Als im Herbst 2007 Steve Ignorant mit einer Band guter Freunde an zwei Abenden die Lieder des CRASS-Albums „The Feeding Of The 5000“ (Small Wonder, 1978) spielte, zog das tausende Besucher aus aller Welt an, und fast alle, die vor Ort waren, waren begeistert. Nein, dieser Punk war nicht tot und er roch auch nicht komisch, er hatte immer noch das Potenzial, die Wut von Menschen in Musik und in Worte zu fassen, auch wenn bald 30 Jahre vergangen waren und die damalige Erzfeindin Maggie Thatcher längst im Altersheim und nicht mehr in der Downing Street sitzt. Ein gewagtes Vorhaben war also geglückt, und das, obwohl es im Vorfeld und unbemerkt von der Öffentlichkeit Kontroversen gegeben hatte unter den Ex-CRASS-Mitgliedern, die nicht alle vom Vorgehen ihres jüngsten Bandmitglieds und Sängers begeistert waren und es lieber gehabt hätten, hätte man die Band ruhen lassen. Immerhin, mit dreijähriger Verzögerung gab Penny Rimbaud dem Projekt 2010 doch noch sein Okay.
Im Herbst 2010 nun spielte Steve Ignorant mit seiner unter dem Namen THE LAST SUPPER agierenden Band einige Konzerte in Europa, passend zum Erscheinen des neu aufgelegten und überarbeiteten Debütalbums „The Feeding Of The 5000“ im Rahmen der „The Crassical Collection Reissues“-Serie (die weiteren Alben sollen folgen, die Neuauflage von „Penis Envy“ kommt im Dezember), in dessen Vorfeld es erneut zu Unstimmigkeiten gekommen war: Bassist Pete Wright drohte zwischenzeitlich sogar mit anwaltlichem Vorgehen, was dem Ruf der Anarcho-Punkband par excellence sicher noch mehr geschadet hätte als vor einigen Jahren das Gerichtstheater um die DEAD KENNEDYS. Ich unterhielt mich mit Steve Ignorant im Vorfeld der Tour am Telefon. 2011 wird es übrigens weitere Konzerte und damit eine letzte Möglichkeit geben, etwas CRASS-Ähnliches live zu sehen.
Übrigens: „The Rest Is Propaganda“ ist der Titel der Autobiographie, die Steve Ignorant zusammen mit Steve Pottinger verfasst hat und die kurz nach unserem Interview erschienen ist. Im Gegensatz zu Penny Rimbauds Buch liegt bislang keine deutsche Übersetzung vor, wer also Steves Version der CRASS-Geschichte hören will, sollte des Englischen mächtig sein.
Steve, wie hast du das Konzert in London vor drei Jahren erlebt, als der ganze Saal in den Text von „Do they owe us a living“ einstimmte?
Ich war erstaunt! Diesem Konzert waren ja einige Kontroversen vorausgegangen und ich wusste nicht, wie die Leute auf uns reagieren würden. Sobald ich dann aber loslegte mit „Do they owe us a living“, konnte ich das Lächeln in all den Gesichtern sehen, dann sangen alle mit und es war fantastisch.
Das Publikum bestätigte dich also darin, das Richtige getan zu haben.
Absolut!
2007 wie jetzt im Herbst 2010 ist bei so einigen Besuchern auch Nostalgie im Spiel.
Ich denke, Nostalgie muss nichts Schlechtes sein. Und ich bin daran ja auch nicht unschuldig, habe ich doch jedem erzählt, dass diese Tour die letzte sein wird, weshalb sie auch das Motto „The Last Supper“ hat. Ende 2011 wird es auch die allerletzten Konzerte geben, denn ich sehe nicht, dass ich noch fünf Jahre lang mit diesem Konzept toure – das wäre dann viel zu sehr wie die SEX PISTOLS oder SHAM 69.
Und es gibt Bands, die ihre letzte Tour ankündigen, und dann die allerletzte, und die allerallerletzte ...
Oh ja ... Das halte ich nicht für richtig, weshalb es in meinem Fall das letzte Mal gewesen sein wird. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ein bisschen Nostalgie ist schon in Ordnung. Außerdem versuche ich mit der Band nicht CRASS zu sein – und wir sind auch nicht eine Coverband à la T.REXTASY oder THE BOOTLEG BEATLES. Stattdessen gibt es unsere Version dieser großartigen CRASS-Songs, die über 25 Jahre lang nicht live gespielt wurden. Anstatt unsere Konzerte als Ausdruck nostalgischer Gefühle zu sehen, sollte man sie als eine Feier zu Ehren dieser großartigen Lieder ansehen, als Versuch, erneut zum Ausdruck zu bringen, was wir damals fühlten, und einfach zusammen Spaß zu haben. Am allerwichtigsten ist doch, dass am Abend eines Konzertes alle Anwesenden zusammen Spaß hatten.
Kannst du dennoch Kritik an so einer Art von „Revival“ nachvollziehen?
Das Problem ist, dass die Leute sich seit dem Ende von CRASS ihr eigenes Bild davon gemacht haben, was CRASS waren und worum es bei CRASS ging, und was ich infolgedessen tun oder lassen sollte.
Eine Idealisierung von CRASS also?
Ja, genau. Ich habe das ziemlich bald gemerkt, als ich vor drei Jahren die beiden Konzerte in London vorbereitete. Da gab es Leute, die meinten, ich solle das nicht tun, denn das würde den Mythos von CRASS zerstören. Ich sagte dann nur: „Dann ist ist ja gut, das soll es ja auch!“ Es war ja eines der Anliegen von CRASS, genau solche Mythen zu zerstören, solche Herren und Götter, denn die brauchen wir nicht. Letztlich kann es also für die Kritiker nur die Aufforderung geben, doch einfach nicht zu den Konzerten zu kommen, wenn ihnen diese Idee nicht gefällt. Außerdem gibt es schon genug Leute, die uns vorschreiben wollen, was wir zu tun und zu lassen haben, von Regierungen über Polizisten bis zu Geschäftsleuten, so dass wir alten Punks von über 40 Jahren niemanden brauchen, der uns sagt, was wir tun dürfen und was nicht – niemanden in unserem Alter und niemanden, der jünger ist. Das ist nämlich einfach lächerlich.
Was ist so besonders oder zeitlos an den Texten, dass sie auch nach 30 Jahren noch relevant sind?
Dazu musst du dich nur mal in England umschauen: Seit Thatcher war jede Regierung genauso schlimm oder sogar noch schlimmer. Es sind immer noch viele Menschen obdachlos, die Regierung will neue Atomkraftwerke bauen, die Polizei ist immer noch brutal – all die Themen, über die wir damals Texte schrieben, sind immer noch relevant, nur die Namen der Politiker haben sich geändert. Immerhin, es gibt heute in Nordirland so was wie Frieden, auch wenn es noch Probleme gibt, so dass auch unsere Aussagen dazu noch eine gewisse Gültigkeit haben. Und ein Song wie „How does it feel?“ über den Krieg um die Falkland-Inseln zwischen Großbritannien und Argentinien trifft in seinen Aussagen genauso auf den Irak-Krieg zu. Wenn ich mir also die Songs anhöre, finde ich die immer noch treffend, und hätte ich Zweifel an der Richtigkeit meines Tuns, ich würde die Konzerte nicht spielen. Immerhin bekommen so endlich auch Leute die Songs live zu hören, die nie die Chance dazu hatten, denn CRASS waren ja nie richtig auf Tour in Europa oder den USA. Und trotzdem ist es erstaunlich, wie aktuell CRASS-Texte angesichts der Verhältnisse auf der ganzen Welt sind.
Du erwähntest eben „The Last Supper“. Wer gehört zu deiner Tourband?
Vom Ritchie von den TOTEN HOSEN, der in London Schlagzeug spielte, hatte jetzt leider keine Zeit, aber mit Spike Smith habe ich auf Empfehlung von Vom einen guten Ersatz gefunden, der auch schon für Morrissey, CONFLICT, KILLING JOKE und viele andere getrommelt hat. Als Co-Sängerin konnte ich Beki gewinnen, Bob spielt wieder Bass, und an der Gitarre ist wieder Gizz – der andere Gitarrist von London ist nicht dabei. Mein Problem war nicht, Leute zu finden, die CRASS verstehen, die Interessenten standen Schlange. Aber Gizz Butt ist ein exzellenter Gitarrist und er kennt die Songs vor- und rückwärts, der hat mich manchmal schon richtig genervt, wenn er beim Proben noch das kleinste Detail exakt hinbekommen wollte und das zig Mal spielte. Beki war in London nicht dabei, aber letztes Jahr spielte ich auf einem Festival, bei dem Sadie, die in London „Shaved women“, „Bloody revolution“ und „Women“ sang, keine Zeit hatte. Ich fragte die Veranstalter des Festivals, ob sie jemand wüssten, und so kam ich auf Beki, deren YouTube-Videos mit ihrer Band LOADED 44 mich überzeugten. Mit Bob Butler spiele ich schon seit vielen Jahren zusammen, er war auch bei meiner Band SCHWARTZENEGGAR dabei.
Wie nah dran am Original muss man die Songs spielen, wie sehr muss das nach CRASS-Coverband klingen, wie frei kann es sein?
Nun, die Leute müssen in der Lage sein, das Original zu erkennen, aber es geht nicht darum, in jedem Song jeden Akkord exakt nachzuspielen. Letztlich ist es unsere Interpretation der CRASS-Songs, und es wäre blöd, exakt wie CRASS auszusehen und zu klingen, ja, CRASS sein zu wollen. Andererseits würde zu viel eigene Interpretation die Lieder zerstören. Die Leute kommen ja zu den Konzerten, um die Songs, die sie kennen, noch einmal live zu hören, im Wissen, dass es nicht exakt so klingen wird wie damals.
CRASS entstanden vor einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen Hintergrund, die Siebziger bestimmten Form und Inhalt. Siehst du heutige Bands mit entsprechenden Inhalten, die das in einer zeitgemäßen Form tun?
Es gibt solche Bands, aber die bewegen sich so im Untergrund, dass die normalen Medien davon keine Notiz nehmen. Ich habe mich neulich noch darüber mit jemandem unterhalten, der stellte mir die Frage, ob ich glaube, dass CRASS heute existieren könnten. Ich antwortete, dass ich nicht sicher sei, ob CRASS heute möglich wären. CRASS sind eben ein Produkt ihrer Zeit, alles war handgemacht, sehr rauh, sehr D.I.Y. Es gab damals keine Mobiltelefone, kein Internet, alles musste auf dem Briefwege organisiert werden oder per Telefon. Themen wie die Anti-Atomkraft-Bewegung, die Abrüstung oder Anarchismus waren enorm wichtig, und wenn wir Konzerte spielten vor einem sehr jungen Publikum, dann hörten sie davon oft erst durch uns von solchen Themen. Heute hingegen gibt es das Internet, du kannst alles googlen, und welches Thema auch immer dich interessiert, schau im Internet nach und du findest etwas dazu. Angesichts all dieser neuen Technologien frage ich mich, ob CRASS unter diesen heutigen Bedingungen so möglich wären. Wenn ich heute eine neue Band gründen würde, wüsste ich nicht, ob ich in der Lage wäre, Songs zu schreiben wie wir damals, und wenn ich es täte, wäre ich mir nicht sicher, ob man mich ernst nehmen würde. Ich fürchte, auch wenn die CRASS-Songs heute noch relevant sind, man würde über sie lachen, wären es Songs, die heute geschrieben wurden. Es ist echt seltsam.
Ihr habt Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger mit dem legendären Band-Hauptquartier Dial House, in dem alle Menschen willkommen waren, ein sehr eigenständiges, unabhängiges Leben geführt. Mir scheint, es war damals noch in einem weit größeren Maße möglich so selbstbestimmt zu leben als in der heutigen stark vernetzten Welt. Wie viel stärker ist heute der Druck sich anzupassen?
Das ist schwer zu sagen. Es ist sicher schwieriger, sich heute aus allem auszuklinken. Man kann sich der modernen Welt ja nirgendwo mehr entziehen. Man muss seine T-Shirts nicht mehr aufwendig selbst drucken, man lässt das einfach drucken, und man muss nicht mehr in einem großen Studio aufnehmen, man macht das in seinem Schlafzimmer selbst – alles, was man als Band so braucht, ist viel einfacher geworden und leichter zugänglich. Man muss sich also nicht mehr ausklinken und außerhalb der Gesellschaft stehen, das ist interessant, oder? Wäre ich heute ein Teenager, ich glaube, es würde mir schwerfallen, gegen irgendwas zu rebellieren.
Hast du Kinder?
Nein, aber einen Hund und ein Klavier. Und das reicht mir.
Wenn wir schon bei deinem Privatleben sind: Wie lebst du, was machst du?
Ich bin vor ein paar Jahren umgezogen, weg aus Essex nahe London, nach Norfolk, an der englischen Ostküste. Ich lebe in einem sehr kleinen Dorf am Meer. Abgesehen von meiner Arbeit an „The Feeding Of The 5.000“ und den Konzerten arbeite ich in einem Pub in der Küche, ich spüle da das Geschirr. Und ich arbeite für die Seenotrettung.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Wenn jemand zu ertrinken droht, steigen wir ins Boot und versuchen, ihn zu retten. Das ist ein Freiwilligendienst, der sich alleine durch Spenden finanziert.
Und hast du schon jemandem das Leben gerettet?
Ja, dieses Jahr. Drei Männer waren zu weit rausgeschwommen und schafften es nicht wieder zurück ans Ufer, also fuhren wir los und zogen sie ins Boot. Die waren schon etwas unterkühlt, und als wir sie ans Ufer brachten, warteten bereits die Sanitäter. Das ging gerade noch einmal gut. In anderen Fällen müssen wir uns um Boote kümmern, die nicht mehr manövrierfähig sind. Wir hatten dieses Jahr bisher 17 Einsätze, manches waren Fehlalarme, aber in neun Fällen ging es auf See. Und jeden Samstag und Sonntag trainieren wir.
Um wie viel realer ist so ein Seenotrettungseinsatz im Vergleich zu einem Auftritt, bei dem man einem Publikum politische Botschaften predigt?
Wenn ich auf der Bühne stehe, kann ich mir nicht vorstellen, wie es ist, auf See zu sein, und wenn ich auf See bin, ist die Bühne ganz weit weg. Das sind zwei völlig verschiedene Aspekte meines Lebens, die man nicht vergleichen kann.
Mir scheint aber, dass die Tätigkeit als Seenotretter viel „realer“ ist als die des Sängers einer Punkband.
Oh ja! Es geht da einfach nur um Leben oder Tod, da hängt das Leben eines Menschen davon ab, dass ich schnell genug bei ihm bin.
Was hat dich dazu motiviert, dich in dieser Weise zu engagieren?
Ich hatte mit „The Feeding Of The 5000“ etwas Geld verdient und wollte das spenden. Ich war damals noch nicht Mitglied bei den Seenotrettern, kannte aber ein paar von ihnen und dachte mir, wenn ich denen das Geld spende, sehe ich wenigstens, was damit geschieht. Die haben das Geld dann in neue Schwimmwesten investiert, und wenn man so will, haben die Besucher der Londoner „The Feeding Of The 5000“-Konzerte damit dazu beigetragen, dass anderen Menschen das Leben gerettet werden kann. Quasi als „Belohnung“ haben die mich dann mal auf eine Bootsfahrt mitgenommen und fragten mich bei der Gelegenheit, ob ich nicht mitmachen will. Ich zögerte, weil ich mich zeitlich nicht einschränken wollte, aber das war ihnen egal, denn es zählt nicht, wie viel Zeit man übrig hat, sondern nur, dass man Zeit hat, selbst wenn es nur dafür ist, den Boden der Einsatzzentrale zu fegen. Und so wurde ich Mitglied und habe mich dann mit der Zeit mehr engagiert.
Mit der „The Feeding Of The 5000“-CD erschien im Herbst der erste Teil der „The Crassical Collection Reissues“-Serie. Warum war diese Veröffentlichung des Klassiker-Albums als aufwendige CD-Box mit Bonus-Songs und dickem Booklet notwendig, und wie wurde die Sache angegangen, was gab es für Schwierigkeiten?
Die grundsätzliche Herausforderung bei dem Projekt war, dass Penny Rimbaud ins Studio gehen musste, um die Tonbänder zu retten, auf denen wir das Album aufgenommen hatten. Das Bandmaterial hatte begonnen sich zu zersetzen, doch wir schafften es, die Aufnahmen zu digitalisieren. Die Originalbänder wurden versiegelt und werden sicher gelagert. Penny stellte beim Hören dieser Aufnahmen fest, dass sie etwas Remastering vertragen können, dass man mit heutiger Technik mehr aus den damaligen Aufnahmen rausholen kann. Er fragte mich nach meiner Meinung, und ich ermutigte ihn, das zu tun. Allison von Southern Records – Southern kümmert sich seit damals um den Vertrieb unserer Platten – fand die Idee auch gut und schlug vor, bei der Gelegenheit doch alle CRASS-Aufnahmen zu überarbeiten. Wir erzählten Gee Vaucher von diesen Plänen, sie fand die gut und schlug vor, die überarbeiteten Aufnahmen in neuer Verpackung aufzulegen. Denn das Artwork der CDs war bis dahin nur das, was vor vielen Jahren mal erstellt und nie mehr geändert worden war. Gee als Künstlerin und Gestalterin der Cover war damit unzufrieden, denn ihre Artworks mit all den kleinen Details kamen so kaum zur Wirkung, und sie sah in der Neuauflage eine großartige Gelegenheit, das Artwork zu überarbeiten. Ich hatte davon allerdings zuerst nichts mitbekommen und war zuerst etwas sauer, doch als ich das überarbeitete Artwork dann gesehen hatte, war ich begeistert. Allerdings gibt es drei ehemalige CRASS-Mitglieder, die diese Rereleases nicht wollten, was sich vielleicht noch zu einem Problem entwickeln könnte, aber das wird sich zeigen.
Und wie sind die bisherigen Reaktionen?
Alle Reviews, die ich bislang gelesen habe, fanden die Neuauflage gut. Ich finde, der Rerelease lenkt nicht von den ursprünglichen Aufnahmen ab, sondern verstärkt ihre Wirkung.
Aber wieso gibt es diese Neuauflage nur auf CD? Dieser Tage wenden sich immer mehr Labels von CDs ab und setzen auf Vinyl mit Download-Code.
Ja, und das ist cool, ich würde auch gerne Vinyl machen und vielleicht wird das ja auch was. Das Problem ist allerdings, dass nicht mehr viele Leute überhaupt einen Plattenspieler haben, und diese Leute wollen wir nicht ausschließen. Außerdem sind die Vinylversionen unserer Platten ja sowieso immer noch zu haben. Mit einem gewissen Ex-Mitglied von CRASS haben wir uns über genau das Thema gestritten, und der vertrat die Ansicht, es gäbe nicht die Notwendigkeit eines Rereleases, es gäbe ja genug Möglichkeiten, sich unsere Alben irgendwo im Internet herunterzuladen. Wegen diesem Herrn mussten wir dann auch zwischenzeitlich die ganze Produktion stoppen, denn es wurden uns rechtliche Schritte angedroht. Wir beschlossen dann aber, auf diese Drohung zu scheißen, den Rerelease zu machen und uns gegebenenfalls verklagen zu lassen, wenn das sein Wunsch ist.
Und wie ist der aktuelle Stand diesen Streit betreffend?
Es ist sehr ruhig geworden und die CD ist im Verkauf. Sollte irgendwer vor Gericht gehen deshalb, wirst du davon in der Presse lesen, haha. Es wäre wirklich traurig, wenn die, haha, größte, härteste Anarcho-Punkband der Welt es nicht schaffen sollte, so ein kleines Problem zu lösen wie das Coverartwork oder den Sound einer Platte, und sich stattdessen an den Rockzipfel unserer fürsorglichen Mutter Staatsgewalt klammert. Das ist so ironisch, das ist unglaublich, das ist komplette Scheiße. Sollte es dazu kommen, wäre es wirklich schade, denn ich will, dass man sich an CRASS erinnert wegen der Lieder und der Konzerte.
Gibt es eine Aussage, einen Text von CRASS, den du aus heutiger Sicht bereust, oder haben alle Statements von CRASS bis heute so Bestand, wie sie damals geschrieben wurden?
Mit den allermeisten Aussagen stimme ich auch heute noch überein. Es gibt ein paar Songs, die ich nicht so gut finde, und die letzte EP „Ten Notes On A Summer’s Day“ fand ich noch nie gut.
Vom ersten Album, das auf Small Wonder erschien, mal abgesehen, wurden alle eure Platten auf dem bandeigenen Label in Zusammenarbeit mit dem Londoner Label und Vertrieb Southern veröffentlicht. John Loder, dessen Inhaber, war so was wie ein „externes“ Mitglied von CRASS, er nahm als Toningenieur eure Platten auf, starb aber 2005. Wer kümmert sich heute um Southern und um eure Platten?
Das macht Allison bei Southern, und sie hat echt einen harten Job, denn sie ist auch noch meine Managerin. Im Laufe der letzten Jahre sind zudem auch die Plattenverkäufe der CRASS-Alben immer weiter zurückgegangen, wie die anderer Bands. Für mich war es aber klar, weiterhin mit Southern zusammenzuarbeiten, nach all dem, was John und sie für uns getan haben.
Verfolgst du, wie CRASS heutzutage weltweit wahrgenommen werden? Und wo würdest gerne noch touren?
Ich würde gerne mal in Russland spielen. Eigentlich ist es ja einfach, mit mir in Kontakt zu treten und zu versuchen, eine Tour zu organisieren, aber offenbar gibt es in Russland keine CRASS-Fans. Island würde mich auch interessieren, da gibt es ein paar Fans, aber wohl nicht genug, als dass sich das rechnen würde mit den Flügen und so. Und 2011 wird es vielleicht mit einer US-Tour klappen, doch da habe ich den Eindruck, dass es dem Tourveranstalter am liebsten wäre, wenn CRASS kämen, das würde die Sache wohl vereinfachen. Ja, klar, wir machen eine CRASS-Reunion und spielen in Las Vegas ... ha!
Ende 2011 wird das letzte Konzert zu „The Feeding Of The 5000“ stattfinden. Was machst du dann?
Ich werde mich ein Jahr lang ausklinken und schreiben. Ich würde dann gerne mit einem Spoken-Word-Programm auf Tour gehen, in kleinen Läden und Kunstgalerien, mit niedriger Bühne und mit einer kleinen musikalischen Begleitung und Bildprojektionen dazu. Das wird dann aber auch nichts mit CRASS zu tun haben.
Steve, besten Dank für das Interview.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #93 Dezember 2010/Januar 2011 und Joachim Hiller