Ich war ein Held. Ein Held in der Provinz. Mit meinen Nasenringen und den bunten Haaren – das hatte den Rest meines Heimatdorfs damals noch schockiert. Das „damals“ war vor knapp 25 Jahren. Meine Kumpels und ich wollten frei sein, rebellieren und so leben, wie wir wollten. Die Musik von DEAD KENNEDYS, SLIME, RAZZIA, DIE TOTEN HOSEN und Co. lieferten den Soundtrack zur kleinen Rebellion. Die Musik war der erste Ausdruck davon. Der Rest kam dann später dazu. Erst in der Kombination von Punkrock-Einstellung und Punkrock-Outfit hatte es meinen Eltern gereicht. Sie standen kurz vor dem Herzinfarkt; ich vor dem Rausschmiss. Perfekt! Das war Freiheit ... oder so etwas Ähnliches. Zu dieser Zeit hatte ich auch Tätowierungen für mich entdeckt. Nichts war rebellischer als ein Tattoo. Tätowierungen und die passende Musik, das gehörte für mich immer zusammen. Wie mir ging es vielen. Lutz Vegas von den V8WANKERS sagte im Interview etwa: „Tattoos und Rock’n’Roll bedeuteten einmal Rebellion und als das verstehen wir zumindest es noch immer.“ Für viele andere war es ähnlich. Dazu gehörte viel Mut. Auch wenn in den Achtziger Jahren Tattoos nicht unbedingt für immer sein mussten ...
Der Tattoo-Boom der letzten zehn Jahre war noch weit entfernt. Tattoos waren ein klares Bekenntnis – zu einer Einstellung, einem Lebensgefühl, zum Außenseiterdasein oder auch zum Dazugehörenwollen. Oft war es ein auf der Haut getragener Stinkefinger. Und gelegentlich zog es auch einen Schlussstrich. Für ein Tattoo hat es bei mir mit 13 dann doch nicht gereicht. Ich konnte mich – zum Glück – nicht für ein Motiv entscheiden. Außerdem: So viel Rebellentum war doch nicht da. So viel Farbe bekennen mir nicht möglich. Mein persönliches Heldentum brannte erst mal auf kleiner Flamme. Dennoch, die Faszination blieb über die Jahre bestehen. Auch für die Musik. Die Nasenringe nicht. Irgendwann hat der Mut dann gereicht – und ein Drache musste auf den Arm. Und ein Drache allein macht noch keinen Frühling. Aber seit ein paar Jahren falle ich, zugehackt wie ich mittlerweile bin, nur noch selten auf. Damit bin ich nicht alleine. Doch das ist eine andere Geschichte.
Back to the roots
Wie es angefangen hat mit dem Tätowieren, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. Wahrscheinlich sind Tätowierungen in der Geschichte der Menschheit wenig später als die Kunst entstanden. Beides waren wohl ganz frühe und tiefe Bedürfnisse. Es gibt Funde, die den Ursprung von Tätowierungen auf vor ca. 30 bis 40.000 Jahren datieren (Figurinen, Stichel, Farben). Wahrscheinlich gab es schon zu dieser Zeit eine Verbindung zur Musik. Noch heute wird in vielen Gesellschaften das Tätowieren von Musik begleitet. Einerseits lenkt es vom Schmerz ab, andererseits war Tätowieren immer auch eine Grenzerfahrung. Es sollte bereit machen für einen neuen Lebensabschnitt, Leistungen anzeigen, heilen, Ängste bannen, schöner oder einfach stärker machen. Verbunden mit vielen Ritualen, zu denen wohl oft Musik gehörte, sollte jedoch auch eine direkte Leitung zu den Göttern, Ahnen oder wem auch immer freigemacht werden. Es war kein Rock’n’Roll, aber es war stark.
Ein gutes Beispiel dafür, wie Musik und Tattoos möglicherweise zusammenwirkten, ist noch heute der Haka, der Kriegstanz der Maori Neuseelands. Die stark tätowierten Gesichter der Maori-Krieger sollten den Gegnern Angst einjagen. Sie schnitten Grimassen, durch die die Tätowierungen sich veränderten und noch eindrücklicher wirkten. Zusammen mit dem Gesang beziehungsweise dem kriegerischen Gebrüll war das für die Gegner schwer auszuhalten. Falls jemand die Gelegenheit bekommt, ein Spiel der neuseeländischen Rugby-Nationalmannschaft zu sehen, wird er schnell bemerken, wovon ich rede: Aggression pur.
In Europa waren Tätowierungen durch die Religion lange Zeit ins Aus gedrängt. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden durch die Entdecker und Seefahrer im Südpazifik oder der Arktis auch Tattoos wieder ins Spiel gebracht. Bald kam es zu einem regelrechten „Tattoo-Virus“. Erst waren es nur die Seeleute, die bei ihren Aufenthalten angesteckt wurden. Doch nach kurzer Zeit waren nicht nur die Seeleute tätowiert, es kamen viele Kriminelle, Prostituierte und Soldaten dazu. Doch für die damalige Zeit war das aus Sicht der meisten braven Bürger kein großer Unterschied. Bald schon begannen vor allem die Matrosen, eigene neue Tattoo-Traditionen zu erfinden. Diese Tattoos waren exotisch und hatten etwas ganz Wildes. Deshalb blieben sie bald nicht mehr nur auf die Außenseiter der Gesellschaft beschränkt. Damals ist das Gleiche passiert wie heute auch: das Bürgertum oder der Mainstream wollten auch mithalten. Die High Society, das Bürgertum und auch einige Adlige wollten dabei sein, sie ließen sich tätowieren. „Sissi“, Kaiserin Elisabeth, etwa hatte angeblich sogar drei Tattoos. Es waren aber wohl weder Arschgeweih, Sternchen, noch Blümchen, sondern eher Anker und Co.
Trotzdem verschlechterte sich der Ruf von Tattoos nach und nach immer mehr. Ende des 19. Jahrhunderts war nicht die beste Zeit für Tätowierte. Ein paar Jahre später schrieb der bekannte Wiener Architekt und Journalist Adolf Loos: „Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen 80% der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten. Wenn ein Tätowierter in Freiheit stirbt, so ist er eben einige Jahre, bevor er einen Mord verübt hat, gestorben.“ Klingt nicht nett. War auch nicht so gemeint.
Die tätowierten Schausteller dagegen hatten ihre Glanzzeit, ihre Auftritte lockten bis in die „goldenen Zwanziger“ hinein viele Leute an. Sie bestaunten und begafften die bunte Haut der Ausgestellten. Bei diesen Shows wurde wohl auch immer wieder Musik eingesetzt. Bei der Tätowierten Dame „Nandl, die fesche Tirolerin“ (auch „Miss Carmen“ oder „Miss Carma“, eigentlich jedoch Frau Koritzky genannt), spielte ihr Gatte immer auf der Zither, während sie sich langsam auszog und ihre Tätowierungen entblößte. Ist das noch Punkrock? Nein. Es war ein Job, ein bunter. Den Nazis und dem konservativem Bürgertum war das Ganze zu viel. Tattoos galten als kriminell, asozial und vor allem abscheulich. Mit den entsprechenden Konsequenzen. Erst die Hippies machten das besser ...
Back to the boots
Die Hippies entdeckten so ziemlich als erste die bunten Bilder wieder. Das ganze Getue von wegen „Love, Peace and Happiness“, (gemeint waren wohl vor allem LSD und lange Haare) brachte Tätowierungen in den Sechziger Jahren wieder auf den Plan. Häufig wurden das Peace-Symbol, „Love“, ein Marihuanablatt oder ähnliches tätowiert. Neben den langen Haaren war das die ultimative Provokation. Richtig gut provozieren ging allerdings erst seit Punkrock, Rock’n’Roll und dem „Skinhead way of life“.
Die Frisur war im Punkrock noch immer wichtig. Nicht nur bei den Helden aus dem Dorf. Klamotten, Ohr- und sonstige Ringe auch, aber vor allem Tattoos. Das war was. Und das war mehr als so eine Marihuanapflanze. Gerade ein selbstgestochenes Tattoo auf einer sichtbaren Stelle – das war ultimative Provokation. Und auch wieder ein Schlussstrich. Wer das hatte, war erst mal draußen aus der Gesellschaft. Damit stellte man sich bewusst auf eine Stufe mit Knackis etc. Wenn die Tattoos dann noch politisch waren, waren die Weichen gestellt. Das passte zur Anti-Haltung und zum „No Future“. Farbe bekennen eben. So geht das.
Bernie Luther, Tattoo-Legende, aus der Wiener Punk-Szene hat vor einigen Jahren in einem Interview über diese Zeit erzählt, wie er sich aus einem Kugelschreiber, dem Motor eines Kassettenrekorders und einem Löffel seine erste Tätowiermaschine gebaut hat. Punk war improvisiert und selbstgemacht. Punk war jedoch vor allem politisch und er war Opposition. Es gab viele politische Tätowierungen. Klassiker wie das Anarchie-Zeichen, schwarze oder rote Sterne, auch mal Hakenkreuze oder umgekehrte Kreuze gab es. Dazu kamen natürlich Parolen, Mottos, Bandnamen und irgendwelche Figuren wie Drachen, Teufel und Co. Dirk von SLIME etwa hatte ein Monster, das eine US-Fahne zerreißt, tätowiert. Tattoos waren aber vor allem als Tattoo selbst politisch. Als ultimativer Protest.
Die Rügener Trashrocker COR singen in „Farben“: „Doch etwas macht mich widerlich, ein Makel, der ins Auge sticht / Es kotzt euch an, ihr beginnt mich zu hassen / Weil meine Farben niemals verblassen“. Das Rebellentum hat immer zwei Seiten. Es ist ein selbstgewähltes Bekenntnis zu einer bestimmten Lebensart, zu einem bestimmten Lebensgefühl. Und vor allem schreibt es etwas ein. Es ist ein Bekenntnis auf der Haut – und eine Selbstversicherung. Aber es schafft auch Abstand zur Umwelt, wie es COR beschreiben. In den Achtzigern war die Wechselwirkung von Musik und Tätowierung deutlicher. Andreas, Tätowierer im Aachener Tattoo-Studio „The Sinner And The Saint“ und Musiker bei URBAN REJECTS dazu: „Ich bin auf Tattoos durch Musiker aufmerksam geworden. Besonders in den Achtziger Jahren waren tätowierte Musiker noch nicht so präsent, darum war ihre Wirkung auf einen Teenager wie mich umso größer.“ Die Musik hatte einen schlechten Einfluss auf die meisten. Blöd nur, dass Punk Mode wurde und viele Skinheads nach und nach im rechten Sumpf landeten. Blöd auch, dass tätowierte Musiker wie von GREEN DAY und Co. Punk so unglaublich austauschbar machten. MTV-Punk ist schick geworden. Er berieselt Zahnarztpraxen und Einkaufszentren. Und das erstickt jede Form der Rebellion. Die Einkaufsradio-Moderatoren und Zahnärzte sind die neuen Adligen. Schicke, modische Tattoos und kaugummitaugliche Musik sind das Karies der Rebellion.
Do It Yourself, Hard und andere -cores
Die Musik wurde durch Hardcore noch aggressiver, schneller. Die Fans wurden noch mehr zugehackt. Vinnie Stigma von AGNOSTIC FRONT etwa ist wie viele im Oldschool-Hardcore kräftig zugetackert. Hardcore hatte den Zahnärzten auf Dauer nicht genug entgegenzusetzen.
Mit Straight Edge kam in den Achtziger Jahren ein größerer Tattoo-Boom. Da sollte erst mal Schluss sein mit der destruktiven Haltung und dem Drogenkonsum, der so viel zerstört hatte. Bands wie MINOR THREAT aus Washington machten das bekannteste Straight Edge-Symbol, das schwarze „X“ bekannt. Ihr Sänger Ian MacKaye malte sich das häufig mit schwarzem Edding auf den Handrücken. Früher war das schwarze „X“ ein Kennzeichen, mit dem Türsteher in den USA Minderjährige kennzeichneten, wer das „X“ trug, an den durfte kein Alkohol ausgeschenkt werden. MINOR THREAT brachten ihren Slogan „Don’t drink, don’t smoke, don’t fuck! At least you can fucking think!“ in den Punk ein. Ohne ihnen Unrecht tun zu wollen: Skateboarden und „Do It Yourself” waren wohl nicht für alle Motivation genug. Farbe bekennen gelang schon immer am besten, wenn die Farbe dauerhaft sichtbar in die Haut eingeschrieben wird. Mit Metalcore wurde nichts besser. Nur die Tattoos wurden extremer. Und die tätowierten Stellen, wie Gesicht, Hals oder Hände, sichtbarer. Viele Metalcore-Musiker etwa sind nicht gerade wenig bebildert.
Das liegt auch daran, dass Tattoos erschwinglicher und von der Gesellschaft akzeptierter sind. Tattoos sind Mode und allgemein verbreitet. Wer noch provozieren will, muss mehr leisten, als nur ein, zwei kleinere Tattoos zu tragen. Schlau wäre allerdings, sich zu überlegen, was man tut. Oder wie TOXPACK in „Heute so, morgen so“ singen: „Die Tattoos kamen im Windeszug / Seh aus wie aus dem Bilderbuch / Opportunistisch, je nachdem, mach ich’s mir möglichst angenehm / Gute Miene, böses Spiel, den Mund aufmachen nicht mein Stil / Ein Imitat, mehr Schein als Sein, in jede Tür falle ich ein“. Sonst wird man irgendwann wie der Rockmusiker Sven von HAUDEGEN, dem von McDonald’s ein Burger gewidmet wurde. Der Burger wurde von Sven prompt auf dem eigenen Bauch verewigt. Alles begleitet von der Blöd-Zeitung ...
Ist das noch Punkrock? Nein. Ist es nicht. Wahrscheinlich sind die wahren Rebellen heute ohne jede Tätowierung. Oder wie Lutz Vegas von den V8 WANKERS im Interview sagte: „Heute definieren sich alle mehr über ihre Tattoos als über die eigentlichen Werte ihrer ausgewählten Subkultur. Alle Subkulturen sind zusammengeschmolzen und es gibt nur noch einen großen Gruppenzwang: Tattoos ...“ Vielleicht irrt sich Lutz. Es bleibt zu hoffen. Es wäre kein besonders schöner Ausblick.
Die Tattoo-Legende Herbert Hoffmann hat vor rund 20 Jahren einmal geschrieben: „Nichttätowierte vermögen sich nicht in unsere Empfindungen und unsere Mentalität hineinzudenken. Sie begreifen nicht, wie tief die Wurzeln der Tätowierung in uns hineinreichen; sie kennen nicht das Gefühl von besonderer Freiheit, von Unabhängigkeit und Lebensglück.“ Vielleicht bleibt doch das. Das und die Musik. Und ein Rest Farbe bekennendes Rebellentum. In unterschiedlichen Subkulturen – und mit rebellischer Musik.