Wenn man sich mit australischer Underground-Music beschäftigt, heißt es häufig zu Recht, dass THE SAINTS und RADIO BIRDMAN den Grundstein dafür gelegt haben. Nick Caves BOYS NEXT DOOR und BIRTHDAY PARTY werden in diesem Zusammenhang ebenfalls oft genannt. Eine Band, die vom australischen Musikjournalisten Clinton Walker als "the eternal outsiders" bezeichnet worden ist, wird in diesem Kontext nicht selten vergessen: X. 1977 in Sydney gegründet, sorgte die Band seinerzeit für einige Furore. Man schaffte es damals allein in Sydney auf 32 Konzert-Veranstaltungsverbote. Als eine Bekannte meiner Frau und mir eine E-Mail mit der Nachricht schickte, dass sie die Solo-Shows für Steve Lucas, dem letzten noch lebendem Mitglied der X-Urbesetzung, in Melbourne bucht, nahm ich die Gelegenheit wahr, mich bei besagter Dame zu Hause mit Steve Lucas zu unterhalten.
Steve, was bewegt dich dazu, X am Leben zu halten?
Ich bin das Einzige noch lebende Mitglied der Urbesetzung. Danach kommt Cathy Green, sie ist seit 1984 dabei. Zur Zeit bestehen X aus Cathy Green am Schlagzeug, Kim Volkman, ex-LOVE ADDICTS, am Bass und ich, Gitarre und Gesang. Ich mache X weiter, um so meiner Freunde zu gedenken und um ihre Musik einem Publikum zu präsentieren, das zu jung ist, um das ursprüngliche Line-Up gesehen zu haben. Selbst wenn ich wüsste, dass ich in sechs Monaten tot wäre, würde ich vorher immer noch X Songs spielen, weil ich es jetzt schon seit mehr als 30 Jahren mache und es mir immer noch viel Spass macht. Seitdem Ian Rilen Ende 2006 verstorben ist, kann ich es mir nicht vorstellen, neues Material zu schreiben und es dann unter dem Namen X zu veröffentlichen. Der Original-Gitarrist Ian Krahe und der Original-Drummer Steve Cafiero sind beide verstorben. Peter Coutanche war der Gitarrist, der Ian Krahe ersetzt hat, und auch er ist verstorben. Ebenfalls Cath Synnerdahl. Unser Produzent Lobby Loyde ist im letzten Jahr gestorben. Lobby Loyde hat alle drei X-Alben produziert. Wir werden das Set beim Cherry Rock Festival ihm widmen, denn Sonntag vor einem Jahr hat man seine Asche in Portsea verstreut. Die Recording-Sessions mit ihm machten eine Menge Spass. Wir alle kamen gut miteinander aus. Die Chemie in X war ziemlich wichtig, aber wir hingen immer zusammen rum, da gab es eine Menge Liebe, Hass und Tränen, aber auch viel zum Lachen. In unserem zweiten Line-Up hatten wir diesen Generationskonflikt, denn Ian Rilen war zehn Jahre älter als ich, und ich war acht Jahre älter als Cathy. Ian und Cathy waren zusammen und ich steckte genau mitten dazwischen, aber ich kam auf verschiedenen Ebenen mit beiden sehr gut klar.
Wie seid ihr denn auf den Namen gekommen? Es gab ja auch noch die gleichnamige Band aus L.A. ...
Ian wollte eine Band mit einem X im Namen haben, da gab es schon andere Bands wie zum Beispiel X-RAY SPEX und XTC. Als wir dann über einen Namen nachdachten, meinte Ian, lass uns die Band einfach X nennen. Er meinte, es sei simpel und würde auf Postern gut aussehen. Wir hatten von der Band aus L.A. damals noch nichts gehört. Ich habe ihnen einmal eine E-Mail geschickt, um herauszufinden, wann ihr erster Gig war. Sie waren ja auch keine wirkliche Punkband ... Na ja, wir eigentlich auch nicht, wir haben uns selbst eher als Rock'n'Roll-Band angesehen, aber unsere Attitüde war ziemlich Punk. Wir bekamen damals viele Hausverbote, weil unser Publikum aus lauter Chaoten bestand. Und als Gig-Poster verwendeten wir Zeitungspapier und schmierten mit Farbe ein großes X darauf ...
Als ich mir die Wiederveröffentlichung der zweiten LP "At home with you" im Plattenladen angehört habe, meinte der Besitzer, ich müsse mir zuerst "Degenerate boy" anhören, es wäre eine australische Hymne. Worum geht's in dem Song?
Ian hatte die Idee, den Song "Degenerate boy" zu nennen. Er schrieb die ersten beiden Textzeilen, "I ain't got no money, I can't pay the rent ...", und meinte zu mir, ich solle den Rest machen. Ich nahm Ians Idee und machte daraus eine Art Satire über die Hälfte der Leute in unserem Publikum: Leute, die kein Geld hatten, um die Miete zu bezahlen und harte Drogen nahmen. Die Leute haben es aber so verstanden, als wenn wir selbst uns als degeneriert darstellen wollten, dabei war es aber das, was ich vor mir sah, wenn ich auf der Bühne stand. Damals war Heroin in Sydney immer irgendwie im Spiel.
Man könnte sagen, dass der X-Sound insgesamt ziemlich bassorientiert ist, oder was denkst du?
Ian Rilen hatte sich Klaviersaiten auf seinen Bass gespannt, um diesen Sound hinzukriegen. Er hatte ROSE TATTOO 1977 verlassen, weil ihm deren Sound nicht roh und urwüchsig genug war.
Oft liest man, dass RADIO BIRDMAN viele spätere Sydney-Bands beeinflusst haben. Traf das auch auf euch zut?
RADIO BIRDMAN hatten diesen amerikanischen Sound. Wir wollten nicht amerikanisch klingen, wenn schon, dann britisch. Wir mochten nicht so besonders viele amerikanische Sachen. Wir mochten Iggy, aber wir wollten nicht so klingen. Deshalb klingen X auch anders als alle anderen damaligen Sydney-Bands. Wir hatten ziemlich unterschiedliche Einflüsse, aber als wir unsere Einflüsse dann beim Songwriting zusammen brachten, schien daraus irgendwie etwas Einzigartiges geworden zu sein. Steve Cafiero und Ian Rilen waren zehn Jahre älter, sie entstammten einer anderen Generation, sie waren musikalisch erfahren und hatten mit ihren vorherigen Bands wie BAND OF LIGHT oder ROSE TATTOO kommerziellen Erfolg gehabt. Ian Krahe und ich, wir waren Kids, die zusammen zur Schule gegangen sind. Wir beide liebten britische Bands wie THE KINKS, THE WHO, STONES, SEX PISTOLS. THE SAINTS und RADIO BIRDMAN hatten zwar den größeren kommerziellen Erfolg, aber wenn es um reine Inspiration geht, schlägt kaum einer X. So viele Leute sind schon zu mir gekommen und meinten, dass X der Grund dafür gewesen seien, dass sie eine Band gegründet haben, zum Beispiel die HARD-ONS. Tim Rogers ist ebenfalls großer Fan. Mark Seymour von HUNTERS & COLLECTORS hat in seinem neuen Buch X ein Kapitel gewidmet, in dem er erzählt, wie wir ihn damals mit unserem Sound weggeblasen haben.
In den 90ern hast du ja dann in Melbourne gelebt ...
Als ich nach Melbourne kam, war es für mich, wie in ein anderes Land zu kommen. Ich liebe Melbourne, mit X spielten wir dort fantastische Shows. Ich nahm ein Solo-Album in Melbourne auf und war in einer Band namens BIGGER THAN JESUS, nach dem bekannten Zitat von John Lennon benannt. BIGGER THAN JESUS waren Hardcore-Heavy Metal. Wir haben ein Album veröffentlicht und bekamen sogar gute Reviews in Deutschland. Wir hatten diese eins achtzig großen Kreuze auf der Bühne und setzten sie in Brand. Während der Shows kam ein als Mönch verkleideter Freund von uns mit einer Kettensäge auf die Bühne und verarbeitete alles zu Kleinholz.
Erzähl doch mal von dem Benefizkonzert in Kathmandu, das du letztes Jahr gemacht hast.
Das war das Verrückteste, was mir jemals passiert ist. Ich hatte eine Solo-Show im Idgaff Pub in Melbourne gespielt und eine Frau kam zu mir und fragte, ob ich einen Benefiz-Gig in Kathmandu spielen wolle. Der Gig wurde dann von der Love Hope Strength Foundation organisiert und die Einnahmen kamen einem Hospital dort zugute, in dem Krebskranke operiert werden. Bei einer Führung durch das Krankenhaus und einer Ansprache der Organisatoren in einem Operationssaal, der so groß war wie mein Badezimmer, war ich echt zu Tränen gerührt. Ich spielte dort zusammen mit Mitgliedern von THE ALARM und STRAY CATS. Und die Nepalesen nannten mich den Yeti Mann, haha.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #79 August/September 2008 und Matt Henrichmann