1970 gründeten R.P.S. Lanrue, Kai Sichtermann, Wolfgang Seidel und Rio Reiser in Berlin eine Band. Lanrue und Rio spielten bereits in einer anderen Gruppe namens DE GALAXIS zusammen. Sie nahmen kurz darauf eine Single auf mit den Songs „Wir streiken!“ und „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“. Beide Lieder entstammten einem Theaterstück von Hoffmanns Comic Teater [sic!] (HCT), einem Projekt von Ralph Möbius alias Rio Reiser (1950-1996).
In seiner Autobiografie „König von Deutschland“ erklärte dieser den Ursprung des Namens jenes Projekts: „‚Hoffmann‘, weil da der Begriff Hoffnung drinsteckte und weil es ein deutscher Name war, der an E. T. A. Hoffmann, an Hoffmannstropfen , Hoffmanns Wäschestärke und vor allen an Dr. Hoffmann, den Erfinder des ‚Struwwelpeter‘ erinnerte. ‚Comic‘, weil es sich auf Komik und Commedia dell’arte und auf die Comic-Heftchen bezog. Und ‚Teater‘ ohne ‚h‘ war eine Reverenz an die Nürnberger Theater-Experimente; dort lagen die Wurzeln. Außerdem sollte der Name ‚Hoffmanns Comic Teater‘ die Assoziationen an Zirkus, Jahrmarkt und Schausteller hervorrufen und nicht an verbeamtete Schauspieler-Stadt-Theater.“
Für die Veröffentlichung der Debütsingle benötigte die neue Band einen Namen. Die Wahl fiel auf VEB TON STEINE SCHERBEN. In der Biografie „Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben“ von Kai Sichtermann, Jens Johler und Christian Stahl erinnern sich die Autoren diesbezüglich: „Der Name, der als Einziger noch auf der Liste steht, lautet: VEB TON STEINE SCHERBEN. Der Vorschlag stammt von ihm selbst, von Rio. Der Name klingt sozialistisch, zumindest gewerkschaftlich. Er erinnert an die Industrie-Gewerkschaft Bau Steine Erden – aber auch an die volkseigenen Betriebe drüben in der DDR, für welche die Abkürzung VEB steht. Er enthält allerdings auch einen geheimen Gruß an die Band, die für alle das große Vorbild ist: die ROLLING STONES.“ In Interviews antwortete Rio Reiser auf Fragen nach der Herkunft des Namens mit der Gegenfrage: „Was fand Heinrich Schliemann in Troja?“
Als Musikbeschreibung wählte man Agitrock – eine Wortschöpfung aus Acidrock und Agitprop (Agitation und Propaganda). Beide Begriffe spiegeln Facetten der Band wider. Den politischen und musikalischen Anspruch formulierte die Band in einem Beitrag für die linke Zeitschrift Schwarze Protokolle. „Musik ist eine Waffe! Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! [...] Wir sind in keiner Partei und in keiner Fraktion. Wir unterstützen jede Aktion, die dem Klassenkampf dient. Egal, von welcher Gruppe sie geplant ist.“
Die Debütsingle erschien in Eigenproduktion. Als Labelnamen wählte man David Volksmund, eine Anspielung auf den biblischen Helden sowie eine Umschreibung für den „populistischen“ Anspruch der Band. David Volksmund gilt als das erste Independentlabel in Deutschland – und veröffentlichte neben den Platten der Scherben auch die beiden Alben der Frauen-Rockband CARAMBOLAGE. Neben dem Namen findet sich als Illustration eine Zwille. Beim Debütalbum gab es auch eine solche – aus der Spielzeugabteilung – als Gimmick dazu. Diese Plastikzwille soll später zu einer Hausdurchsuchung und Beschlagnahmungen des Spielzeugs durch die Polizei geführt haben ...
Die Finanzierung der Debütsingle übernahm Rios Bruder, ein bekannter Raubdrucker. Die Cover der Single wurden – der Legende nach – auf der Druckmaschine hergestellt, die sich in der Kommune 1 befanden. Die Single war ein voller Erfolg – und begründete lange Zeit den Ruf der Band. Es gibt eine Reihe von Coverversionen von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Die bekannteste dürfte von der Thrash-Metal-Band KREATOR stammen („Destroy what destroys you“), gefolgt von der Punkversion von DRITTE WAHL. Bassist Kai Sichtermann schrieb bezüglich des Songs: „Vor allen Dingen der Titel ‚Macht kaputt ...‘ begründete den Ruhm der Scherben und sorgte zugleich für finanziellen Dauerstress. Bis spät in die Achtziger Jahre hinein wurden sie mit dem Titel identifiziert, und das, obwohl sie ihn nur bis Mitte der Siebziger Jahre live spielten.“
In Bezug auf die Herstellung der ersten Veröffentlichungen von TON STEINE SCHERBEN lässt sich bereits der Do-It-Yourself-Stil der späteren Punk-Szene erkennen. Sie sind mit dieser Attitüde bereits Protopunks gewesen – und inspirierten später bekannte Bands des Deutschpunk wie SLIME, die in ihrem Programm eine Reihe von Scherben-Coversongs hatten.
Ein Jahr später erschien bereits die erste LP „Warum geht es mir so dreckig?“. Die A-Seite besteht aus Live-Aufnahmen – unter anderem von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und Bertolt Brechts „Einheitsfront“, während die B-Seite Studioaufnahmen enthält. Da findet sich unter anderem „Sklavenhändler“, ein klassenkämpferischer Song im Sinne des eigenen politischen Anspruchs.
Das zweite Album erschien 1972 als Doppel-LP und hieß: „Keine Macht für Niemand!“. Der Titel war einer Headline der anarchistischen Zeitschrift Germania entnommen. Das ist als eine Umschreibung des Inhalts von „Anarchismus“ zu verstehen. Dementsprechend verhalten waren auch die Rezensionen in der Presse der K-Gruppen. In der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft heißt es in der Rezension von Frank Rainer Scheck in Bezug auf „Zerstörung der Produkte oder Zerstörung der Produktionsverhältnisse“, einer Auseinandersetzung mit „Macht kaputt, was euch kaputt macht“: „Dieser Kritikpunkt hängt mit der Kritik des anarchistischen Arbeitshasses eng zusammen. Der Hass gegen die kapitalistischen Waren ist der Hass der wild zappelnden kleinbürgerlichen Intelligenz, die vom Monopolkapital am Kragen gepackt und aus ihrer privilegierten Beschaulichkeit gerissen wird.“
Im Auftrag von Anne Reiche, Mitglied der radikal-linken Gruppierung „Blues“, haben die Scherben den Song „Keine Macht für Niemand“ verfasst, mit dem Arbeitstitel „Hymne für den bewaffneten Kampf“. Laut der Scherben-Biografie „Keine Macht für Niemand“ soll die Kommandoebene der Rote Armee Fraktion (RAF) den Song „Keine Macht für Niemand“ als „Blödsinn“ abgetan haben. Ursprünglich wollte die RAF die Band für den Kampf instrumentalisieren. Die Verbindung der Scherben zur RAF war auch durch die Wohnung gegeben. Holger Meins war der Vormieter der Scherben in der Wohnung am Tempelhofer Ufer 26 in Berlin, wo heute eine Gedenktafel für die Scherben hängt. Es ist das wichtigste Album der Band – und das am meisten verkaufte. Auf dieser LP finden sich die großen Hymnen der Band, neben dem titelgebenden Stück „Menschenjäger“, „Rauch-Haus-Song“ und „Die letzte Schlacht gewinnen wir“. Es sind wie schon „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ Demonstrationshymnen und Vorlagen für Slogans geworden.
Ralf Schlüter schrieb im Magazin Zounds: „‚Keine Macht für Niemand‘ brachte das Unmögliche auf den Punkt: Für den Besetzer und den Sponti, den Marxisten und den Anarchisten. Keine deutsche Platte erreichte diese Energie und Kraft.“ Hartmut El-Kurdi bemerkte 2000 über das Album in ähnlicher Weise in dem Band „Schwarzrote Pop-Perlen“: „Die LP sorgte im linken Lager, trotz der heftigen, stante pede folgenden Kritik einiger ideologisch geschulter Köpfe, für revolutionäres Bauchkribbeln und rhythmisches Gliederschlenkern. Die Scherben kamen an. Sie gaben der theorielastigen linken Bewegung das, was ihr offensichtlich fehlte: Herzblut!“ Zum 25-jährigen Jubiläum des Albums erschien bei Tollschock Records der Tribute-Sampler „Viva L’Anarchia“, für den Ska- und Punkbands Scherben-Songs coverten. Zu den Gratulanten gehörten FLUCHTWEG, MOTHERS PRIDE und DRITTE WAHL.
Bis zur Veröffentlichung des Doppelalbums „Wenn die Nacht am tiefsten ...“ vergingen weitere zwei Jahre. Der Titel verweist auf ein bekanntes Mao Tse-tung-Zitat: „Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten.“ Ob sich die Band über die Herkunft des Zitats bewusst war, ist unklar. Weder in den Erinnerungen Rio Reisers noch der von seinen Bandkollegen findet sich ein Hinweis darauf, obwohl Mao von Rio in seiner Autobiografie namentlich genannt wird. Auf diesem Album wurde die Ballade „Halt dich an deiner Liebe fest“ veröffentlicht. Es ist ein gutes Beispiel für ihre romantische Seite. Rio Reiser hat vielleicht die schönsten Liebeslieder ohne allzu viel Kitsch verfasst. Weiterhin gibt es mit „Nimm den Hammer“ eine Art Coverversion des Songs „Take this hammer“, einer klassischen Skiffle-Nummer.
Im gleichen Jahr zog sich die Band aus Berlin zurück und ließ sich im nordfriesischen Fresenhagen nieder. Die Idee umzuziehen kam der Band wohl bei einem Auftritt auf einem Gehöft. Es wird häufig als eine Art Flucht verstanden vor der Berliner Szene, die einerseits sehr hohe Ansprüche an die Band stellte und andererseits sich auch immer wieder als Wächter oder Richter über sie aufspielte. Der Hof beherbergt noch bis 2011 das Rio Reiser-Haus – inklusive einem Rio Reiser-Archiv. Hier befand sich auch ursprünglich das Grab von Rio Reiser, bevor er nach Berlin überführt wurde und auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Berlin seine letzte Ruhe fand. Zu seinen hiesigen Nachbarn gehören nun sowohl die Gebrüder Grimm als auch die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm.
Ein Jahr darauf machten sich die Scherben in der linken Szene unbeliebt, weil sie – unter dem Pseudonym CAPTAIN HAMMER – im Sommer 1976 beim Wahlkampf der SPD auftraten. Später, im Jahr 1984, traten sie dann für die Grünen an. Für eine Anarcho-Band an sich ein Unding. Passenderweise gehörte der stirnerianisch anmutende Titel „Ich will ich sein“ zur Playlist beim erstgenannten Wahlkampfauftritt. Rios Solohit „König von Deutschland“ wurde später noch in einem Wahlwerbespot der PDS verwendet.
Das vierte Album „IV (Die Schwarze)“ – wiederum ein Doppelalbum – erschien 1981. Das Besondere hier war, dass bis auf den Song „Morgenlicht“ alle Songs von Tarotkarten inspiriert waren. So entstand etwa der Song „Jenseits von Eden“, angeregt durch die Karte „Das Rad des Schicksals“. Die Verwendung des biblischen Begriffs „Eden“ verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass sich Rio rückblickend auf seine Kindheit und Jugend als sehr religiösen Menschen beschreibt. Für den Songtitel „Der Fremde aus Indien“ griff Rio auf einen Romantitel seines Lieblingsautors Karl May zurück. Er war selber Mitglied der Karl-May-Gesellschaft.
1983 erschien mit „Scherben“ das fünfte Album der Band. An der Veröffentlichung war unter anderem Claudia Roth (MdB, Bündnis 90/Die Grünen), ihre damalige Managerin, beteiligt. Wie schon bei den Platten zuvor findet sich ein von Karl May inspirierter Song: „Ardistan“. In dieser Zeit begann Rio mit seinen Soloauftritten. Bereits 1984 erschien die erste Single von ihm: „Dr. Sommer“. Einer der legendärsten Auftritte dürfte der im Oktober 1988 in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle sein. Im DDR-Fernsehen wurde nur eine gekürzte Fassung des Konzerts gesendet. Von den Kürzungen betroffen war unter anderem der Titel „Der Traum ist aus“. Das DDR-Label Amiga brachte dann auch eine vier Songs umfassende Single unter dem Titel „Junimond“ heraus. Im Zuge dessen erschien auch in der ostdeutschen Musikzeitschrift Melodie und Rhythmus ein (kurzes) Interview mit Rio Reiser. Als Beilage gab es auch zwei Rio Reiser-Poster. Als letztes Album erschien im Jahr der Bandauflösung „Scherben In Berlin“. Dieser Live-Mitschnitt von 1984 beinhaltet unter anderem die Songs „Feierabend“, „Shit-Hit“ und „Keine Macht für Niemand“.
1985 trennte sich die Band endgültig. Rio Reiser, der 2019 siebzig geworden wäre, machte noch als Solokünstler weiter – und kam mit Hits wie „König von Deutschland“ (1986) oder „Alles Lüge“ in die Charts; anläßlich seines Todes (1996) kamen die ehemaligen Bandkolleg*innen noch mal zusammen und gründeten 1999 NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN. Neben den Scherben waren Mitglieder der Band – oder der „Familie“ wie sie häufiger genannt werden – an den Kinderhörspielen „Herr Fressack und die Bremer Stadtmusikanten“ (1973) und „Teufel hast du Wind“ (1976) beteiligt. Weiterhin steuerten sie für das Programm der homosexuellen Hamburger Kabarettgruppe Brühwarm eine Reihe von Songs bei, darunter unter anderem den „Shit-Hit“, wie auch für das Münchner Theaterkollektiv Rote Rübe.
Albrecht Koch brachte die Bedeutung der Band auf den Punkt: „TON STEINE SCHERBEN [...] waren die ersten wirklichen Rocker des deutschsprachigen Pop. In den Achtziger Jahren sollte man sie die ersten Punkrocker Deutschlands nennen und die Urväter des deutschsprachigen Rock.“ Dem kann man nur zustimmen. Rio Reiser und TON STEINE SCHERBEN waren sicherlich eine der den Deutschrock in seinen unterschiedlichen Facetten prägendsten Bands. Kaum ein deutschsprachiger Rockinterpret, HipHopper oder Punk verschweigt sie, wenn es um wichtige Einflüsse geht.
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