SEEIN RED

Foto© by Michiel de Wilde

Der Kapitalismus ist der wahre Virus

Mit SEEIN RED verbindet mich eine gut 36-jährige Freundschaft, seitdem ich Jos und die Brüder Paul und Olav in den Achtzigern zum ersten Mal mit ihrer damaligen Band LÄRM in Holland live erleben durfte. Nachdem der Sänger von LÄRM 1990 ausgestiegen war, machten die übrigen Mitglieder als SEEIN RED weiter. Seit drei Jahrzehnten sind sie nun in der DIY-Hardcore-Punk-Szene unterwegs und waren in vielen Ländern auf Tour. Ihr Markenzeichen ist knüppelschneller Hardcore-Punk mit extrem engagierten Texten. Man könnte SEEIN RED durchaus als das gute Gewissen der europäischen Punk-Szene bezeichnen. Ab 2012 ist es leider etwas still um die Band geworden, doch jetzt ist geplant, dass SEEIN RED im September 2021 auf dem Network of Friends Festival in Marl spielen sollen. Gitarrist/Sänger Paul van den Berg beantwortet meine Fragen.

Ihr habt eine ganze Weile nichts von euch hören lassen. Was war los?

Jos hatte sich einen schweren Hörschaden in Kombination mit einer Ohrenentzündung zugezogen. Die Ärzte sagten ihm, dass sein Hörverlust so schwerwiegend war, dass laute Musik, geschweige denn weitere Aktivitäten mit der Band, keine Option mehr für ihn seien. Tatsächlich hätte er sein Gehör verlieren können, wenn er nicht aufgehört hätte, mit uns zu spielen. Diese deutliche Ansage des Arztes markierte das Ende von SEEIN RED. Am 11. Februar 2012 hatten wir schließlich unseren letzten Auftritt im OCCII Amsterdam.

Mir ist aufgefallen, dass ihr inzwischen wieder vereinzelte Konzerte spielt. Lässt Jos’ Gesundheitszustand nicht mehr zu?
Ende 2018, nachdem Jos sich sechs Jahre lang von allen möglichen lärmintensiven Situationen ferngehalten hatte, hat sich sein Gehör wieder sehr verbessert. Also überlegte er, vielleicht wieder mit SEEIN RED anzufangen. Wir haben uns dann testweise für ein paar Proben getroffen, um zu sehen, ob Jos’ Gehör unserem Krach würde standhalten können. Das stellte sich als wirklich okay heraus. 2019 haben wir dann wieder angefangen, Konzerte zu spielen. Weil wir es nicht übertreiben wollten, um nicht zu riskieren, dass Jos’ wiedererlangtes Gehör Schaden nimmt, haben wir nur eine Handvoll Auftritte gespielt, auf die wir wirklich Lust hatten. Aber es lief so gut, dass wir mehr Termine gebucht haben. Für 2020 hatten wir ziemlich viele Gigs geplant, aber leider hat das COVID-19-Virus uns wieder ausgebremst.

Was bedeutete Punk für dich, als du ein Teil der Szene in Amersfoort wurdest?
Um ehrlich zu sein, gab es damals in Amersfoort gar keine Szene. Als ich und Olav 1979 Jos und Alex kennen lernten, waren wir so ziemlich die einzigen Punks in Amersfoort. Und als wir 1980 unsere erste Band THE SEXTONS gründeten, waren wir die einzige Punkband der Stadt. Also mussten wir unsere eigene Szene aus dem Nichts aufbauen. Aber das war es eigentlich, was Punk für uns bedeutete. Wir haben sehr früh gelernt, dass es nicht nur die Musik ist, sondern es sind auch die Ideen, die Einstellung, die Politik, und wenn man etwas erreichen will, dass etwas gemacht wird, muss man es selbst machen! Etwa zu der Zeit, als wir 1981 TOTAL CHAOZ gründeten, die Band noch vor LÄRM, gab es in Amersfoort eine kleine Punk-Szene. Wir haben damals den Tape-Sampler „Van U Wil Ik Zingen“ mit THE PUKE, THE ASPERITYS und TOTAL CHAOZ herausgebracht . Die Szene wurde noch größer, als wir mit LÄRM begannen. Das war auch die Zeit, als wir unseren eigenen Punk-Club Kippenhok besetzten, in dem wir Shows, politische Veranstaltungen und so weiter organisierten. Wir machten von dort aus auch das Kassettenlabel Er is hoop, das Definite Choice-Fanzine und auch ein Video-Fanzine. Aus all diese Aktivitäten entstand eine ziemlich stabile lokale Szene.

Wann kamt ihr zu Punk?
Ich und mein Bruder Olav haben uns seit 1977 für Punk interessiert. Etwa da begann auch die Mainstream-Musikpresse über Punk zu schreiben. Diese Artikel und die Fotos von Punkbands und Punk-Kids sahen für uns sehr interessant aus. Trotzdem hatten wir noch überhaupt keine Punkmusik gehört. Ein niederländischer Radiosender begann irgendwann, von seiner regelmäßigen „Hardrock“-Show eine Viertelstunde Punk zu widmen. Wir nahmen das auf und hörten es bis zum Abwinken! Als schließlich die ersten Punk-Platten von SEX PISTOLS, THE DAMNED, THE CLASH und RAMONES im örtlichen Plattenladen auftauchten, waren wir sofort dabei ... Verdammt noch mal ja, Punk hat unser Leben verändert!

SEEIN RED haben eine wirklich umfangreiche Bandhistorie. Dazu gehört etwa auch eure frühere Band LÄRM. Könnt ihr die Bedeutung beider Bands trennen, wenn euch jemand nach eurer Geschichte befragt?
Ohne LÄRM gäbe es SEEIN RED nicht, und das ist eine Tatsache. Rückblickend hatten LÄRM wahrscheinlich den größten Einfluss auf die Leute, glaube ich. Diese Band war wirklich ein Meilenstein in unserer Geschichte. Wobei LÄRM erst als „legendär“ bezeichnet wurden, nachdem wir uns aufgelöst hatten. SEEIN RED blickt mittlerweile auf eine dreißigjährige Geschichte zurück, deswegen ist uns diese Band wirklich lieb und teuer. Auf Gedeih und Verderb haben wir immer weitergemacht, weil uns ein festes Band miteinander verbindet und wir den Drang haben, unseren Krach mit einer Botschaft in die Welt hinauszutragen. Es ist ein perfektes Ventil für unsere Frustrationen und unseren Ärger in dieser kapitalistischen Welt. Das bedeutet uns wirklich sehr viel.

Die Texte waren bei SEEIN RED immer wichtig und haben definitiv einen Unterschied gemacht. Worum ging es in euren Songs, welche spezifischen Themen haben euch bewegt?
Der Inhalt unserer Texte war, auch schon bei LÄRM, meist sozialkritisch, rebellisch und/oder politisch. In meinen Augen sollte ein guter Punk-Song über eine Art soziales Bewusstsein verfügen. Viele meiner Texte handeln von gesellschaftlichen und politischen Kämpfen. Themen wie Rassismus, Sexismus, Unterdrückung, Lohnsklaverei, Faschismus, Klassenunterschiede, Polizeibrutalität, kurz gesagt, die alltäglichen Frustrationen mit dem kapitalistischen System, waren und sind mir wichtig.

Auf privater Ebene habe ich dich immer als sehr fürsorglichen Menschen wahrgenommen, zudem merkt man, dass du von bestimmten politischen Ansichten geleitet wirst. Was denkst du über den aktuellen Zustand unserer westlichen Gesellschaft?
Was kann ich dazu sagen? Im Moment leben wir in einer „Bleiben Sie zu Hause, bleiben Sie sicher, isolieren Sie sich selbst“-Gesellschaft ... Es ist fast unmöglich, den tatsächlichen Zustand der aktuellen Krise, die die Menschheit aufgrund der COVID-19-Pandemie heimsucht, zu bewerten. Nicht nur in unserer westlichen Gesellschaft, sondern weltweit. Angesichts einer solchen globalen Krise sollte man meinen, dass es eine Form der internationalen Zusammenarbeit geben würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wir sehen Länder, die sich gegenseitig bekämpfen, anstatt in diesen Krisenzeiten die dringend benötigte internationale Solidarität zu zeigen. Wir sehen nationale Regierungen, die sich einer Kriegsrhetorik bedienen und drakonische Notfallmaßnahmen ergreifen, um das Virus auf nationaler Ebene zu bekämpfen. Das zeigt ziemlich deutlich den Bankrott des Neoliberalismus. Ich meine, das Corona-Virus ist natürlichen Ursprungs, aber die Katastrophe, in der wir jetzt leben, ist vom Kapitalismus verursacht. Ich frage mich, wer wird nach dem Ende der Krise den Regierenden diesen Mist abkaufen? Ich nicht und ich habe es nie getan! Was sehen wir? Der Staat ist gezwungen, in die Wirtschaft und in unser Leben einzugreifen. Die verdammte Idee, dass der Markt für dieses Desaster die Lösung sein kann, ist verrückt. Vor allem wenn man sieht, dass die Produktion von Operations- und Gesichtsmasken, von medizinischem Material, von Scheißtoilettenpapier und eventuellen Impfstoffen zur Bekämpfung des Virus den Launen des Marktsystems unterworfen ist. Das führt zu Panikkäufen und Panikentscheidungen bei unseren Regierungen. Als Nächstes werden wir mit einer Wirtschafts- und Finanzkrise konfrontiert sein. Wir alle wissen, wer für diese Krise bezahlen wird! Die Arbeiterklasse und die Armen. Die Regierungen ermahnen uns, altruistisch zu sein und uns um andere zu kümmern ... Was wir tun müssen, ist echte menschliche Solidarität zu entwickeln! Der einzige wirkliche Weg, dies zu erreichen, ist die Entwicklung eines sozialistischen/anarchistischen Bewusstseins, das Bewusstsein, dass wir ein gemeinsames Interesse daran haben, den Kapitalismus loszuwerden, denn der Kapitalismus ist das wahre Virus. Das ist so ziemlich das Motto von SEEIN RED: Wir müssen dieses System abschaffen, denn dieses System ist scheiße!

Welche Relevanz hat Do It Yourself für dich?
Solange wir in Bands gespielt haben, war DIY sehr wichtig, weil es unsere tägliche Praxis war. Die Sachen von den THE SEXTONS, THE DISTURBERS und TOTAL CHAOZ haben damals wir mit Kassettenrekordern im Proberaum aufgenommen. Da waren keine Plattenfirmen, um sie zu veröffentlichen, also gründeten wir unser eigenes Tapelabel Er is hoop. Als wir die erste LÄRM-Platte, die Split-LP mit STANX, veröffentlichten, war das ein gemeinsames DIY-Projekt beider Bands. Seitdem waren alle unsere Veröffentlichungen DIY- oder DIT-Projekte, das heißt Do It Together. Alles, was wir unternahmen, wie unsere Kassetten- und Plattenlabels, das Definite Choice Zine und Video, das Kippenhok-Squat, Konzerte und Tourneen, geschah auf DIY-Basis.

Gibt es Pläne, in naher Zukunft neue Musik von SEEIN RED zu veröffentlichen? Ich sehe regelmäßig, wie du und dein Bruder sonntags zusammen proben, da ihr immer diese wunderbaren kurzen Hardcore-Punk-Rehearsal-Videos auf Facebook einstellt.
Eine Split-EP mit UNDER ATTACK ist in Arbeit, mit vier neuen SEEIN RED-Songs. Wir hatten Pläne für mehr neue Musik, aber das Corona-Virus hat auch dem ein Ende gemacht. Aber du hast recht, ich und Olav proben immer noch jedes zweite Wochenende und probieren neue Songideen aus. Vielleicht können wir nach der Corona-Krise eine 12“ aufnehmen.

Besetzte Häuser, Jugendzentren, Autonome Zentren – das europäische Festland war für viele gute Clubs und Squats bekannt, aber die Gentrifizierung hat eine Menge kaputtgemacht, so dass zahlreiche Läden schließen mussten. Wie beurteilst du den aktuellen Stand, da ihr ja in vielen dieser Clubs gespielt habt?
Dank der elenden niederländischen liberalen Partei VVD sind Hausbesetzungen per Gesetz verboten. Vor ein paar Jahren haben sie diesen Gesetzentwurf durch das Parlament gebracht. Seitdem wurden viele besetzte Häuser und Autonome Zentren geräumt. Wir haben auch einige Jugendzentren verloren, weil die Regierung im kulturellen Bereich Kürzungen vorgenommen hat. Das bedeutet nicht, dass die Leute keine Häuser mehr besetzen, aber die Lebensdauer dieser Squats ist oft sehr kurz, weil es dann viel einfacher ist, diese erkämpften Räume wieder zwangszuräumen. Außerdem hat die Gentrifizierung auch den Status des Netzwerks von Squats, Jugend- und Autonomen Zentren schwer geschädigt. Das ist ein großer Verlust für die alternative Untergrundszene. Wieder ist es das verdammte Kapital, das die letzten Bastionen der Underground-Musik und -Kunst zerstört. Deshalb sind alternatives Leben und Veränderung so wichtig ... Vierzig Jahre lang, seit der Gründung unserer ersten Punkband, waren das so ziemlich die einzigen Orte, wo wir spielen konnten. Wir sind dem Underground-Netzwerk sehr viel schuldig. Es ermöglichte uns viele großartige Touren, bei denen wir überall auf dem europäischen Festland in Squats und Punkclubs spielen konnten. Heutzutage ist es viel schwieriger, Konzerte auf die Beine zu stellen und zu spielen. Man muss Kompromisse eingehen und auch auf kommerziellere Locations ausweichen. Andererseits existieren es immer noch einige Squats und Autonome Zentren, wobei einige von denen über eine lange Geschichte verfügen, also ist es nicht alles nur Elend. Der Spirit lebt weiter.

Kannst du uns einen Einblick geben, was in Holland szenetechnisch so abgeht? Wo kann man gute Konzerte in guten Clubs sehen? Gibt es Bands, die es wert sind, dass man sich sie ein oder zwei Mal anhört?
In den letzten Jahren haben wir eine Menge großartiger neuer Bands gesehen, die in der Szene auftauchen. Da wären GEWOON FUCKING RAGGEN, PRESSURE PACT, TENSE REACTION, PARANOID STATE, OPEN WOUNDS, KAREL ANKER & DE JODEN, FORBIDDEN WIZARDS, THE BREED, T. GONDII, THE COSMOSIANS, DEAD LOYALTY, RAYLIN, STRANDED, SFD, BARE HANDS, BLAFFER, PAUPER, THE BURGHERS ... Wahrscheinlich habe ich einige gute neue Bands vergessen. Ältere Bands wie THE EX, RAT PATROL, DE KIFT, NEUROOT sind immer noch aktiv und spielen. Ich und mein Bruder spielen mit Chris Dodge als MARXBROS. Olav spielt auch in einem „Jazz-Punk“-Outfit namens BUGHOUSE. Diese Bands sind meiner Meinung nach alle einen Besuch wert. Vielleicht ist etwas für jeden Geschmack dabei. Orte, an denen Punk-Shows stattfinden, sind OCCII und Vrankrijk in Amsterdam, ACU in Utrecht, Stroomhuis in Eindhoven, De Onderbroek in Nijmegen, De Ondergrondse in Zwolle und einige andere. Im Internet findet ihr schnell die Infos und Homepages, die sich mit Punk-Shows in Holland befassen, wie zum Bespiel „Dutch Hardcore And Punk-related-Concerts“ bei Facebook. Google das mal, du wirst schon was finden!