Mannheim, Anfang Mai. Die Sonne brennt wie andernorts nicht einmal im Hochsommer. Mit einem Sixpack Bier sitzen am Neckarkanal ein paar Studenten, die an Deutschlands einziger Popakademie studieren, um später vielleicht Rockstars zu werden oder ihre Manager. Darunter auch Fabian Eichstaedt, 23, für Musikbusiness eingeschrieben. Eher zufällig komme ich mit ihm ins Gespräch, er ist Schlagzeuger von TALK RADIO TALK, einer Hardcore-Formation - nichts Besonderes, hier spielt jeder in mindestens einer Band; doch die von Fabian steht an einem Punkt, der von vielen mit "kurz vor dem Durchbruch" umschrieben wird. Eine Übertreibung.
Tatsächlich können TALK RADIO TALK bereits anlässlich ihres interessanten Debütalbums "Beyond These Lines" (Swell Creek, 2008) mehr positive Berichterstattung auf der Haben-Seite verbuchen, als es den meisten engagierten Bands da draußen jemals vergönnt sein wird. "Darüber freuen wir uns natürlich sehr", erzählt Fabian bei einem späteren Telefonat, erreicht sei deswegen noch lange nichts. "Uns ist klar, dass wir schnell wieder vergessen werden können." Trotzdem erreicht der Bekanntheitsgrad langsam ein beachtliches Ausmaß. Dabei macht das Sextett aus Stade bei Hamburg gar nicht viel anders als die abertausend pseudoprofessionellen Rocktruppen, die im Proberaum bis zum Realitätsverlust an der großen Karriere arbeiten und sich ungerecht behandelt fühlen, wenn nicht nach dem einem Jahr der Vertrag auf dem Tisch liegt.
Auch die Mitglieder von TALK RADIO TALK nehmen ihre Sache ernst, verlangen voneinander viel Einsatz. Fabian pendelt oft die Sechs-Stunden-Strecke zwischen Mannheim und Stade, damit die Band proben kann. Aber Fabian weiß, wo die Prioritäten liegen: "Es müsste schon ein sehr wichtiger Auftritt sein, damit ich eine Prüfung an der Akademie sausen ließe." Das Studium geht vor.
Eine Selbstverständlichkeit, schließlich sollte sich herumgesprochen haben, dass man mit der Mitgliedschaft in einer Rockband beim Bäcker nicht bezahlen kann. Worin unterscheiden sich TALK RADIO TALK denn von den vielen unbekannten Bands, die ebensoviel Attitüde und Talent an den Tag legen? Die auch einen guten Frisör haben? Vielleicht ist es Zufall, das Glück, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein.
Eventuell liegt der Grund für den bescheidenen Erfolg aber auch woanders. Selbst wenn es in Zeiten der übermäßig gepimpten MySpace-Profile altmodisch erscheint, des Pudels Kern, die Musik nämlich, in den Vordergrund zu stellen, so kann es kaum schaden, ein paar Worte über Sound und Songs zu verlieren.
Bedauerlicherweise wird Hardcore von heute oftmals beinahe zwanghaft mit Metal und großen Gemächten assoziiert oder schlimmstenfalls gleichgesetzt. TALK RADIO TALK aber stimmen ihre Instrumente nicht um eine Oktave herunter, ihre Spielart benötigt auf der Bühne weder Eyeliner noch Nebelschwaden aus Testosteron, um Kraft und Energie zu erzeugen. Dominiert werden die 13 Songs auf "Beyond These Lines" von hellen, transparent wirkenden Klängen, mit Keyboard und Abwechslung, Frontmann Manuel Ploetzky schreit ins Mikrofon und verzichtet aufs Grunzen und Bellen. Oldschool ist das nicht, schließlich trauen sich TALK RADIO TALK viel mehr als die Ikonen der Neunziger. Sie fürchten sich nicht vor Melodien, obwohl Fabian offen zugibt, dass manche Parts im Proberaum aufgrund der Nähe zum Pop durchaus umstritten sind. "Ausprobiert wird aber alles." Ohnehin haben die Songs wenig gemein mit dem, was auf den großen Emocore-Stapel gehören könnte. "Für Manuel kam Gesang von Anfang an nicht in Frage", erläutert Fabian. "Der wollte immer nur schreien, obwohl sich mittlerweile einige wenige Gesangslinien eingeschlichen haben, schließlich bieten sich viele Parts dafür an." Tatsächlich aber sind die Gitarren für die übersichtlich gehaltene Melodieseligkeit verantwortlich. "Nenne es einfach Punkrock mit Geschrei", erleichtert Fabian die Einordnung des Sounds.
Mag ein Teil der enthusiastischen Berichterstattung berechtigt sein, schließlich befinden sich auf "Beyond These Lines" einige mitreißende Stücke, deren Intensität nicht viele Bands bei der Interpretation ihrer Songs aufbringen - die neuen REFUSED werden TALK RADIO TALK niemals sein. Die Richtung mag zwar eine ähnliche sein, doch für Dennis Lyxzén war mit dem Meilenstein "The Shape Of Punk To Come" der Weg zu Ende, während die jungen Männer aus Stade gerade am Anfang stehen, ihre Band besteht erst seit drei Jahren. Der übertriebene Vergleich mit den wegweisenden Schweden wird noch schiefer, wenn man erfährt, dass es sich bei TALK RADIO TALK um eine explizit unpolitische Band handelt. "Wir haben keinen Bock darauf, den Leuten unsere Meinung aufzudrücken oder sie von der Bühne aus zu belehren, wie es andere deutsche Hardcore-Bands tun", sagt Fabian, der auch Namen nennt, die aber nicht gedruckt sehen will. Bei manchen Bands gerieten Ansagen zu politischen Demonstrationen, zur intoleranten Agitation gegenüber Andersdenkenden. "Das wollen wir nicht", so der Schlagzeuger.
Sie seien einfach zufrieden, wenn sie ihre Musik spielen können, das Album haben sie schließlich in erster Linie für sich selbst aufgenommen, gibt Fabian sich bescheiden, und wenn es anderen gefiele, umso besser. Rockstars würden sie mit der Band ohnehin nicht werden. Aber jetzt müsse er los, eine Prüfung stehe bevor an der Popakademie. Dort, wo man studieren kann, wie man ein Rockstar wird.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #79 August/September 2008 und Arne Koepke
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #77 April/Mai 2008 und Thomas Eberhardt
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