Für alle Freund:innen des melodisch-rauhen Punkrock startet das Jahr 2023 gleich mit einem Highlight. Denn mit „Silver Lining“ legt das Züricher Quintett ÜBERYOU ein neues Album vor, das sowohl musikalisch als auch textlich so einiges zu bieten hat. Im Interview mit Gitarrist und Sänger Marc Hottinger sprachen wir über den Entstehungsprozess des Albums, den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskurs in der Schweiz und darüber, warum Punk auch zukünftig immer eines bleiben muss: politisch.
Marc, beim Blick auf das Cover von „Silver Lining“ fühlte ich mich – wie schon beim Vorgängeralbum – zuerst an eine Power-Metal-Band erinnert. Ihr seid aber dem melodischen Punkrock treu geblieben.
Auch wenn wir innerhalb der Band Musik aller möglichen Genres abfeiern, sind wir auf „Silver Lining“ bei unserem Stil geblieben, weil das einfach die Art von Musik ist, zu der wir uns spät abends nach einigen Spaßgetränken gegenseitig in den Armen liegen. Dass unsere Albumcover sich jedoch von den gängigen Artworks unseres Genres unterscheiden, hängt damit zusammen, dass wir das Glück haben, mit Dominique Magnusson eine unglaublich talentierte und geniale Grafikerin zu unserem engsten Freundeskreis zählen dürfen. Sie hat unsere sämtlichen Platten gestaltet. Wir sitzen jeweils zusammen, erzählen ihr vom Album, sprechen mit ihr über die Lieder und sie zieht sich dann zurück, um uns einige Zeit danach mit gefühlt zehn Vorschlägen aus den Socken zu hauen. Und dann geht die bandinterne Diskussion los. Bei „Silver Lining“ waren wir uns aber ziemlich schnell einig, da uns das epische Regenbogenflugzeug-Motiv, gerade in der aktuellen Zeit, visuell gepackt hat. Ein diverses Flugzeug auf dem Weg durch dunkle Wolken in Richtung silberner Horizont ...
Seit 2010 habt ihr quasi durchweg neues Material veröffentlicht und nun kommt vier Jahre nach „Night Shifts“ ein neues Album heraus. Die Pandemie scheint eurer Kreativität offenbar keinen Abbruch getan zu haben?
Ja genau, der Vorgänger „Night Shifts“ erschien im Januar 2019, war aber eigentlich schon ein Jahr zuvor im Kasten. Entsprechend ist auch ein großer Teil der Lieder des neuen Albums zumindest musikalisch bereits vor der Pandemie entstanden. In puncto Songwriting beginnen wir in der Regel immer zuerst mit der Musik, während die Texte später folgen. Somit hatten wir also in den letzten drei Jahren neben völlig veränderten Lebensumständen, neuen Ängsten und Unsicherheiten aber auch die nötige Zeit, um uns den Lyrics intensiv widmen zu können und das Album fertigzustellen.
Also ist euer neues Album insgesamt kein typisches Ergebnis der Pandemie, wie bei vielen anderen Künstler:innen, die sich angesichts von Lockdowns und mangelnden Live-Aktivitäten erst recht auf das Songwriting gestürzt haben? Würden die Songs vielleicht dennoch anders klingen, wenn Corona nicht dazwischengefunkt hätte?
Tatsächlich ist das Album kein ganz typisches Pandemie-Produkt, denn in den letzten Jahren haben wir uns vor allem auf unser Privatleben konzentriert. So kamen Kinder und Hochzeiten dazu und entsprechend lag der primäre Fokus für uns nicht mehr beim Songwriting oder beim Touren – was ja ohnehin nicht wirklich möglich war. Doch diese Pause hat uns insofern gutgetan, als dass wir auch gemerkt haben, was uns die Musik und das Bandleben bedeuten. Dieser Umstand findet sich ganz explizit in den neuen Texten wieder. Auf die Musik hatte die Pandemie also nicht wirklich einen Einfluss, auf die Inhalte aber sehr wohl. Insofern wäre „Silver Lining“ ohne die Pandemie wohl vor allem textlich ein ganz anderes Album geworden.
Dann lass uns doch direkt einmal über Inhalte reden. In Deutschland hat sich der politische Diskurs schon seit einigen Jahren immer weiter nach rechts verschoben und die abstrusesten Verschwörungsmythen verfangen zunehmend auch in der gesellschaftlichen Mitte. Nun ist die Schweiz ja in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Land mit einem seit jeher starken Drang nach Autarkie. Wie erlebt ihr die dortige Diskussion und inwiefern spiegelt sich das auf der neuen Platte wider?
In deiner Frage fasst du bereits ein paar ganz wichtige Punkte unseres neuen Albums zusammen: Die Tatsache, dass mittlerweile die wirrsten Verschwörungserzählungen verbreitet werden können ohne jegliche Konsequenzen für die Urheber, und dass sich dann auch noch Leute angesprochen fühlen und diesen schrecklichen Verunglimpfungen tatsächlich Glauben schenken, schockiert uns sehr. Und genau das sprechen wir auf der neuen Platte an. So gilt in den Vereinigten Staaten das konservativ-bürgerliche Lager bereits als Radical Left und Antifaschismus wird zum Staatsfeind erkoren. Ist das nicht total absurd? Und ganz nebenbei kommen tatsächlich auch in Europa wieder Faschist:innen an die Macht. Dass es für die politisch Rechten also zu funktionieren scheint, haben diese Kreise auch hierzulande begriffen und schüren Ängste vor nicht vorhandenen Problemen mit immer abstruseren Geschichten. Das macht uns als Band wütend und lässt uns tatsächlich sprachlos zurück. Wir versuchen hier aber unseren Teil dazu beizutragen, dass das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlägt. Wir zeigen den Leuten in unseren Texten und vor allem auch auf unseren Konzerten und dem alltäglichen Leben, dass man dieser Minderheit nicht einfach so die Deutungshoheit überlassen darf.
Eure neueste Singleauskopplung „Revolt“ greift ja genau dieses Thema auf. Wie politisch darf oder muss Punkrock heute wieder sein?
Ja, man denke hier bloß an das Abtreibungsverbot für Frauen in den USA im Jahr 2022 – entschieden durch fünf Konservative, davon vier Männer. Das darf doch gar nicht wahr sein! Daher ist es also notwendiger denn je, dass wir uns politisch klar äußern und das Spielfeld eben nicht ausschließlich der Gegenpartei überlassen. Insofern muss Punkrock politisch sein! Leider werden heute viele Errungenschaften und gesellschaftlichen Fortschritte, für die wir eigentlich dankbar sein müssten, nicht mehr als selbstverständlich erachtet. Gerade deshalb ist es so wichtig, diese über Jahrzehnte zum Teil hart erkämpften Privilegien einer aufgeklärten und offenen Gesellschaft nicht einfach so wieder herzugeben.
Ein „Silver Lining“, also ein Lichtblick, ist genau das, was es in diesen hochgradig verunsichernden Zeiten des Umbruchs braucht. Wie positiv ist das neue Album demnach geworden und wie wichtig ist es euch, nicht nur den Finger in die Wunde zu legen, sondern den Hörer:innen auch eine Art Trost oder Lösungsansatz mitzugeben?
Da sprichst du einen ganz essenziellen Punkt an. Es war schon immer unser ausdrückliches Ziel, dass wir mit unserer Musik vereinen möchten. Sie soll Brücken bauen und dabei helfen, dass sich die Leute wieder in die Arme fallen und sich in ihrer Gemeinschaft gut aufgehoben fühlen können. Insofern spiegelt der Titel genau diese Hoffnung wider, dass es eben doch einen Silberstreif am Horizont gibt, den wir im Auge behalten müssen!
Derzeit steckt die Veranstaltungsbranche in einer schweren Krise. Wie sind eure Erfahrungen?
Das ist tatsächlich ein sehr großes Problem, weil da ein ganzer Rattenschwanz dranhängt. Wenn Bands nicht touren, bedeutet das auch, dass die Lokalitäten darunter leiden, dass die Szene nicht wirklich wachsen kann und entsprechend auch eine wichtige Begegnungsplattform im Alltag wegbricht. Gerade in der heutigen Zeit ist dies aber wichtiger denn je. Zudem wollen wir uns gar nicht ausmalen, was aus uns geworden wäre, hätten wir als kleine Punkband nicht die Möglichkeit gehabt, in kleineren Clubs zu spielen. Aber gerade auf der letzten Tour durch Deutschland und Belgien im Sommer 2022 haben wir natürlich ganz deutlich mitbekommen, wie viele Veranstaltende, Gastronom:innen, Fahrer:innen und Techniker:innen derzeit leiden müssen. Der Enthusiasmus und die Freude waren dann aber umso größer, als wir während der Konzerte in viele glückliche Gesichter blicken duften. Genau dafür tun wir das, was wir tun. Glücklicherweise haben wir alle ja unsere regulären Jobs und sind deswegen nicht darauf angewiesen, mit der Band unsere Brötchen zu verdienen. Außerdem ist die Stimmung in der Band super, so dass wir es kaum erwarten können, nach Karlsruhe in die Alte Hackerei, nach Braunschweig in die Klaue oder in eine andere wunderschöne Bar kommen zu können, um den Abend gemeinsam mit großartigen Menschen verbringen zu dürfen und unseren bescheidenen Teil dazu leisten können, dass es eben irgendwie weitergeht.
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