gesagt habe ich davon nicht ganz so viel mitbekommen. Als positiv fällt mir wirklich nur der Support meiner Kund:innen ein.
Chris: Ich finde es absolut positiv, wenn die Szene und DIY-Labels sich untereinander wieder mehr vernetzen, mehr Sammler und Fans bei Mailordern bestellen oder im Plattenladen um die Ecke und Amazon und Co. links liegen lassen.
Monster: Ich kann über 2022 nicht meckern, da ich 2021 das Presswerk mit Aufträgen bombardiert hatte. Einige Presswerke scheinen auf die hohe Nachfrage reagiert zu haben und haben neue Maschinen aufgestellt.
Bönx: Durch die erwähnten langen Lieferzeiten für Testpressungen haben wir unsere Fühler auch erstmals außerhalb der deutschen Landesgrenzen ausgestreckt und konnten dadurch einen Broker in der Schweiz gewinnen. Für uns ganz klar eine neue Kapazität, aber diese haben wir natürlich wieder jemand anderem weggenommen. Anspieltipp: HAMMERHAI mit „Alles bleibt schlimmer“.
Jürgen: Ich denke, der Zusammenhalt von langjährigen Partnern – ich nenne es gerne „network of friends“ – ist größer geworden, mensch hilft sich wieder mehr. Von neuen, zusätzlichen Kapazitäten für „die Kleinen“ weiß ich nichts, da der Boom offensichtlich weitergeht und die Nachfrage hoch bleibt, ja sogar noch steigt. Die Majors blocken weiterhin riesige Kapazitäten, Marktmacht nennt man das wohl.
Onni: Gehört haben wir von so was auch, dass zum Beispiel dreiste Energiekostenzuschläge wieder zurückgenommen werden sollen und auch die Wartezeiten wieder kürzer werden. Spüren werden zumindest wir das aber bestenfalls erst im Laufe des Jahres.
Mir sagte neulich jemand von einem Label, dass allein die Tatsache, dass es so lange dauert, Vinyl zu pressen, das Geschäft massiv beeinträchtigt: Keine Ware, kein Umsatz, kein Einkommen, Existenzangst ...
Thomas: Ich habe mich damit arrangiert, dass die Lieferzeiten so sind, wie sie sind, für eine tourende Band ist es sicherlich der Worst Case. Ich kann da ja nur für mich sprechen, ich habe immer Ware bekommen, die ich im Mailorder verkaufen konnte, von daher habe ich auch Umsatz gemacht. Da ich 2022 auch nicht mehr zu Festivals gefahren bin, konnte ich mich auch intensiver um meine Veröffentlichungen kümmern und auch Neue planen.
Tom: Ich kann durchaus nachvollziehen, dass es Labels in Schwierigkeiten bringen kann, den längeren „Zeit-Gap“ vorzufinanzieren. Gerade wenn der Output hoch ist, können schnell ein paar zehntausend Euro zusammenkommen.
Gunnar: Bei mir gibt es zum Glück keine Existenzangst, da ich das Geld zum Leben mit meiner Arbeit auf der Baustelle verdiene. Allerdings ist es wirklich hart, mit dem Geld so zu jonglieren, dass es am Ende reicht, um das Label am Laufen zu halten, da es mir wichtig ist, dass sich das Ganze selber trägt und ich nicht privates Geld reinbuttern muss, das mir dann für meine Familie fehlt. Einnahmen erfolgen zur Zeit eher durch Pre-Sales, mit denen die meist mit Vorkasse bezahlten Produktionen aufgefangen werden müssen. Besonders ärgerlich ist es im Bereich der Live-Musik. Hier fehlten oft die Platten, da sie nicht rechtzeitig zur Tour fertig geworden sind. Das habe ich doch sehr zu spüren bekommen, da einfach sonst sichere Verkäufe weggebrochen sind.
Chris: Das mag sicherlich so sein, vor allem wenn man nicht reagiert, improvisiert oder seine „Prozesse anpasst“, aber wie oben erwähnt, trifft das bei uns nicht zu. Wir haben 2022 insgesamt 37 Vinyl-Produktionen in Auftrag gegeben und bis auf zwei Releases gab es keine Probleme mit Wartezeiten.
Monster: Wenn man mit einem Label Geld verdient und verdienen muss, ist die jetzige Situation natürlich absolut tödlich. Du gehst in Vorkasse und die lassen sich zwölf Monate Zeit und verbraten dein Geld. Ich hatte zeitweise bis zu zehn Pressaufträge laufen, das muss natürlich erst mal vorfinanziert werden ...
Bönx: Wir müssen vom Label nicht leben und haben alle unsere furchtbaren Dayjobs. Vom Lehrer über den Programmierer und den Abteilungsleiter ist bei uns alles vertreten. Insofern haben wir keine Existenzängste, wenn wir kein Vinyl ranbekommen, dann machen wir eben Tapes. Und klar, natürlich nervt das, wenn angekündigte Ware nicht zum Veröffentlichungsdatum da ist, aber es tut uns zum Glück finanziell nicht weh.
Jürgen: Ja, das stimmt natürlich, die Zeiträume, in denen Labels und gegebenenfalls auch die Bands Geld vorstrecken müssen, haben sich extrem verlängert. Zusätzlich konnten die Bands ja fast zwei Jahre keine Konzerte spielen, also das, wo sie in der Regel die meisten Platten verkaufen.
Onni: Das können wir wohl oder übel so unterschreiben. Nicht dass wir je Expert:innen für Kalkulationen und vorausschauendes Wirtschaften gewesen sind, aber selbst so was wie ein gesundes Gespür dafür, was machbar ist, geht bei den Wartezeiten der letzten zwei Jahre völlig verloren und führt zu den Problemen, mit denen wir gerade zu kämpfen hatten.
Was ist für dich ein fairer Preis für eine LP?
Thomas: Da ich selbst einen hohen Anspruch habe, kommt der Preis natürlich auch auf die jeweilige Aufmachung der LP an. Ist ein Booklet dabei, farbiges Vinyl, Aufnäher oder andere Gimmicks? Für mich ist daher ein Preis zwischen 16 und 22 Euro für eine LP mittlerweile normal geworden.
Alex: Wenn Vinyl zwölf Monate Lieferzeit hat und zudem per Vorkasse bezahlt werden muss, ist das eine schwierige Situation für jedes Label. Drei, vier Monate kann man durch Preorder überbrücken, aber zwölf Monate? Auch dies schlägt sich natürlich wieder auf den Preis nieder, womit wir bei deiner Frage sind. Für uns sollte eine LP für alle Musikliebhaber:innen aus der Szene bezahlbar sein. Vinyl wird natürlich im Vergleich zum rein digitalen Produkt immer ein Vielfaches kosten, aber dafür bekommt man auch deutlich mehr. Allerdings sollte eine LP nicht zu einem Luxusgut oder einem Spekulationsobjekt werden. Der Preis einer Platte sollte einem realistischen Wert folgen. Du kaufst Musik, eine schöne Verpackung und ein Booklet mit Texten. That’s it. Eine gute Platte in schöner Ausstattung kann dann auch mal 20 bis 30 Euro kosten, aber bei allem, was darüber hinausgeht, darf man sich schon fragen, wie der Preis zustande kommt und ob es einen wirklichen Gegenwert gibt. Hier mal ein ganz grobes und vereinfachtes Rechenbeispiel: Eine LP in Auflage von 300 bis 500 Stück in ordentlicher Ausstattung kostet 4 bis 8 Euro. Wenn dann Label, Vertrieb und Plattenladen ihre Marge draufrechnen, landen wir irgendwo zwischen 20 und 30 Euro und alle Beteiligten kommen klar.
Tom: Wenn wir von einer normalen LP reden, bin ich der Meinung, dass diese für unter 20 Euro angeboten werden kann. Das halte ich auch für einen fairen Preis, bedenkt man die vielfältigen Kostensteigerungen und den Aufwand der Herstellung an sich. Allerdings wird es schon schwieriger, wenn ein Vertrieb involviert ist. Als Händler müssen wir mittlerweile für viele LPs 13 bis 15 Euro bei Indies und teils über 20 Euro netto, also plus 19% Mehrwertsteuer, bei Majors für eine LP im Einkauf bezahlen. Klar, dass dann der Verkaufspreis höher liegen muss. Das ist nicht schön, ist aber so.
Gunnar: Für mich war immer das angestrebte Ziel, eine normale LP für einen Preis zwischen 12 und 16 anbieten zu können. Ich hatte das Gefühl, dass sich das jeder leisten kann. Das war auch lange Zeit möglich, wenn man den eigenen Gewinn minimiert und natürlich mit den damaligen Produktionskosten. Leider ist es heute nicht mehr möglich, wenn eine LP schon in der Herstellung mehr als 12 Euro kostet. Ich sammle auch selber Schallplatten und weiß daher ganz gut, wo die Schmerzgrenze ist, da ich auch selber nicht viel Geld zur Verfügung habe.
Chris: Ein fairer LP-Preis für eine gute Produktion und Ausstattung liegt für mich derzeit noch ganz klar unter 20 Euro! Und das ist auch ohne weiteres machbar, wenn du nicht gerade eine Kleinstauflage von 100 Stück machst, trotz der ganzen Preiserhöhungen. Warum? Während vor zwei, drei Jahren Vinyl in der Herstellung etwa bei einer 500er-Auflage, je nachdem ob eine Teilauflage farbig war, noch um die 3,50 bis 4 Euro lag, sind es jetzt ungefähr 5 bis 5,50 Euro. Rechtfertigt das, den Handelsabgabepreis zu verdoppeln? Oder den Endverbraucherpreis im Extremfall zu verdreifachen auf 16 bis 18 Euro für eine 7“? Nein, basta! Durch Eigenarbeit oder Produktions-Split kann man den Preis auch noch zu einem Teil auffangen. Coverdruck oder die besonders gern von Presswerken extrem teuer angebotenen Inlays oder Sonderdrucksachen eben woanders machen und das Ganze selber konfektionieren. Und zuletzt: Es ist absolut unnötig, Sammler- und Fan-Vinylauflagen bei Amazon und Co. zu positionieren. Mach mindestens einen Teil der Auflage da zugänglich, wo er verdammt noch mal hingehört: in der Szene direkt bei deinen Leuten und Fans der Bands! Das spart 30-35% Vertriebsmarge, Amazon knallt sich keine 10 Euro und mehr Gewinn rein und du hast als Label trotzdem mehr verdient und kannst den Preis für deine Zielgruppe fair gestalten.
Monster: Ich möchte schon, dass sich möglichst viele Leute meine Schallplatten kaufen können, allerdings mag ich auch ungern draufzahlen und die Bands sollen natürlich auch ordentlich entlohnt werden. Um es kurz zu machen, 2022 hat sich bei mir ein Durchschnittspreis von 15 Euro für eine normale LP durchgesetzt. Das ist für mich gerade ein fairer Preis für eine normale schwarze Vinylschallplatte mit Cover und Beiblatt plus Download-Code.
Bönx: Aufgrund der ganzen Preissteigerungen durch die Inflation und den unsäglichen Angriffskrieg durch den Irren mit dem kleinen Schwanz finde ich 20 Euro für eine Standard-LP auf jeden Fall fair. Standard-LP heißt bei uns immer: Vinyl, Textblatt und Download-Code. Wenn dann noch ein Gatefoldcover dazu kommt, oder das Vinyl farbig ist, dann können es auch mal 23 Euro werden. Aber auch das finde ich noch überaus fair, vor allem wenn ich bedenke, was ich so für Platten zahle, die zwar noch Punkrock sind, aber nicht mehr DIY.
Jürgen: Das hängt meines Erachtens davon ab, wie dein Setup ist. Musst/willst du Geld verdienen oder ist das Label ein Hobby, das als Nullsummenspiel für dich aufgeht? Kostet eine LP aktuell bei kleineren Auflagen in der Herstellung 6 oder 7 Euro netto, kannst du sie natürlich schon auch für 11,90 brutto verkaufen. Das gibt es aber immer seltener. Wir mussten die Preise zuletzt deutlich anpassen, auch bei Nachpressungen. Je nach Auflage und Verpackung liegen wir oft über 20 Euro, auch im eigenen Shop. Die Majors liegen um 30 Euro oder darüber, die kalkulieren mit entsprechendem Aufschlag und haben einen anderen Kostenapparat als Rookie. Bei Importen ist es gerade ganz wild. Ich habe letztens den Flight13-Newsletter mal genauer studiert, 40 Euro und mehr, irre! Da bin ich als Musikfan raus.
Onni: Kultur mit DIY-Anspruch muss für alle bezahlbar sein, weshalb wir uns bemühen, unsere Platten weiterhin möglichst günstig anzubieten. Momentan liegen wir mit unseren regulären LP-Releases bei 15 Euro, darunter geht es gerade definitiv nicht mehr, zumindest wenn man wie wir semi-professionell arbeitet, das heißt nicht völlig unentlohnt und mit stehenden Fixkosten. Wenn Platten am Ende zum Luxusgut werden, sollte man sich wohl auch als Vinyl-Liebhaber:in irgendwann die Frage stellen, ob das noch ein zeitgemäßes Format ist für eine sich als politisch verstehende Subkultur.
Wo früher mal 500 eine Mindestauflage für eine LP war, hört man heute oft von nur noch 200 bis 300 Stück, die sich auch noch mehrere Labels teilen. Wo ist da die Untergrenze, ab der es sich einfach nicht mehr lohnt?
Thomas: Bei den meisten Veröffentlichungen, die ich herausbringe, ist die Auflage 500 Stück, ich würde keine 200er-Auflage herausbringen. Der Aufwand würde sich definitiv nicht lohnen. Mit anderen Labels zusammen mache ich keine Veröffentlichungen, da habe ich meine Erfahrung gemacht und die waren nicht so positiv. Da gibt es immer nur Theater, es nervt und beansprucht einfach zu viel Zeit.
Alex: Wir machen ganz selten weniger als 500, da der Stückpreis sonst zu hoch wird. Das liegt vor allem an den Drucksachen wie Cover, Etiketten, Booklets, da die oft in 1.000er-Schritten produziert werden, auch wenn nur 300 gebraucht werden. Vielleicht klingt es auf den ersten Blick hart, aber wenn eine Band selbst nicht glaubt, 300 Platten verkaufen zu können, ist Vinyl in der aktuellen Situation wahrscheinlich nicht das richtige Medium. Es gibt ja zum Glück noch Tapes, CDs oder reine Digitalveröffentlichungen, die im Einzelfall sogar besser funktionieren können. Von daher sehe ich Vinyl auch nicht als absolutes Muss für eine Veröffentlichung.
Tom: Na ja, was heißt „sich lohnen“ genau? Es gibt ja auch Bands und Labels, die 100er-Auflagen machen, weil sie einfach Bock darauf haben, dass die LP erscheint. Für die lohnt sich das auf alle Fälle, allerdings sind die Stückkosten dann natürlich sehr hoch. Wir machen bei Flight 13 immer mindestens 300 Stück, weil es sich sonst für uns nicht lohnt. Mit einer 300er-Auflage, kleiner Promo und Bandbeteiligung kann man gerade so eine Kostendeckung hinbekommen, vorausgesetzt man kann auch einen nicht unerheblichen Teil direkt verkaufen. 500er-Auflagen sind da etwas „entspannter“, und wenn es Richtung 1.000 geht, ist man heutzutage schon fast der König im Indie-Segment.
Gunnar: Ich halte an der 500er-Auflage fest. Es ist für mich einfach die beste Anzahl, wenn man sich den Preis anschaut, der für die kleineren Auflagen gefordert wird. Es ist für mich das beste Preis-Leistungs-Verhältnis. Ich denke daher, weniger als 300 Platten würden sich niemals lohnen, außer für Liebhaberstücke.
Chris: Wir produzieren erst ab 300 Stück, das geht ohne weiteres, aber alles andere lohnt nicht. 500 Startauflage ist aber schon vom Kosten-Nutzen-Effekt her die Basis für einen einigermaßen guten Herstellungspreis. Aber du hast recht, so einfach verkauft man die auch nicht mehr ... Koproduktionen unter befreundeten Labels finde ich by the way ausgesprochen klasse! Insbesondere, wenn man unterschiedliche Territorien beackert, sich gegenseitig unterstützt oder andere Zielgruppen hat. Beispielsweise machen wir gerne und viel mit unseren Berliner Freunden CoreTex, etwa eigene Vinylfarben unserer Produktionen, Co-Releases mit Laketown Records, zu denen sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat, und unsere Vinyl-Offset-Prints werden bei Fairtrade Merch bedruckt.
Monster: Unter 200/250 Stück lohnt es sich nicht mehr, das Ganze wird dann ganz schnell ganz teuer.
Bönx: 100!
Jürgen: Schwer zu sagen, wie auch die Antwort zur vorherigen Frage zeigt. Mensch kann auch nur 100 Stück machen, alle für 25 Euro verkaufen, gegebenenfalls nur als Vorbestellung, dann kommst du mit viel DIY-Einsatz bei Cover und Verpackung bei einer schwarzen Null raus.
Onni: Unter 300 ist unserer Einschätzung nach Blödsinn, vielleicht mit Ausnahme von Liebhaber:innenprojekten, weil im Stückpreis viel zu teuer. Eigentlich machen schon Erstpressungen unter 500 unter diesen Gesichtspunkten keinen Sinn. Deshalb streben wir in der Regel Mindestauflagen von 500 an und setzen im Gegenzug fast immer auf Kollaborationen. Das klappt sehr gut, sorgt für eine vernünftige Verbreitung der Tonträger und hält die internationalen DIY-Netzwerke am Laufen, auf denen eigentlich unsere sämtlichen Vertriebsstrukturen basieren.
Was funktioniert für dich? Also welche Bands, welche Art von (Re-)Releases?
Thomas: Also bei mir funktioniert es einfach so, dass ich Lust auf die Band beziehungsweise die Personen in der Band haben muss, manchmal ist eine persönliche Basis absolut von Vorteil. Musikalisch bin ich für vieles offen, aber das Gesamtpaket muss stimmen.
Alex: Bei erfolgreichen Releases ist fast immer ein gutes Zusammenspiel von Band, Label, Vertrieb und Booking die Basis. Wenn eine Band eine gute Platte hat, diese ordentlich veröffentlicht und beworben wird, über den Vertrieb erhältlich ist und die Band zudem gute Konzerte spielt, dann ist das die beste Voraussetzung für den Erfolg einer Veröffentlichung. Wir haben einige Platten, die wirklich gut sind, aber wenn die Band keine Konzerte spielt und auch sonst nicht aktiv ist oder keine Geschichte zu erzählen hat, bleibt die Platte fast immer im Regal liegen. Wir sprechen hier mittlerweile im Vorfeld viel offener über das, was eine Band machen kann, erreichen möchte und wie diese etwa beim Booking aufgestellt ist. Gute Songs sind das Herzstück, aber nicht mehr allein für den Erfolg einer Veröffentlichung verantwortlich.
Tom: Unser Label funktioniert anders: Wir veröffentlichen grundsätzlich nur Bands, die wir persönlich kennen und musikalisch und textlich auch richtig gut finden. Wenn das gegeben ist, müssen wir sehen, was realistisch ist. Wie viel können wir verkaufen und was die Band? Es gibt nicht diese eine Art von Release. Klar braucht man etwa bei einem BOXHAMSTERS-Reissue nicht viel Geld für Promo auszugeben, weil es quasi von alleine läuft, aber einen geilen Newcomer aus Freiburg wie zum Beispiel DAS BLANKE EXTREM kennen am Anfang wenige, also muss auch promomäßig mehr getan werden. Wenn Tobi zu mir kommt und sagt „Hier, hör mal rein, geile Combo, habe ich Bock zu machen“, dann setzen wir uns zusammen und besprechen, wie es gehen könnte, und machen es dann. Kurz: Geschmack entscheidet und sonst nichts. Rereleases machen wir sehr selten, es geht schon fast immer um aktuelle Bands, auch wenn manche davon älter klingen.
Gunnar: Ich mache immer mindestens 500er-Auflagen, egal, welche Band und welcher Release. Genauso halte ich es mit Nachpressungen. Mein Ziel ist es, Musik, für die eine Nachfrage besteht, auch erhältlich zu haben. Da oft Bands zu der Zeit, in denen die Platten erscheinen, dem breiten Publikum nicht bekannt sind und erst später entdeckt werden, wenn die erste Auflage schon weg ist. Beispiele sind aktuell THE DROWNS, GET DEAD oder MERCY UNION.
Chris: Für mich funktioniert alles, was uns selber gefällt. Dabei mache ich den Erfolg nicht an der Auflage fest. Aber da du darauf abzielst: Punk, internationaler Oi!, eher klassischer Ska, das funktioniert sehr gut. Psychobilly mit Abstrichen und Horrorpunk oder unsere „Liebhaber-Experimente“ sind eher schwierig. Compilations auf Vinyl sind sauschwierig.
Monster: Ich mache auch Sachen, die nicht funktionieren, weil ich auf die einfach Bock habe. Ich mache Bands, die mir selbst gefallen, die mir sympathisch sind und mit denen ich schon jahrelang zusammenarbeite. Das meiste davon funktioniert und verkauft sich auch super, ich scheine also nicht den schlechtesten Musikgeschmack zu haben.
Bönx: Was bei uns funktioniert, sind natürlich die Bands und Künstler:innen, die beim Publikum vor allem live gut ankommen. Musikant:innen, die nicht live spielen, verkaufen auch nichts. Geht mehr auf Konzerte!
Jürgen: Das entscheide ich mit den Bands/Künstler:innen zusammen. Wir machen eine möglichst genaue Kalkulation und besprechen dann, wie der Release aussehen könnte oder sollte. Wir arbeiten mit Erfahrungswerten vorheriger Veröffentlichungen und aktuellen Einschätzungen, etwa ob die Band viel unterwegs ist.
Onni: Wir haben natürlich unsere Zugpferde, insbesondere MOSCOW DEATH BRIGADE oder auch LOS FASTIDIOS, wo durchweg eine große Nachfrage besteht. Rereleases von irgendwelchen Klassikern machen wir eigentlich kaum, sondern sind auf Neuveröffentlichungen spezialisiert. Politische Oi!/Streetpunk-Bands haben ihren zwar kleinen, aber treuen Kundenstamm, außerdem stellen wir in letzter Zeit einen erhöhten Bedarf für Bands mit FLINTA*-Beteiligung fest, was natürlich eine lang überfällige Korrektur des schiefen Geschlechterverhältnisses auch in unserer Szene darstellt. Dafür steht zum Beispiel unsere ziemlich erfolgreiche „Girlz Disorder“-Samplerreihe, die wir mit Mass Productions aus Frankreich auf den Weg gebracht haben. Dass sich ein Release zumindest zufriedenstellend verkauft, ist aus den genannten Gründen natürlich leider zunehmend wichtiger, aber nach wie vor nicht unser Hauptkriterium, ein Projekt zu machen oder nicht. Politische und stilistische Faktoren sind weiterhin entscheidend.
Speziell im „Direktkundengeschäft“, also für Mailorder, ist die Situation nicht besser geworden. Die Paketdienste erhöhen die Preise immer weiter, und DHL/Post haben das Auslandsgeschäft massiv erschwert. Deine Gedanken und Erfahrungen?
Thomas: Ja, die Preise haben sich da auch erhöht, das musste auch an die Kundschaft weitergegeben werden. Die Bestellungen aus Übersee bleiben natürlich mit dieser massiven Erhöhung komplett aus. Ich habe Großhändler in den Staaten und Kanada, die kümmern sich nun um die Bestellungen aus Übersee. Falls doch eine Bestellung aus Übersee kommt, leite ich die weiter. Viele Kunden im dem Ausland sind informiert, dass mein Programm bei den Großhändlern erhältlich ist.
Alex: Der Brexit und ständig steigende Kosten für Versand und Verpackungsmaterial erschweren den Vertrieb erheblich und als Webshop müssen wir mittlerweile mehrmals jährlich schauen, mit welcher Mischkalkulation wir zu einem fairen Endpreis kommen. Früher haben wir die DHL-Preise einfach weitergegeben, heute kalkulieren wir mit ein, dass wir einen Teil der Versandkosten selbst tragen. Dazu kommen die steigenden Preise für Papier und Kartonagen, also das Verpackungsmaterial, das Drucken der Rechnungen etc. Gerade bei den Nebenkosten sind viele sehr sensibel, daher ist es wichtiger als früher, hier einen Mittelweg zu finden.
Tom: Die Situation wird nicht einfacher und quasi jährliche Preiserhöhung von DHL sind leider eine Selbstverständlichkeit. Wir nehmen die meist auf unsere Kappe, kamen aber zuletzt nicht umhin, die Pauschale für Porto und Verpackung zu erhöhen, denn Kartonagen sind leider auch deutlich teurer geworden. Das verstehen auch die meisten, zumal wir unsere Pakete alle „GoGreen“, also klimaneutral verschicken, was noch mal mehr kostet. Solche Sachen sind uns aber wichtig, genauso wie möglichst hohe Recycling-Anteile bei den Kartonagen. Viele Kunden bestellen mehrere Scheiben und die sind dann automatisch portofrei. Da wir grundsätzlich alles als versichertes Paket verschicken, sind wir von den geänderten Regeln für das Ausland nicht betroffen.
Gunnar: Das stimmt natürlich. Auch das Versenden der Tonträger wird immer teurer respektive durch den Wegfall ehemals guter Versandoptionen erschwert. Leider bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Kosten an den Kunden weiterzugeben. Das Auslandsgeschäft leidet natürlich sehr darunter, gerade der Versand in die USA und außerhalb der EU ist preislich so hoch, dass es sich oftmals nicht mehr lohnt für die Kunden. Hier ist sicherlich ein Teil des Absatzes weggebrochen, der auch nicht so schnell zurückkommen wird. Dazu kommt leider auch die Qualität der Paketdienste. Es gehen unglaublich viele Pakete verloren, deren Nachverfolgung immer mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.
Chris: Der Versand ist tatsächlich ein leidiges Thema. Dabei geht es nicht nur um die Preiserhöhungen, sondern vor allem wie die Ware teilweise beim Kunden ankommt. Da kannst du noch so gut verpacken, die Damage-Rate ist sehr hoch geworden, insbesondere bei Vinyl. Das Auslandsgeschäft war von jeher schon eine teure Angelegenheit, aber England ist dank des Brexit leider mittlerweile zu 90% unrentabel und eingebrochen.
Monster: Das ist sicher alles richtig, aber es geht schon irgendwie weiter. Ich lasse mich davon nicht unterkriegen. Wanda Records steht auf vielen Beinen und ich bin nicht wirklich darauf angewiesen, einzelne Vinylplatten nach Japan oder Australien zu verschicken. In dem Zusammenhang kann man sich auch mal fragen, wie nachhaltig es ist, eine Schallplatte für 8 Euro um die Welt zu fliegen.
Bönx: Als wir 2021 vor einem großen Gewinn standen, den wir vor der Steuer irgendwie noch abbauen mussten, haben wir ungefähr 1.000 Hermes-Coupons gekauft, um den Gewinn zu schmälern. Daraus resultiert, dass wir uns die Portopreise innerhalb Deutschlands eigentlich gar nicht angucken, wir haben den Mist ja eh schon bezahlt. Und wenn die wirklich alle teurer werden, dann hoffen wir, dass sie die Einnahmen auch an ihre Mitarbeiter:innen weitergeben. Okay, das ist naiv, das machen sie sicher nicht. Wie einst schon SUPERNICHTS sagten: Scheiß Post! Und Ausland: Wir machen ja fast nuuuur Deutschpunk.
Jürgen: Klar, das geht fast immer zu Lasten der Fans/Käufer:innen, der Betrag wird meistens 1:1 umgelegt. Hilft ja nichts, Stichwort Öl- und Gaspreise. Wir reden aber auch von einem Luxusartikel, wenn wir ehrlich sind.
Onni: Unsere bisherige Erfahrung ist, dass die Preissteigerungen im Versandgeschäft noch erträglich geblieben sind. Für Auslandssendungen, die für uns einen nicht geringen Anteil darstellen, greifen wir auf variierende Anbieter zurück, um die Portokosten bezahlbar zu halten. Bisher können wir so zumindest gewährleisten, dass wir nicht draufzahlen, und sind offenbar auch für unsere Leute im Ausland noch erschwinglich genug.
Was sind deine Erwartungen und Hoffnungen für 2023, auch angesichts von Inflation, Energiepreiserhöhungen und weniger Geld in den Taschen der Kundschaft?
Thomas: Sicherlich wird sich was ändern, ich bin gespannt, wie sich das bei mir im Mailorder und Label niederschlägt. Aber ich werde so weitermachen und gegebenenfalls irgendwas ändern, wenn es nötig wird. Aber jetzt schon den Kopf in den Sand zu stecken, das ist nicht mein Ding. Eine Schallplatte ist schon immer etwas „Besonderes“ und das soll ja auch so bleiben. Wer Schallplatten-Nerd ist, der bleibt das ja auch, es wird vielleicht eine Scheibe weniger gekauft und auf die Schachtel Pralinen verzichtet.
Alex: Die Preissteigerungen müssen sich verlangsamen und dann stabilisieren. Die Menschen müssen wieder in die Lage versetzt werden, für Kultur und Kulturgüter Geld ausgeben zu können, ohne in existenzielle Schieflage zu geraten. Das zu erreichen, sollte das Ziel von allen Beteiligten sein. In erster Linie ist dies natürlich eine politische Entscheidung, Geld ist da und faire Umverteilung möglich. Ich sehe hier aber alle anderen in der Pflicht. Die großen Ticketanbieter mit flexiblen Ticketpreisen müssen merken, dass Menschen keine 500 Euro ausgeben, um BLINK-182 zu sehen. Die Labels können auf die vierte Special Edition und die fünfte limitierte Vinylfarbe verzichten. Die Bands und Künstler:innen können ihre Travelparty und ihren Cateringrider runterfahren sodass Konzerte nicht abgesagt werden müssen, wenn der VVK mal nicht läuft. Das sind nur wenige Beispiele. Wenn alle in diesen Zeiten ein klein wenig kürzer treten, tun wir auf Dauer der Kultur einen größeren Gefallen. Ein Konzert, das fünfzig Leute glücklich macht, ist besser, als diese fünfzig Leute mit einer Komplettabsage zu enttäuschen, weil man auf hundert Leute gehofft hatte. Zudem glaube ich auch daran, dass die Leute die kleinen Shows wieder neu zu schätzen lernen, wenn die Mega-Events ihren Reiz verlieren, weil Großveranstaltungen wieder zur Normalität werden.
Tom: Ich will ehrlich sein, ich tue mich mit einer genauen Prognose schwer. Es wird sicherlich erst mal nicht leichter werden, weil alle Effekte immer auch ein gewisse Delay-Zeit haben, bis das Pendel wieder zurückschwingt. Wir werden weiterhin gute Arbeit leisten und tolle Bands unterstützen – das, was wir seit knapp 35 Jahren tun: „Gute Musik für coole Leute“. Das gilt nach wie vor! Und labeltechnisch haben wir bereits einige Knaller für 2023 in der Pipeline. Mailordermäßig hoffe ich, dass wir ein ähnlich gutes Jahr wie 2022 hinlegen können.
Gunnar: Ich rechne damit, dass es weiter schwer sein wird, das Label am Laufen zu halten. Es wird auch sicherlich immer schwieriger, die Tonträger mit den steigenden Preisen zu verkaufen. Aber die Hoffnung, dass der Vinyl-Hype bei den Majorlabels irgendwann abflacht und die LP wieder das Nischenprodukt werden kann, das es zum Beispiel in den Neunzigern und Zweitausendern war, ist noch da, allerdings wird das wahrscheinlich noch etwas dauern. Es ist kaum zu glauben, dass die Produktion von LPs mal billiger war als die der CD, haha.
Chris: Da fällt mir nichts Konkretes ein, sorry! Nur Allgemeines, was viel wichtiger ist: Ich hoffe, dass dieser verschissene Krieg aufhört und diese Vollidioten zur Besinnung kommen. Dann regelt sich der Rest von alleine.
Monster: Ich hoffe einfach, dass unsere Regierung das Boot Deutschland noch eine Weile über Wasser hält. Es sind stürmische Zeiten, da kann immer viel passieren. Ich hoffe, wir kommen da alle gut durch. Das wünsche ich vor allem meiner Kundschaft. Geht es denen dreckig, bin ich am Arsch.
Bönx: Weiter, immer weiter! Zusammen meistern wir alles. Und wenn wir dann mal eine Platte nicht als Vinyl veröffentlichen, dann ist das auch gut so und hätte in den letzten Jahren sicher auch nicht geschadet. Denn seien wir doch mal ehrlich, wie viele unserer Kund:innen hören die Vinylscheiben, die sie kaufen? Die meisten haben doch sowieso Spotify, Deezer oder Tidal und hängen sich die coolen Artworks nur an die Wand. Das ist alles andere als despektierlich gemeint, mache ich nämlich nicht anders.
Jürgen: Klar, es bleibt wohl weniger übrig durch die Rahmenbedingungen, auf die ich keinen Einfluss habe. Zukunftsängste der potenziellen Käufer:innen inklusive. Aber wir als Labelbetreiber:innen und auch die Musikfans sollten realistisch und vernünftig bleiben. Weniger kann auch mehr sein, warum fünf Vinylfarben bei einem DIY/Punk-Release? Reichen nicht zwei, wenn ich mal von einer exklusiven Version für Mailorder/Band ausgehe? Ach ja, die neue PASCOW-LP gibt es nur in einer schwarzen Version, die Erstauflage hat einen Extra-Schuber, das war’s!
Onni: Wir sind erst mal froh, dass wir das für uns schwierige Jahr 2022 gerade noch einigermaßen schadlos überstanden haben, und werden nun vorerst etwas vorsichtiger mit optimistischen Zusagen und Aufträgen sein. Große Ausblicke wagen wir angesichts der Erfahrungen der letzten drei Jahre und der wirklich tiefgreifenden Systemkrise nicht, erwarten aber erst mal nicht, dass es einfacher wird. Wir hoffen natürlich trotzdem, dass der DIY-Underground weiter existieren kann, und bauen auf die Szenen, die ihn tragen. Dazu wird es wohl vonnöten sein, dass wir alle unsere schwindenden Kröten bewusster einsetzen, und uns wieder öfter die Frage stellen, wen wir unterstützen wollen. Aus Bequemlichkeit irgendwelche Schweinekonzerne oder unsere Szeneläden, Kollektive und politische Projekte, die versuchen, über den Irrsinn um uns herum hinauszuweisen?
Sonst noch was?
Thomas: Die kommenden Veröffentlichungen sind bereits im Presswerk und werden in den nächsten paar Monaten rauskommen, etwa von STOSSTRUPP, YACØPSÆ, CHALLENGER CREW, SONS OF SADISM und CERESIT 81.
Alex: Bei uns sind die Releases von THE BABOON SHOW, WAUMIAU und PASCOW aktuell. Genug zu tun also.
Tom: 2023 erscheint das zweite Album der Freiburger SCHALKO, das Debüt der Stuttgarter BERLIN 2.0, zum siebzigsten (!) Geburtstag von Mastermind Tony wird es ein Live-Album der LOMBEGO SURFERS geben, eine Akustikscheibe von Vic Bondi, worüber ich mich besonders freue, weil ich seine Sachen schon immer sehr geschätzt habe, und zum dreißigjährigen Jubiläum erscheint eine LP mit allen Aufnahmen von LAIKA, der Band, wo ich zuletzt gesungen habe.
Gunnar: Ich hoffe, ich kann das Label weiterhin am Laufen halten und unbekannten Bands ein Bühne bieten und vielleicht ein Sprungbrett sein, wie in den vergangen Jahren. Neue Releases von ÜBERYOU, SCHEISSEDIEBULLEN, FRACHTER, THE PENSKE FILE und CHARTREUX stehen an plus ein paar Überraschungen. Es gilt am Ende des Jahres zu schauen, ob ich mich damit übernommen habe. Ich hoffe natürlich nicht!
Chris: Danke für das interessante Interview! Support your scene!
Monster: Mein Wunsch für die nächsten Jahre wäre, dass die vielfältige Labellandschaft in Europa bestehen bleibt. Es ist einfach wahnsinnig wichtig, dass es neben den großen Labels auch diese kleinen „One Person Shows“ gibt, die kleineren und mittleren Bands eine Plattform bieten. Für Wanda Records bin ich da guter Dinge, den anderen wünsche ich viel Kraft!
Bönx: Gerade ist Papst Benedikt XVI. gestorben, das Jahr 2022 hätte also durchaus schlimmer enden können. Man stelle sich mal vor, dass Farin, Bela oder Rod von uns gegangen wären. Denn ohne diese drei Herren auuuuus Berlin würde es Bakraufarfita Records nicht geben. Aber das erzähle ich euch nach der nächsten Maus ... 2023 wartet natürlich mit echten Highlights auf: das akustische Live-Album von 100 KILO HERZ, neue Scheiben von LULU & DIE EINHORNFARM, DAS BILDUNGSBÜRGERTUM, WISECRÄCKER, THE DEAD END KIDS, BEI BEDARF und und und.
Jürgen: Ende Januar ist das neue PASCOW-Album raus, im Februar kommt NOT SCIENTISTS und im Mai dann BUBONIX. Alle in Kooperation mit Kidnap Music. Auch hier heißt es immer öfter: Kräfte bündeln!
Onni: Riesendank an alle, die uns insbesondere in den letzten Wochen so massiv unterstützt haben. Das war wirklich unglaublich und hat uns einmal mehr motiviert, auch in schwierigen Zeiten weiter für diese Szene zu arbeiten. Kauft unsere Platten, zum Beispiel von RANCŒUR, HARBOUR REBELS, INNER TERRESTRIALS, THE SAMBAS und BRAINDEAD und unterstützt DIY-Strukturen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #166 Februar/März 2023 und Joachim Hiller