Während junge Leute ja dazu neigen, jeden Scheiß gutzufinden, haut mich als End-Zwanziger eher selten noch so richtig was um. Umso heftiger flattert mir die Schlafanzughose, die ich mittlerweile oft den ganzen Tag lang nicht mehr ausziehe, wenn ich dann mal wieder so eine richtige Hit-Schallplatte aufs Gramophon bekomme. Das hat in meinem Alter allerdings meist etwas mit Nostalgie zu tun.
So stehl ich mich doch kürzlich zu meinem Mitbewohner rüber, um dessen letzte Plattenlieferung durchzuchecken, da erwischt der mich doch dabei und drückt mir eine Single mit den Worten in die Hand, "Nimm´ die, die sollen so SUPERCHARGER-mäßig sein. Da stehst du doch drauf!" "Na und ob!!" erwidere ich und bin mit dem Teil auch schon wieder in meinem Teil unserer Hütte. Ich leg´ die Scheibe auf, und während ich mir noch so das klassisch lo-fi-gestaltete Cover im Fotokopierer-Look anschaue, fühle ich mich beim Hören der ersten Klänge spontan an den Anfang unseres Jahrzehnts versetzt, als von San Francisco aus eine rockmusikalische Revolution losbrach und alle Welt erst zu SUPERCHARGER und dann zu den RIP OFFS tanzte. Nachdem ich erstmal zweimal 1 3/4 Minuten bizarr mit meinen Gliedern herumgezuckt und dabei ein abstoßendes Bild abgegeben habe, greif ich mir nochmal das Cover und les´ mir in aller Ruhe den Namen der Band durch. SELL OUTS lese ich und registriere gleichzeitig erfreut das darin offen zur Schau getragene Epigonentum in Bezug auf eine der schon von mir erwähnten US-amerikanischen Vorbilder-Bands. Die zwei Songs der 7" könnte man dementsprechend auch am besten als eine Mischung aus SUPERCHARGER und den RIP OFFS mit erhöhter Geschwindigkeit beschreiben, wenn solcherart Filigrandefinition nicht doch schon etwas übertrieben anmuten würde.
Als wäre es nicht schon aufregend genug, mal wieder eine derartig befugte Budget-Punk-Band entdeckt zu haben, muß ich zu allem Überfluß auch noch feststellen, daß das nicht, wie erwartet, irgendwelche Allerweltsamis sind, sondern in der Tat waschechte Brasilianer. Und auch wenn in unserem Zeitalter der Globalisierung die Welt ja doch eigentlich nur noch ein Dorf ist, und man auch in wesentlich entlegeneren Winkeln der Welt als Brasilien mit "Converse"-Turnschuhen an den Schweißfüßen rumlatscht, kommt es einem trotz alledem noch ein wenig kurios, oder zumindest originell, vor, wenn jetzt auch am ollen Zuckerhut die "South City"-Schule des Lo-Fi-Punks Einzug gehalten hat. Jedenfalls war es allemal ein Grund für mich, sogleich eine Depesche aufzusetzen und sie den SELL OUTS rüberzutelegrafieren.
Nach eigener Aussage sind die SELL OUTS in Brasilien erwartungsgemäß so etwas wie die einzigen Sehenden unter Blinden, nämlich die Einzigen die wissen, was man mit einer Garage noch anfangen kann, außer ein Auto reinzustellen. Man fristet dort also ein Schattendasein als einsame Budget-/LoFi-Punker unter einer Armee von Hardcore- und Straight Edge-"Narren" - von Garage-Szene keine Spur! Das verwundert im Grunde, da bekanntermaßen die RAMONES in Süd-Amerika noch größer sind/waren als im Rest der Welt; eine Tatsache, der die New Yorker nicht zuletzt (und wiederum doch) mit dem Albumtitel "Adios Amigos" Rechnung getragen haben. Inspirationsmäßig hat das bei den "Amigos" dann ja aber wohl nicht gefruchtet.
Ohne die Unterstützung sie ermunternder Garage-Punk-"Aficionados" haben die SELL OUTS demzufolge auch fünf, sechs Jahre gebraucht, um gerade mal zwei Singles aufzunehmen, die, da der Prophet im eigenen Land ja nun mal nicht gefragt ist, folgerichtig in der Fremde, nämlich dem Mutterland des LoFi-Punks, den USA, erschienen. Neben der 7" die ich, äh (räusper) ich meine natürlich, mein Mitbewohner besitzt ("Hey Mofo"/"I Wanna Puke Like Milton") gibt´s nämlich noch eine zweite ("Singing Bomb") auf demselben Label, geheißen Rapid Pulse Records (PO Box 5075, Milford CT, 06460 USA) aus dem schönen Staate Connecticut. Die kenne ich zwar nicht, werde es aber, so Gott will, bald, da der Frank, seines Zeichens Plattensammler, sich die auch noch bestellt hat. Wie mir SELL OUTS Gitarist Marcelo mitteilte wird in Kürze aber auch noch eine dritte Single auf einem italienischen Label erscheinen.
Die Produktionsweise der Band ist dieselbe wie die aller Budget-Rock-Bands in der ganzen Welt, Do-It-Yourself lautet hier selbsverständlich die Formel. Klassische 4-Spur-Bastler sind sie also, die mit dieser Aufnahmeart auch den Rausschmiß des Bassisten (Delikt: "dorkyness") kompensieren können. "Live" geht das natürlich nicht, aber wie gesagt, die will bei denen zu Hause ja sowieso keiner sehen.
Alles in allem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich brasilianische Garagen-Rocker wahrscheinlich kein bißchen von ihren Gesinnungsgenossen irgendwoanders auf der Welt unterscheiden. Marcelo hat mir freundlicherweise gleich seinen Mitgeschmack mitgemailt, und der findet auch nichts anderes gut als wir oder du. Nur ihren Karneval, den er anpreist, haben wir hier natürlich nicht (und "crazy beaches and crazy bitches" hab´ ich bei uns auch noch nirgendwo gesehen).
So bleibt mir als dem Chronisten jetzt also nur noch die Aufgabe, ein weiteres "Budget-Rock"-Fähnchen in den Globus zu pieken und ansonsten auf die nächsten Entdeckungsmeldungen zu warten. Also bis zum nächsten Mal, wenn es vielleicht heißt "RIP OFFS-Coverband am Südpol entdeckt!".
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #36 III 1999 und Stefan Moutty