Der graphische Aspekt war schon immer ein wichtiges Element von Punk, und mit dem Cover-Artwork des SEX PISTOLS-Albums „Never Mind The Bollocks“ wurde seinerzeit auch ein Designklassiker geschaffen, dessen Elemente in verschiedenster Form bis heute für Punk stilprägend sind. Neben Plattencovern, Fanzines und Konzertpostern waren dabei von Anfang an auch kopierte oder gedruckte Handzettel, meist im Postkartenformat, als Medium zur Information über anstehende Konzerte ein wichtiger Bestandteil dieser Subkultur - und sind es bis heute geblieben. Dabei übersieht man immer wieder, dass diese typischerweise auf Konzerten verteilten Flyer manchmal viel zu schade dafür sind, nach einem kurzen Blick weggeworfen oder achtlos in eine Tasche geknüllt zu werden, denn auch wenn viele Punks das nicht gerne hören: oft ist da auch richtig Kunst dabei. Und deshalb interviewten wir David Ensminger aus Houston, Texas, der nicht nur das „Left Of The Dial“-Fanzine herausgibt, sondern vor allem Flyer sammelt und sie ausstellt, unter anderem auch auf www.punkflyers.com. Und auf Tour kommt der Herr auch – in den nächsten Wochen wird er mit einer Wanderausstellung seiner Flyer in Europa unterwegs sein.
Stell dich bitte erst mal vor.
„Mein Name ist David Ensminger, ich verlege und veröffentliche das ‚Left Of The Dial‘-Magazin hier in Houston, Texas. Ich spiele Schlagzeug für Biscuit von den BIG BOYS in einem Projekt namens BISCUIT‘S TEXAS BOMBS – wir haben im Mai letzten Jahres in England getourt – und unterrichte darüber hinaus an einer Highschool Englisch für Kinder, die meistens aus Einwanderer- oder Arbeiter-Familien kommen. Interessanterweise fand ich übrigens gerade gestern über meinen Vater heraus, dass unsere deutschen Vorfahren dabei geholfen haben, Nord-Ohio in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts zu besiedeln. Viele Leute erzählen mir, dass Ensminger ein recht häufig vorkommender Name in Bayern ist, vielleicht haben ja ein paar Leute Lust, mit mir zusammen meine Familien-Geschichte zu durchleuchten, wenn ich bald die ‚Punk Poster Show‘ nach Deutschland bringe!“
Wie, wann und warum hast du angefangen, Flyer zu sammeln?
„Nun, ich hatte das Glück, dass mein Bruder zehn Jahre älter ist als ich und auf das Kunstinstitut in Chicago ging, wo er BLACK FLAG während ihrer ersten Tour und die CRAMPS sah. Wenn er uns dann zu Hause besuchen kam, waren seine Arme voller Platten von SIOUXSIE & THE BANSHEES, PIL oder den COCKNEY REJECTS. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich bereits mit elf, zwölf Jahren mit ihm abhing, und wir uns zusammen seine CLASH-Tapes anhörten, uns unsere T-Shirts selbst bepinselten und derbe Bilder malten, alles in seinem damaligen Apartment in einer ziemlich schlechten Gegend. Zu Weihnachten bekam ich von ihm immer Ausgaben vom Flipside, Maximum Rock‘n‘Roll und einem großartigen Magazin aus Chicago, das Last Rites hieß. Das alles hat dazu geführt, dass ich die weite Welt des Punkrock und der Kunst für mich entdeckte. Schnell hatte ich ein Abo, fing an, mir tonnenweise LPs von RAMONES und CLASH zu kaufen und versuchte Songs von IGGY AND THE STOOGES auf meinem ‚1971 Ludwig Drumset‘ nachzuspielen ... 1985 sah ich dann BLACK FLAG in einem Club in Rockford, Illinois mit einem riesigen Haufen Bullen davor. Auf diesem Konzert schädigte ich mein linkes Ohr dauerhaft, wenn auch nur ein bisschen, als ich neben einer Wand von Lautsprechern stand. Das war auch der Abend, an dem ich begann, Platten und Zines zu tauschen und sammeln. Während meiner Highschool-Zeit habe ich dann geholfen, Konzerte zu organisieren, für Bands wie SNFU, DAG NASTY, NOFX, SOULSIDE, YOUTH OF TODAY, VERBAL ASSAULT, und fing schließlich damit an, Flyer herzustellen. Die allerersten Flyer schnipselte ich für die reformierten ADOLESCENTS und YOUTH OF TODAY zusammen. Mittlerweile habe ich über 3000, in allen möglichen Arten und Größen. Ich hab es schon immer geliebt, wie hausgemacht und primitiv sie aussehen. Sie wirken auf mich sehr menschlich, sehr ‚down to earth‘, nicht so wie die glattgebügelten Anzeigen von Bands, die mich eh nur ausnehmen wollen.“
Punk hatte schon immer eine merkwürdige Beziehung zu der Welt der Kunst, stand ihr einerseits sehr ablehnend gegenüber, war andererseits aber oftmals mit ihr stark verbunden. Wie siehst du diese Beziehung?
„Ich denke, Punkrock ohne jegliche Komponenten aus dem Bereich Kunst ist schwer vorstellbar, gerade wenn man berücksichtigt, dass selbst THE WHO Jungs aus der Kunstschule waren. BUZZCOCKS, CLASH, TELEVISION, Patti Smith, Richard Hell – alles ‚art kids‘. Punk hat vielmehr dem Minimalismus und Foto-Realismus der 70er den Rücken zugekehrt, aber auf der anderen Seite ganz sicher dem Situationismus und der Performance die Hand gereicht. Die gesamte Idee der SEX PISTOLS beruht auf einer einzigen, großen, situationistischen ‚Veranstaltung‘, und Jamie Reid und Malcolm McLaren waren sich der Situationismus-Bewegung und des Fluxus durchaus bewusst, von Pop-Art und ‚Beatnik‘-Literatur ganz zu schweigen. Sie haben einfach situationistische Slogans gestohlen und neu erfunden, hatten sogar einen Klamottenladen. Betrachtet man die USA, so war es vor allem die Szene in San Francisco, die größtenteils von den Angeboten und Aktionen der ansässigen Kunst-Universitäten geprägt wurde, z.B. das ‚California Institute Of The Arts‘ muss man da erwähnen. Video-Kunst war damals sehr angesagt, und das färbte unzweifelhaft stark auf Gruppen wie z.B. Target Video ab, die damals so ziemlich alle relevanten Bands auf Tape einfingen, von den AVENGERS bis zu den BAD BRAINS. Und ist es nicht auch heute noch der Traum eines jeden jungen Designers, an dem neuen Video bzw. Album-Artwork von HOT WATER MUSIC oder den HIVES arbeiten zu dürfen? Punk mag ja diese anti-elitäre und anti-intellektuelle Mentalität haben, aber es benötigt immer noch Kunst, um diese Message zu befördern.“
Wo liegen die Unterschiede im Sammeln von Flyern, Postern und Platten? Was macht das Sammeln von Flyern zu etwas Außergewöhnlichem?
„Album-Cover wurden meistens von Designern, die von zu Hause aus arbeiten, für die Plattenfirmen hergestellt – professionelle, gut bezahlte Leute, die Arbeiten erledigten, für die man hochqualifiziert und gut ausgebildet sein musste, wohingegen Punk-Flyer autodidaktisch hergestellt wurden, von unausgebildeten, hastig arbeitenden, anonymen Künstlern, denen es darum ging, ihre Message auf eine subversive Art und Weise zu verbreiten. Oft waren die Flyer illegal, wurden mit starkem Stirnrunzeln bedacht oder einfach weggeschmissen. Somit wurden sie oft von vielen Leuten übersehen, obwohl sie für die Massenkommunikation gedacht und leicht zu reproduzieren waren, und sich oft wie wildes Feuer ausbreiteten, weil es einfach eine unüberschaubare Menge von ihnen gab und sie bei den meisten Menschen lediglich den Ruf der ‚Konzert-Überbleibsel‘ hatten. Damit geht einher, dass die Flyer vor den nächsten Konzerten erneuert bzw. weggeschmissen wurden, so dass ihre Lebenserwartung nicht besonders hoch war. Ich mag ihre Ungeschliffenheit, und dass sie jeder jederzeit herstellen und duplizieren kann, und dass sie frei kopiert werden, ohne Angst vor Klagen und Rücksicht auf Urheberrechte. Das ist doch eine sehr demokratische, vielleicht schon anarchistische Sache, oder?“
Vor ein paar Jahren erschien das großartige Buch „Fucked Up And Photocopied“. Was denkst du darüber?
„Ich bin froh, dass du fragst, ich bin nämlich ziemlich gespalten in meiner Meinung über das Buch - ich bin ein großer wie auch enttäuschter Fan. Ich denke, dass die riesige Ausstellung an Flyern sehr faszinierend ist. Trotzdem frage ich mich, warum das Buch so gedruckt wurde, als ob es sich um einen schicken Helmut Newton-Katalog handeln würde. Das steht in keinem Zusammenhang zu der eigentlichen Absicht, die hinter den abgebildeten Flyern steht. Auf mich wirkt das eher so: ‚Seht euch diese Wegwerf-Kunst an, und wie wir sie euch Museums-mäßig vorführen, durch einen Druck-Prozess, der mehrere zehntausend Dollar gekostet hat‘. Außerdem ist das ‚Essay‘ im Inneren des Buches, oder wie auch immer du es nennen willst, zwar aus sehr persönlicher Sicht geschrieben, aber schlicht und ergreifend recht blöd, und vor allem mangelt es an Tiefe und Zusammenhang. Aus diesem Grund habe ich selbst ein 17-seitiges Essay verfasst, in dem ich versuche zu zeigen, wo es Verknüpfungen und Verbindungen zu bzw. zwischen anderen künstlerischen Bewegungen gibt, um eine umfassendere Darstellung zu vermitteln und sichtbar zu machen, was die Vielfalt und Tiefgründigkeit der Punkrock-Flyer-Kunst betrifft.“
Wie sieht es mit Unterschieden zwischen Punkflyern und denen der anderen Subkulturen z.B. Metal, Deadheads, oder Techno, aus? Und was macht die Flyer aus der Punkszene dabei zu etwas Besonderem?
„Klar gibt es da Unterschiede, aber in einigen Ländern sind die Grenzen sehr fließend. Welly vom Artcore Fanzine aus Wales erzählte mir, dass Punkflyer dort fast ganz von der Bildfläche verschwunden sind, zumindest in ihrer ursprünglichen Form – und das auf der Insel der Punkrock-Dinosaurier. Heutzutage benutzen die Kids andere Medien, besonders das Internet oder sie drucken selbstgemachte Handzettel und Karten, die sie mit Adobe Illustrator basteln. Metal- und Raveflyer haben definitiv einen anderen Stil und bedienen sich ganz anderer Kunstströmungen. Wo Punk seine Ursprünge im Dadaismus und in der D.I.Y.-Einstellung der Beatniks hat, so bedient sich der Metal tendenziell eher bei Fantasy-Geschichten, Techno beim Cyber-Punk und Futurismus, und die Deadheads sind beeinflusst von Art-Deco-Postern aus dem 19. Jahrhundert und Haight Ashbury-Plakaten aus der Blütezeit von Hendrix und Janis Joplin. Was die Punkflyer zu etwas Besonderem macht? Das Ungehobelte, der unbewusste Wink in Richtung Geschichte, die Unvollkommenheit, die es zu einer sehr gehaltvollen und einzigartigen Sache macht, die reißerische Underground-Sexualität, die Begeisterung für die Bilder in Horrorfilmen, die Essenz des Post-Modernismus, in dem alle Dinge neu zusammengesetzt werden, um unterschiedliche Meinungen zu provozieren. Die Liste geht endlos weiter.“
Inwiefern hat sich die Flyerkunst über die Jahre verändert? Schließlich macht heute kaum noch jemand kopierte, zusammengeschnipselte Schwarz-Weiß-Flyer, sondern die Leute setzen sich zum Layouten einfach an den Computer und drucken in Farbe. Wenn überhaupt, und wenn man sich nicht völlig auf das Internet und E-Mail-Newsletter verlässt ...
„Da hast absolut Recht, ich denke, ich habe dieses Dilemma bereits vorhin angedeutet. Erst kürzlich, als ich mal wieder auf ‚Cut and paste‘-Methoden zurückgriff, oder meine Flyer einfach mit der Hand zeichnete, haben die Leute sie fast schon etwas angewidert und mit Missbilligung angesehen, so als würde ich versuchen, die reibungslose Arbeit der lokalen Maschinerie zu ruinieren. Flyerkunst läuft mittlerweile mechanisiert, kastriert und zahnlos ab. Sie ist zu einer Spielwiese von zukünftigen Möchtegerngeschäftsführern der Werbebranche geworden und hat ihren Biss und ihre Lebhaftigkeit verloren. Allerdings ist dies bei Punkmusik ja auch so, oder? Einen schwarz-weiß kopierten Flyer mit nichts außer Schere, Klebe und Tesafilm herzustellen, lässt einen vielleicht als retro-futuristischen Dadaisten dastehen, aber das ist mir immer noch lieber, als ein gesichtsloser Bestandteil der Maschinerie zu sein.“
Du bist weder der erste, noch der einzige Sammler dieser Form der „Kunst“. Welche anderen Sammlungen kannst du empfehlen?
„Es gibt viele Seiten im Internet, die sich mit Konzertflyern beschäftigen, aber leider vermisse ich bei denen oft eine gewisse Kompetenz. Trotzdem sind sie aktuell und voll mit Flyern und Postern. Ich empfehle ‚Fucked-Up And Photocopied‘ und euren lokalen, verbeulten, kaputten, hässlichen Second-Hand-Plattenladen, der sicherlich einige großartige alte Flyer an den Wänden rumhängen hat. Remi von Modern City Records hat eine der fantastischsten Sammlungen Frankreichs aus den 90ern. Oder alte Ausgaben von Maximum Rock‘n‘Roll und Trust auftreiben, da wirst du die interessantesten Abbildungen finden.“
Tauscht, kaufst, oder verkaufst du Flyer? Wie eignest du dir neue Exemplare für deine Sammlung an?
„Ich frage regelmäßig Leute, ob sie Flyer für das ‚Archiv‘ spenden möchten. Mir schwebt vor, die umfassendste Sammlung dieser Art auf der Welt zu haben und sie schließlich für jeden frei zugänglich im Internet auf eine permanenten Homepage zu veröffentlichen. Damit werde ich diesen Sommer beginnen. Außerdem zeige ich meine Sammlung auf der ganzen Welt, was mir die Chance gibt, eine Menge Menschen kennen zu lernen, zu tauschen und manchmal sogar Exemplare zu kaufen. Ich habe mir z.B. eine Sammlung aus Texas anschaffen können, und zur relativ gleichen Zeit hat mir Biscuit von den BIG BOYS hunderte von Flyern überlassen. Auch Brian Walsby, der übrigens das Cover der 7 SECONDS-LP ‚Walk Together, Rock Together‘ gemacht hat, schickt mir auch was zu, und erst vor kurzem hat mir ein großzügiger und engagierter Freund aus Deutschland eine ganze Ladung von Flyern und Postern, die bis in das Jahr 1980 zurückgehen, zukommen lassen. Genauso ging es mir mit Kram aus Japan und Finnland. Kontaktiert mich einfach, ich flehe euch auch an, wenn es sein muss! Über diese Adresse können Leute mit mir in Kontakt treten: leftofthedialmag@hotmail.com. Lasst mich eure Stadt besuchen, eure Szene dokumentieren und euch die gesamte, geheime Geschichte des Punk zeigen!“
Wann und wo können wir dich mit deiner Ausstellung in Europa und Deutschland sehen?
„Ich werde auf jeden Fall im Juni diesen Jahres in euren Breiten unterwegs sein, also haltet die Augen auf!“
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #55 Juni/Juli/August 2004 und Joachim Hiller