Zwanzigjähriges Jubiläum feierte das Rebellion Festival im westenglischen Blackpool dieses Jahr – und ich war das erste Mal da. Die Bandauswahl fand ich schon immer reizvoll, allein die Aussicht auf vier Tage Open-Air-Festival im kalten englischen Regen schreckte mich alten Festivalmuffel ab. Open Air-Festival? Tja, letztes Jahr hatte ich endlich die Erkenntnis, dass das Rebellion ein Indoor-Festival ist – besser spät als nie. Also wurden flugs Ticket und Hotel gebucht.
Tag 1
Blackpool liegt nördlich von Liverpool und nordwestlich von Manchester direkt am Meer, etwas mehr als eine Stunde Zugfahrt von den Metropolen und ihren Flughäfen entfernt. Nun ist Blackpool nicht irgendein Örtchen am Meer, sondern ein ganz spezielles. Eine Art englischer „Ballermann“ am Sandstrand, ein trashiges, stürmisch-regnerisches Las Vegas im Kleinformat, Düsseldorfer Altstadt à la Anglaise, St. Pauli in der Familienversion. Eine Stadt fast nur für den einheimischen Tourismus, der dort auf eine Tradition zurückblickt, die bis in die 1780er Jahre zurückgeht. Richtig los ging es mit dem Tourismus in den 1840er Jahren, als, so heißt es, hier der moderne Massentourismus in Form organisierter Gruppenreisen erfunden wurde. Nicht mehr nur die Oberklasse zog es zur „Sommerfrische“ an den (bei Ebbe) langen und breiten Sandstrand, auch das einfache Volk fand Gefallen und konnte sich dieses preisgünstige (Kurz-)Urlaubsvergnügen leisten. Was heute rund um das Mittelmeer herum als klassischer Pauschaltourismus verbreitet ist, fand hier seinen Ausgang. Entsprechend ist die Infrastruktur: Drei Piers ragen ins Meer, voll mit Pubs, Karussells, Losbuden und Krimskramsständen, nicht zu vergessen eine Zigeuner-Wahrsagerin.
Eine historische Doppeldecker-Straßenbahn fährt die Küste rauf und runter, die Uferpromenade und die anliegenden Straßen sind voller Hotels, Spielhallen, Kneipen, Shopping-Malls, Bingo-Hallen, Imbissbuden und 1-Pfund-Läden.
Zehntausende Hotelbetten warten hier auf Besucher, das Level ist niedrig, aber nicht wirklich billig, an vielen Ecken und Enden ist Blackpool sogar ausgesprochen trashig, entsprechend der Ruf unter Engländern. Hier macht(e) Urlaub, wer sich mit den Kindern eigentlich keinen leisten kann, aber ein paar Tage was „Schönes“ erleben will: etwas Strand, Fish & Chips, Kirmes-Feeling das ganze Jahr über. Hier und da sieht man zwar, dass die Stadt sich bemüht, das Niveau zu heben, die in Beton gegossene Uferpromenade etwa ist bei schönem Wetter durchaus einen Spaziergang wert, doch alles in allem wirkt vieles eher ärmlich. Schöner wird es erst außerhalb, Richtung Norden. Wirklich günstig ist Blackpool aber sowieso nicht, die „Attractions“ wie die Eiffelturm-Kopie Blackpool Tower von 1894 oder der Freizeitpark Pleasure Beach sind kein billiges Vergnügen, und auch ein Pub-Besuch geht bei Preisen um die fünf Euro für ein großes Bier ganz schön ins Geld. Erwähnt man Briten gegenüber den Besuch in Blackpool, wird man bemitleidet. 67% haben hier für den Brexit gestimmt, wirklich schön ist es nicht, auch wenn ein gewisser rauher Charme von den teils noch erhaltenen historischen Bauten ausgeht. Mitten im Zentrum der Stadt, keine 200 Meter von der Strandpromenade entfernt, liegt der Winter Gardens-Komplex, ein riesiges Gebäude-Ensemble mit diversen Pubs und Cafés, Ausstellungsflächen, Konzertsälen und Veranstaltungsräumen, sogar einem Opernsaal. Die ersten Teile wurden 1878 errichtet, in den nächsten Jahren kam immer noch was dazu, und das Ganze steht unter Denkmalschutz, ist teils original, teils restauriert, teils etwas abgewohnt – schön, aber nicht schick. Ein beeindruckender Bau, den man in der Form in Deutschland wohl nirgendwo geboten bekommt – wären die einzelnen Veranstaltungsräume Läden, das Ganze könnte als Urmodell einer Mall durchgehen. Womit wir zu meinem eingangs beschriebenen Missverständnis kommen: Outdoor war hier nur eine Veranstaltungsfläche, die „Tower Arena“-Bühne auf dem Parkplatz gegenüber, der Rest fand schön überdacht statt. Wäre das Wetter nicht ausnahmsweise schön gewesen, hätte man den ganzen Tag über nichts vom britischen Nieselregen mitbekommen.
Diesen Komplex bevölkern während der vier Tage Rebellion Festival mehrere tausend Punks – sonst sind es auch mal die Delegierten der Labour Party, die hier traditionell ihren Parteitag abhält. Dass hier irgendwas mit Punk geht, ist im Stadtbild sowieso unübersehbar.
Am Donnerstag, dem Anreisetag, an dem ab Nachmittag die ersten Bands spielen, sitzen wir in einem Café auf dem Weg vom Bahnhof zum Winter Gardens, und die Besucher hier vorbeilaufen zu sehen, macht großen Spaß. Junge Punks und Punketten in voller Montur mit frisch gemachten Iros, die alt und „normal“ gewordenen Fans aus aller Welt (ich behaupte, kleine Gruppen deutscher Mittvierziger, die in ihrer unauffälligen schwarzen Kleidung schon wieder auffallen, sind nicht aus touristischen Gründen in der Stadt), Punk-Eltern mit Punk-Kindern, Punk-Veteranen-Paare Ende fünfzig, die mit gebeugtem Rücken durch die Fußgängerzone schleichen und ihre alten Docs und Lederjacken mal wieder ausführen, stilbewusste Skinheads mit auf Hochglanz polierten roten 10-Loch-Docs, Domestos-Jeans, Hemd, Poloshirt und Hosenträgern sowie Bomberjacke – sie alle strömen in die Stadt. An die viertausend werden es wohl gewesen sein, die sich auf die Hotels verteilten, vor, während und nach den Shows die Pubs und Restaurants belagerten und unbehelligt von Security und Polizei ihren Spaß hatten, die Fußgängerzone vor dem Winter Gardens-Haupteingang belagerten.
Blackpool hat sich längst mit den seltsamen Gästen arrangiert, die Stadt lebt vom Tourismus, jeder Besucher lässt reichlich Geld in der Stadt, egal wie er oder sie aussieht – und schlimmer als eine Horde Junggesellenabschied Feiernder benehmen sich alternde Punks selten. Von Rebellion ist beim Rebellion also kaum was zu spüren, es ist eher ein internationales Klassentreffen – eine Briefmarkensammler-Convention der etwas anderen Art. Die ersten unerwarteten Treffen gibt es schon in der endlosen Schlange am Wristband-Abholschalter. Benny von Klownhouse Booking tippt mir auf die Schulter, ein paar Meter weiter entdecke ich plötzlich Paul von DUMBELL, lange in Köln und Wuppertal wohnhaft, mittlerweile Bauunternehmer in Detroit. „Du hier?“ – „Ja, ich spiele hier mit GLITTER TRASH!“ Oder Erik Bauer aus Tübingen, einst Betreiber von Middle Class Pig Records, jetzt Barkeeper. Und so geht das weiter. Das heißt, los ging es schon früher, vor sechs am Düsseldorfer Flughafen. Uschi und ich treffen auf Ox-Schreiber Helge, der mit HASS-Sänger Tommi in einer Ecke döst, und kaum haben wir uns dazugesetzt, schlendert Vasco vom Plastic Bomb daher. Unsere kleine Reisegruppe hat sich gefunden, Klassenfahrtstimmung am frühen Morgen, in Manchester sind wird kurz nach sieben, in Blackpool um zehn.
Nach kurzem Frischmachen im Hotel erkunden wir erst mal die Umgebung und sitzen um zwei draußen in der strahlenden Sonne auf dem North Pier im Biergarten, musikalisch untermalt von einem extravaganten Ü60-Alleinunterhalter mit Hammond-Orgel. Da schmeckt sogar englisches Bier. Konzerttechnisch los geht es für uns um 16 Uhr an der „Almost Acoustic“-Bühne, einer von sieben – ausgelassen haben wir Banausen nur die Newcomer-Stage „Rebellion Introducing“. Pünktlich – sowieso fängt jedes Set hier pünktlichst an, und überzogen wird auch nicht – um vier tritt Ox-Schreiber Kent Nielsen (ex-L.U.L.L.) in bestuhlter Pub-Atmosphäre auf die Bühne, unterhält mit (Cover-)Songs, begleitet auf der Ukulele. Ein dankbares Publikum, hier wird immer geklatscht und gefeiert. Den Beginn des Auftritts von CJ Ramone auf der „Tower Street Arena“, der einzigen Außenbühne (auf dem Parkplatz der Shopping Mall gegenüber), vertrödeln wir dann beim Sondieren der Shopping-Situation. Dutzende britische Plattenläden und Merchhändler tummeln sich im hufeisenförmigen, glasüberdachten Gang rund um die Pavilion-Bühne, auch ein paar deutsche sind dabei, Coretex, Ragewear und Contra. Ja, hm, der Auftritt lässt mich kalt, CJ hat was von RAMONES-Coverband-Feeling. Begeisterung, und nicht zu knapp, kommt dafür bei FLAG auf, die echten BLACK FLAG, möchte man fast sagen, mit Keith Morris, Dez Cadena, Chuck Dukowski, Bill Stevenson und Stephen Egerton. Alle Hits, die ich hören wollte, werden gespielt, zum Schluss ein frickeliger Quäler, und Dez Cadena, dem Krebs von der Schippe gesprungen, darf mit rauher Stimme auch ein paar Songs singen. OFF! mögen gut sein, FLAG sind besser.
Ein Blick auf den Zeitplan verrät uns, wo wir als Nächstes hinmüssen. Sowieso ist der Zettel in der Hosentasche das typische Merkmal des Rebellion-Besuchers: Die einen haben den Plan von der Website ausgedruckt und mit Textmarker „ihre“ Bands markiert, andere vertrauen auf handschriftliche Notizen, und wieder andere haben sich optimierte Excel-Tabellen gebastelt. Und das offizielle Programmheft gibt es ja auch noch. Denn ja, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse auf sechs Bühnen kann stressen, man muss Prioritäten setzen, kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Was dazu führen kann, dass man sich mit fünf Menschen über den Rebellion-Besuch unterhalten kann, und jeder hat völlig andere Bands gesehen, ohne eine einzige Überschneidung. Ein Luxusproblem. Nach FLAG gingen wir auf Empfehlung zu SYSTEM OF HATE in den Pavilion: Düsterer Goth-Hardcore mit Synthie, irgendwo zwischen KILLING JOKE und AMEBIX, allerdings mit einem etwas zu röhrigen Sänger. Dennoch: hab ich mir gemerkt. Weiter zu DRONGOS FOR EUROPE, aber nicht beeindruckt gewesen. Und dann wieder in den Pavilion zu LOST CHERREES, alte Achtziger-Anarchopunks mit markantem, melodiösem Frauengesang. Im Grunde gut, aber die Vocals hatte ich von den alten Platten anders in Erinnerung, in echt war das rauher, derber und irgendwie leider nicht so gut. Dennoch ein schöner Exkurs in den Anarcho-Punk von vor dreißig Jahren. Noch kurz raus zu T.S.O.L., ein paar der launigen Ansagen von Jack Grisham gehört, aber hm, ja, so spannend finde ich die diesmal nicht. Außerdem tritt der von allen Bekannten beklagte Rebellion-Fluch erstmals auf: so viel Stehen, so weh die Füße ... Also rein, ein Sitzbier, und dann in den riesigen Empress Ballroom zu DESCENDENTS. Dank AAA-Bändchen stehen wir neben der Bühne, und es war ein Fest: die alten Klassiker, ein paar der starken neuen Songs – der ganze Saal, es müssen über 3.000 Menschen gewesen sein, tobt. Eigentlich stehen dann noch VARUKERS auf der Liste, aber wer um vier aufgestanden ist, darf jetzt auch ins Bett.
Tag 2
Heute steht der befürchtete Kontakt mit dem „Full English Breakfast“ an, und auch in vegetarischen, hoffentlich veganen Variante verliert das nichts von seinem Schrecken für den passionierten Vollkornbrotesser und Smoothietrinker ... Aber Fett und Kohlenhydrate, was braucht man mehr? Danach muss der Blackpool Tower dran glauben – rauf, runter, abgehakt.
Achterbahnfahren im Pleasure Beach-Vergnügungspark zwanzig Minuten die Promenade runter wäre jetzt schön gewesen, aber die Betreiber haben wohl das Konzept geändert. Angeblich zahlte man früher für jede der diversen Rides und Bahnen separat, jetzt gibt es nur noch ein Tagesticket für rund vierzig Euro – das ist mir der Spaß nicht wert. Also auf ein erstes Bier in den Pub (natürlich auch hier deutlich erkennbare Rebellion-Besucher), und dann geht’s für uns bei strahlendem Sonnenschein mit REAGAN YOUTH im Empress Ballroom los. Erstaunlich viel los um 15:30 Uhr, und sogar auf der riesigen Bühne geben die New Yorker eine gute Figur ab. Uns zieht es dann wieder raus in die Sonne, wobei die blöde Sau sich direkt über der Außenbühne platziert hat und im Laufe der nächsten Tage für einen ordentlichen Sonnenbrand im Gesicht sorgt – Schatten ist rar. SUBHUMANS (UK) sind angesagt, denen an den nächsten Tagen zur jeweils fast gleichen Zeit Dick Lucas’ andere beide Bands – CULTURE SHOCK, CITIZEN FISH – in chronologischer Reihenfolge folgen. Wie unglaublich gut SUBHUMANS sind! Dieser extrem bissige, politische Hardcore der Achtziger, gemischt mit Offbeats – eine Killer-Kombination, ein absoluter Höhepunkt für mich. Und Dick ist der Meister der auf den Punkt gebrachten, unpeinlichen politischen Ansage.
Rein in den Empress Ballroom zu GIUDA, die ich bislang immer verpasst hatte: italienischer Schick zwischen Oi! und Glam, ich finde sie unterhaltsam und sehr gut eingespielt, doch die Gattin mault irgendwas von BAY CITY ROLLERS und will weiter. Also wieder nach draußen zu VICE SQUAD, die – und das klingt böser, als es gemeint ist – gar nicht so scheiße sind. Nein, die sind sogar ziemlich gut, wenn auch Beki Bondage und Band so gewisse Rockstar-Rampensau-Momente zeigen, die ich nicht brauche. Aber sie freuen sich ehrlich über das große Publikum und dessen Begeisterung. Eigentlich wäre eine Bandpause um die Abendessenszeit herum eine gute Sache, so beweisen wir einmal mehr Mut zur Lücke, ziehen im Hotel – praktischerweise direkt in der Nebenstraße – für den kühlen Abend was Wärmeres an und tauchen pünktlich zu DISCHARGE im Außenbereich wieder auf. Ein Wort zur Getränkeversorgung: Löblich ist die Umsonstwasserkaraffe an allen Theken. Das Bier war mit knapp fünf Euro für ein Pint (ca. 0,5 l) noch akzeptabel, allerdings standardmäßig Fosters-Pisse. Flaschenbiere sind etwas teurer, werden aber auch in den Plastikbecher umgefüllt. Strongbow Cider war bislang nicht in meinem Beuteschema, was sich in diesen Tagen aber ändert – Preis wie Bier. Und Gin & Tonic bewegt sich auf dem gleichen Level. Die Wartezeit an den Theken ist – bis auf die im Außenbereich – akzeptabel, und die englische Schlangesteh-Disziplin ist auch hier hilfreich. Wobei man sagen muss, dass acht Stunden Konzertprogramm einen vorsichtigem Umgang mit Alkohol erfordern. Aber zu DISCHARGE: Die D-Beat-Erfinder und Crust-Ikonen sind ja schon auf ihrer Comeback-Platte nicht schlecht, doch erst live wird klar, was für eine absolute Macht sie darstellen. Ein brachiales Hardcore-Gewitter, extrem druckvoll, alle Hits sind dabei – well done. Die will ich noch mal in einem 300er-Club sehen. Wir ziehen noch vor Ende weiter in die Oper, um Peter Hook (ex-JOY DIVISION, ex-NEW ORDER) zu lauschen, finden auf der großen Bühne doch auch die Interviews statt, geführt unter anderem von John Robb (MEMBRANES, GOLDBLADE). Hook bezeichnet sich mehrfach als Punk, kotzt sich aus über seine Ex-Kollegen von NEW ORDER, von denen er sich ausgebootet fühlt und mit denen er gerade vor Gericht ist. Weiter zu PARANOID VISIONS, die in den Achtzigern sowas wie die irische Version von CRASS waren. An diesem Abend ohne Steve Ignorant als Gastsänger, am nächsten Tag mit. Ja, hm, viel erwartet, aber was wir da im Pavilion zu hören bekommen, war eher mau. Schade.
Aber kein Problem, zurück in die Oper und BRIX SMITH AND THE EXTRICATED geschaut. Brix ist die Ex von Mark E. Smith von THE FALL und legt eine durchaus spannende Performance hin. Hat was von Lydia Lunch und Band, aber auch von Kim Gordon – eine selbstbewusste Elder Stateswoman des Punk. Auch hier wäre ein Einzelgig im kleinen Club wünschenswert. Zurück in den Pavilion zu den WEIRDOS. Ja, die Kalifornier mit der Neutronenbombe. Sind die das? Ox-Fotograf Sponge – Kalifornier und alt genug, die Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger erlebt zu haben – behauptet glatt, das sei eine englische Band gleichen Namens gewesen, aber ... warum hätten die das Logo der Amis verwenden sollen? Ja, es ist enttäuschend – Rock, irgendwie, so was wie T.S.O.L. in schlecht. Wir verkrümeln uns nach zwanzig Minuten, denn eine Vorahnung sagt mir, dass es gut sein könnte, sich einen Sitzplatz in der Oper zu sichern ... Kein Fehler, denn was kommt, sorgt für einen der wenigen „Overcapacity“-Momente, wo Menschen nicht mehr in eine der Hallen reinkommen wegen übervoll. Zunächst bekommen wir noch den Schluss des Interviews mit Dick Manitoba von THE DICTATORS mit, deren Auftritt wir wegen Parallelität zu DISCHARGE verpasst haben. Smarter Typ, und dermaßen New York.
Und dann? Dann kommt das beste Konzert des Rebellion, eines der besten Konzerte meines Lebens: JOY DIVISION. Okay, nicht ganz, aber was PETER HOOK AND THE LIGHT da abziehen, ist so nah dran am Original, wie das eben geht. Hooky, wie er sich selbst nennt, hat es geschafft, seine Stimme an die von Ian Curtis anzunähern, seine Band hat JOY DIVISION bis ins Detail studiert, den Gitarrensound, das Schlagzeug, die feinen Synthie-Linien, und im Ergebnis hat man es mit der bestmöglichen Annäherung an das Original zu tun, das denkbar ist. Selbst die EDITORS kamen dem in ihrer besten Zeit nicht so nahe. Und das Ganze hatte kein Coverband-Feeling, es war keine Leichenfledderei, sondern ein Gänsehaut erzeugendes, extrem intensives Erlebnis. Wie oft habe ich diese Lieder gehört? Ich habe sie verinnerlicht, idealisiert, und plötzlich erwachen sie vor mir zum Leben, was ich niemals für möglich gehalten hätte. „At a later date“, „Warsaw, „No love lost, „Leaders of men“, „Failures“, „Digital“, „Glass“, „Disorder“, „She’s lost control, „Shadowplay“, „Ice age“, „Dead souls“, „The drawback“, „Ceremony“, „Transmission“ ... und dann „LWTUA“, wie es auf der Setlist heißt: „Love will tear us apart“. Uschis und mein, unser Song! Pathos wabert durch den Saal, keinen hält es mehr auf den Sitzen, alle singen den Refrain, haben Tränen der Rührung in den Augen, sind überwältigt, Peter Hook eingeschlossen, und dann ist es vorbei, das Publikum sackt erschöpft und ausgepowert zusammen. Selten habe ich ein emotionaleres Konzert erlebt, wir sind beide voll auf Adrenalin ob des Erlebten. Dass wir das noch mal erleben durften! JOY DIVSION 1979 kann nicht mitreißender gewesen sein. Danke, Peter Hook.
Tag 3
Am Samstag beschließen wir, uns schon tagsüber die Füße wundzulaufen. Ab Richtung Norden ans Meer, eine halbe Stunde bis zur Straßenbahn-Endhaltestelle. Englische Provinzidylle, Sonnenbrandwetter. Auf dem Rückweg Einkehr im North Pier, wieder Alleinunterhalter, tanzende Rentnerpärchen, dazwischen Punks , teils kurz vor der Rente. Skurril und wundervoll. Weniger wundervoll ist die vegane Verpflegungssituation. Vegetarisch können die Briten, schon seit ewigen Zeiten und auch in der Provinz, doch vegan? „Neuland“. V auf der Speisekarte heißt anders als anderswo vegetarisch, vegan wird oft nicht verstanden, und in britischen Supermärkten ist der Vegan-Boom aus Deutschland noch nicht angekommen. Erstaunlich und enttäuschend. Immerhin, wir müssen nicht verhungern.
Unser Konzertprogramm fängt im Pavilion mit B BANG CIDER an, Vom und seine Damen ... Kraftvoller (Fast-)All-Girl-Punk à la HOLE und L7. Vor dem nächsten Konzert gönnen wir uns etwas Kunst, denn zum Standard-Rebellion-Programm gehört auch eine Kunst(verkaufs)ausstellung in einem der Nebenräume.
Gössi von den Schweizer MÖPED LADS stellt seine Plakate aus, Dick Lucas und Charlie Harper ihre Gemälde, und noch einige andere Musiker und „normale“ Menschen. Teils gut, teils aber auch kitschiger Schrott auf Volkshochschulniveau. Und Tiffany-Technik auf Bandlogos und Wandbilder anzuwenden ist ... interessant. Das Gute ist schnell verkauft, der Schrott hängt auch am Schluss noch, immerhin. Und ja, Katzenbilder sind auch dabei. Wir ziehen weiter zu CHANNEL 3 im Empress. Es ist kurz vor fünf, der Saal schon ordentlich voll, und laut Ansage von der Bühne soll irgendwie im Publikum sogar der legendäre Robbie Fields von Posh Boy Records sein, dem einstigen CH3-Label. „Mannequin“, „You make me feel cheap“, „Manzanar“, „I got a gun“ – schnelle Lieferung, immer wieder gern.
Jetzt aber raus zu CULTURE SHOCK, Dick Lucas’ Band nach den SUBHUMANS. Ska-lastiger als letztere, der gleiche ratternde Nähmaschinensound mit dem Stakkato-Gesang, brillante, treffenden Ansagen – ein Highlight! Die Skatepunk-Helden JFA folgen, wir sind aber nicht angetan – schnell vergessen. Der Hunger nagt, also Bedürfnisbefriedigung, um passend um acht zu OLD FIRM CASUALS im Empress zu sein. Der Saal tobt, es ist pickepackevoll, und wir ... suchen einen Sitzplatz. Füße weh, Bauch voll ... ein Tiefpunkt. Wir schleppen uns pünktlich zum Konzertbeginn von NEWTOWN NEUROTICS in die Arena, um eine ewige Lieblingsband zu sehen. In den Neunzigern sah ich sie das erste und einzige Mal in Dortmund, seitdem ... keine Chance. Und dann das ... ein Abgrund von Sound. Alles zu laut, das Schlagzeug übersteuert, der Gesang – ein Horror. Ich tue, was ich nie tue: ich gehe zum Mischer, mache seltsame Gesten um meine Ohren herum, doch der grauhaarige Endfünfziger zuckt nur die Schultern. Es ist ein Desaster! Das geht gar nicht! Was für eine Enttäuschung! Irgendwann ist es vorbei, und das dumme Arschloch von hinterm Mischpult macht was? Er bedankt sich beim richtigen Mischer, und geht! Es war auch noch ein Freund der Band, der alles zerstört hat. Fuck you, you dumb old fucker!
Trost suchen wir nun im Opernhaus – sitzen, das klingt gut. SPIZZ ENERGI werden die Frage stellen, wo Captain Kirk ist, und irgendwie ist das unterhaltsam, aber irgendwie auch nicht so richtig gut. Nach Hooky gestern muss eine Legende auch mal enttäuschen dürfen. Wir ruhen uns in der Kneipe mit einem Bier aus, ziehen weiter in den Empress Ballroom, wo um 22:50 Uhr COCK SPARRER eine Headliner-Show hinlegen sollen. Es ist brechend voll und von Anfang an tobt der Saal. 44 Jahre gibt es die Band schon, bis auf Bassist Daryl sind alle über sechzig und geben dennoch Vollgas. Alle Hits müssen gespielt werden, die Band wird gefeiert, lässt mich aber mit dem Gefühl zurück, dass sie an jenen mystischen Abend Mitte der Neunziger, als ich sie im Berliner KOB (?) vor 200 Leuten sah, für mich so gut waren wie nie wieder. Manche Bands erreichen ein einmal erreichtes Ideal eben nie mehr, was auch einfach am Zuschauer/hörer liegen kann. Nach Mitternacht geht es noch zwei Stunden weiter mit Bands, wir geben auf.
Tag 4
Am nächsten Tage endlich mal früh an den Strand, denn der ist in seiner ganzen Breite nur bei Ebbe zu erleben. Und heute soll es voll werden, denn zufällig findet am Sonntag und Montag seit Jahren parallel zum Rebellion eine Flugshow entlang der Küste statt, zehntausende Besucher strömen in die Stadt, bevölkern über Kilometer die Uferpromenade. Wegen des strahlenden Sommerwetters sind es wohl besonders viele. Passend zu unserem frühnachmittäglichen Bier am Pier geht es los, leise zunächst, etwa mit zwei Doppeldeckern mit einem Mann auf der Tragfläche, ziemlich oldschool. Der Spaß hört auf, als, PANTERA lassen grüßen, ein „vulgar display of power“ beginnt, eine abstoßende Machtdarstellung der RAF, der Royal Air Force.
Mit einem Eurofighter, dem Stolz auch der Bundeswehr, werden Tiefflugmanöver ein paar hundert Meter vor den
Menschen durchgeführt, Kerosingestank liegt in der Luft, mit Nachbrenner und infernalischem Lärm geht es senkrecht in den Himmel. Hallo, Steuerzahler, dein Geld bei der Arbeit. Die Frage, wie diese Kampfjetgeräusche auf Menschen in (und aus!) Aleppo wirken, die seit Jahren einem Bombenterror ausgesetzt sind, stelle wohl nur ich mir. Und hey, das da über dem Meer, das ist ja ein Guter ...
Um kurz vor vier legen auf der Außenbühne GOLDBLADE los, John Robbs Band. Der Mann ist als Journalist leise und überlegt, als Frontmann aber ein sympathisches Großmaul, eine Rampensau. Ein guter Einstand, auf den der letzte Teil der Dick Lucas-Trilogie folgt: CITIZEN FISH, bis neulich zum CULTURE SHOCK-Album die aktuelle, aktive Band von Dick. Im Vergleich mit denen und SUBHUMANS finden wir CITIZEN FISH schwächer, aber sie sind immer noch eine Macht. Und ... gute Ansagen. Wir gehen noch vor Ende der Show, um im Empress ein Fitzelchen von THE DEFECTS zu erwischen, der neben THE OUTCASTS, UNDERTONES und STIFF LITTLE FINGERS wichtigen nordirischen Punkband aus grauer Vorzeit. Solide, aber kein Vergleich zum Hitfeuerwerk von THE OUTCASTS direkt danach. Frontmann Greg Cowan erweist sich als sehr unterhaltsames Großmaul, jeder bekommt sein Fett weg in den Ansagen – sofern man den Dialekt denn versteht. Ab in die Kneipe zur Almost Acoustic-Bühne, von der aus Dave Dictor und MDC-Bassist Mike Smith fast akustisch ihre Hits vortragen. „Chicken squawk“ ohne Strom? Das geht, weil die Lieder so geschrieben wurden. Dazwischen viel unterhaltsames Geplauder.
Nun steht draußen der nächste Höhepunkt an: DAG NASTY! Mit Shawn Brown! Endlich! Im Interview war sich Brian Baker noch unklar, wie das Live-Programm aussehen würde, und das Rätsel wird gelöst, indem einfach (gefühlt) alles bis exklusive „Field Day“ gespielt wird, das heißt: „Under your influence“ von THE RUTS ist auch dabei. Alle Klassiker in musikalisch perfekter Umsetzung, und dass Shawn eine etwas andere Stimme hat als seine Nachfolger Cortner und Smalley, wird ausgeglichen, indem seine Vocals etwas in den Hintergrund gemischt werden. Klasse Stageacting hat der Typ drauf, was für ein Frontmann – und oft kommt der Gesang sowieso von vor der Bühne, ein hundertfaches „Under your influence!“ Ja, wundervoll und nahezu perfekt – dass wir das noch erleben dürfen. Sogar der Nieselregen hat sich zurückgehalten, uff. Eine Umbaupause später laufen dann Jello Biafra und seine THE GUANTANAMO SCHOOL OF MEDICINE zu Höchstform auf – und er ist auch der Einzige, der es sich nicht nehmen lässt zu überziehen. Mittlerweile hat man ihn und Band schon oft gesehen, der Überraschungsfaktor bleibt aus, aber die Ansagen sind das Salz in der Suppe. Und so liest er mal eben den Briten die Leviten in Sachen Brexit. Überschäumende Stimmung natürlich vor allem bei den DEAD KENNEDYS-Songs. Und was machen wir jetzt, um halb elf? Gehen ins Hotelzimmer und hören noch etwas STIFF LITTLE FINGERS durchs geöffnete Fenster.
Am Montagmorgen frühe Abreise, man hatte uns gewarnt, dass die zwei Handvoll Züge Richtung Manchester am Vormittag sehr voll sein würden, mit langer Schlange am Bahnhof. Draußen ist englisches Wetter: Sturmböen und kalter Regen. Die Schlange windet sich durch die Bahnhofshalle, alles Punks, was für ein Anblick, eine erschöpfte Armee auf dem Rückzug.Wir verbringen noch einen halben Tag in Manchester, dann geht es zurück nach Düsseldorf und Solingen. Bis nächstes Jahr, Blackpool!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #128 Oktober/November 2016 und Joachim Hiller