In Ox Nr. 144 berichtete Nader von der New Yorker Band HARAM über seine Einstellung gegenüber Punk und Religion aus der Sicht eines westlich geprägten aber muslimisch erzogenen und jetzt säkular lebenden Kultur-Moslems. Um das Spektrum geografisch und inhaltlich zu erweitern, habe ich mich auf die Suche nach einer Person gemacht, die in muslimischen Mehrheitsgesellschaften lebt, dem Glauben nicht abgeneigt ist und trotzdem aktiv in der Punk-Szene unterwegs ist. Fündig geworden bin ich dank eines Tipps von Oliver von CLUSTER BOMB UNIT. Hera Mary kommt aus Indonesien, spielt beziehungsweise spielte in unterschiedlichen Punk- und Hardcore-Bands, organisiert Shows und arbeitet an Filmprojekten zu Frauen in der indonesischen Punk-Szene. Sie sieht sich selbst als muslimische Feministin.
Hera, würdest du dich als religiös bezeichnen? Wenn ja, was bedeutet dir Religion und welche Rolle spielt sie für dich im Alltag?
Ich wurde in einer muslimischen Familie geboren. Als Kind bin ich immer auf öffentliche Schulen gegangen, bei denen die Mehrheit der Schüler*innen muslimisch war. Meine Mutter ist eine gläubige Muslimin, die fünfmal am Tag betet. Zu Hause mussten wir auch alle islamischen Lehren und Regeln befolgen, darunter das Gebet. Der Islam hat mich einige gute Dinge gelehrt, wie Geduld und Durchhaltevermögen unter den härtesten Lebensbedingungen. Das hat mir schon öfter geholfen. Aber ich bin heute kein sehr religiöser Mensch. Mit der Zeit begann ich beispielsweise seltener zu beten. Ich tue es aber dennoch, wenn mir danach ist. Solange ich glaube, habe ich eine Verbindung zu Gott und ich glaube auch, dass Gott für mich da ist, solange ich ihn brauche. Religion bedeutet für mich die Freiheit, Dinge zu tun, die mit Freude und Fürsorge für meine Mitmenschen zu tun haben. Diese beiden Dinge habe ich durch meine Familie über Religion gelernt und ich versuche, das auch so weiterzutragen.
Wann bist du zum ersten Mal mit Punkrock in Berührung gekommen? Hast du selber Musik gemacht?
2005, nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte und anfing, mit jungen Punks an einem Ort namens PI rumzuhängen, einer Art Kulturtreff. Dort gründete ich 2006 mit meinen Freundinnen unsere erste Band mit dem Namen D’PONIS. Ich wollte selber mit einer Band auf der Bühne stehen und zeigen, dass wir Mädchen das auch können, anstatt mir ständig nur die männlichen Bands anzuschauen. Dann habe ich 2008 D’PONIS verlassen und im selben Jahr eine neue Band namens KROIA gegründet. Zu dieser Zeit wuchs auch mein Interesse für D-Beat und Neo-Crust, was man auch deutlich hörte. Von diesem Zeitpunkt an kam ich außerdem mit dem ganzen Drumherum in Kontakt: Touren mit der Band, Bands aus dem In- und Ausland holen und Konzerte organisieren. Ich vernetzte mich immer weiter, lernte einen Haufen Leute kennen, diskutierte und lernte viel. Das Ende von KROIA war ein schwerer Schlag für mich. Unser Schlagzeuger beging aufgrund einer schweren Depression Selbstmord. Ein Ersatz für ihn war für uns undenkbar. Es macht mich heute noch traurig, dass ich von seiner Situation nichts bemerkt habe. Er hat zwar nie darüber gesprochen, aber wahrscheinlich waren wir zu unsensibel, um selbst darauf zu kommen. Man muss aufmerksamer bei den Problemen seiner Freunde sein. Nach dem Ende von KROIA stieg ich nach einiger Zeit bei einer Band namens OATH ein. Diese Zeit war sehr prägend für mich, ich erinnere mich gerne daran. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Punk bietet mir eine Möglichkeit, eine alternative Lebensweise zu entfalten und nicht von Traditionen abhängig zu sein. Ich kann mich entwickeln. Heute kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, kein Punk zu sein. OATH gaben mir die Begeisterung für Musik zurück. Das war ein Wendepunkt, an dem ich all meine Wut rauslassen konnte. OATH laden dich ein, wütend zu ein, wenn du wütend sein willst, zu weinen, wenn du weinen willst, oder enttäuscht zu sein, wenn du enttäuscht sein willst. Seine Gefühle auszudrücken, ist das beste Mittel gegen Depressionen.
Hat der viel zitierte muslimische Taqwacore aus den USA einen Einfluss auf dich ausgeübt?
Nein, ich habe das Buch von Michael Knight nicht gelesen. Auf YouTube habe ich mir einige Taqwacore-Shows angesehen, das war’s. Hier in Indonesien ist es nichts Besonderes, wenn religiöse Identität und Musik sich vermischen. Das ist hier normal.
Von Bands zum Film: Wann hast du dann angefangen mit deiner Doku über Frauen im indonesischen Hardcore beziehungsweise Punk und wie waren die Reaktionen auf dein Vorhaben?
„Ini Scene Kami Juga!“ startete ursprünglich als Blog. Dort schrieb ich über Bands in der DIY Hardcore- und Punk-Szene, an denen Frauen beteiligt waren. Dabei stieß ich jedoch schnell an Grenzen, da ich irgendwann keine Bands mehr fand und mir dachte, dass es doch seltsam ist, dass es so wenige aktive Frauen in der Szene gibt oder zumindest niemand anderes außer mir das dokumentierte. Also fing ich an, Facebook als Multiplikator für meinen Blog zu nutzen, um quasi mein Sichtfeld zu erweitern. Ich wollte auch diejenigen Frauen finden, die abseits der Bands in der Organisation und Vernetzung einen wichtigen Beitrag für die Szene leisten. Damit beschäftigte ich mich gut zwei Jahre und traf dann die Entscheidung, das Ganze im Film festzuhalten. Auf meiner Film-Website kann man nachschauen, wen ich alles interviewt habe. Die Reaktionen der beteiligten Protagonistinnen waren mehrheitlich gut. Die Frauen sprechen zum Teil über Ängste, die sie außerhalb des Films noch nie angesprochen hatten. Die Publikumsreaktionen waren sehr gemischt. Einige waren der Ansicht, dass ich die Realität nicht abbilde beziehungsweise der Film nicht repräsentativ sei. Wie kann ein dokumentarischer Ansatz nicht realistisch sein? Alle Frauen, die sich in dieser Szene zu Hause fühlen, kämpfen darum, einen eigenen Platz darin zu finden, wenn auch nur im Kleinen. Insgesamt gab es über vierzig Vorführungen der Doku in verschiedenen Städten Südostasiens, Europas, Amerikas und Nepals. Seit 2016 hat sich die Doku in Indonesien mehr als 300-mal verkauft. Und es könnte noch mehr werden, weil auch einige DVDs von Freund*innen in Australien und außerhalb meiner Heimatstadt Bandung vertrieben werden. Für das restliche Ausland verkaufe ich die DVD online. Kontaktiert mich einfach über meine Website. Jetzt arbeite ich noch an der Veröffentlichung eines zweiten Dokumentarfilms, dazu muss ich aber noch die finanziellen Mittel zusammenbekommen.
Dein Ansatz ist ein feministischer. Worin besteht deiner Meinung nach der Unterschied zwischen westlichem und muslimischem Feminismus?
Feminismus ist nicht gleich Feminismus, denn in jedem Land ist die Situation der Frauen und ihrer Rechte anders. In Indonesien ist sie nicht so gut, wie es wünschenswert wäre. Diskriminierung, Gewalt und Missbrauch kommen hier oft vor, auch in der Hardcore- und Punk-Szene selbst. Die Mehrheit unserer Gesellschaft ist sexistisch, das spiegelt sich auch in der Szene wider. Darum haben wir keine andere Wahl, als uns lautstark zu äußern und zu handeln. Viele Frauen schweigen nur aus Angst. Es gibt hier in Indonesien feministische Aktivistinnen mit unterschiedlichstem Hintergrund. Den feministischen Aktivismus muslimischer Frauen finde ich am interessantesten. Es gibt immer noch viele, die denken, dass Frauen im Islam eine niedrigere Stellung haben als Männer. Muslimische Feministinnen denken nicht, dass der Islam auf sie als Frauen oder generell auf Menschen herabsieht. Und in unserer muslimischen Mehrheitsgesellschaft haben diese feministischen Aktivistinnen ihre eigene Nische und darauf sind wir sehr stolz. Machen wir uns nichts vor, der Weg ist noch lang, weil das indonesische Volk es immer noch tabuisiert und es seltsam findet, wenn Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Die Arbeit gegen ignorante Konservative wird noch lang und mühselig sein.
Durch meine westliche, säkulare Brille scheinen Punk und Religion nicht viele Dinge gemeinsam zu haben: Individualismus versus Kollektivismus, Nichtkonformität versus Konformität, mehrheitlich schwulenfreundlich und pro-feministisch, in der Regel atheistisch. Alles in allem scheint es mir, dass die Ursprünge des Punk in säkularen Gesellschaften zu finden sind. Was zieht deiner Meinung nach religiöse Menschen zum Punkrock hin?
Ja, da stimme ich wirklich zu. Aber wir sind ja auch Teil einer Gesellschaft, in der Werte, die für uns irrelevant sind, festgelegt und geschützt werden. Punk und Religion sind sehr, sehr widersprüchlich, das ist für mich aber kein Hindernis. Die Mehrheit der Menschen im Islam betrachtet Homosexualität und Feminismus als Fehler. Ich betrachte Engstirnigkeit als Fehler. Ich habe Religion als etwas kennen gelernt, das alle Menschen als wertvoll betrachtet, unabhängig von ihren Entscheidungen, und ich glaube daran. Ich habe kein Problem damit, einen schwulen Freund oder Freundin zu haben, denn ich respektiere die Wahl der eigenen Lebensweise. Und das ist auch der Grund, warum religiöse Menschen sich so sehr zum Punk hingezogen fühlen, weil sie offen denken.
Kann Punkrock ein Weg sein, um den Islam zu modernisieren? Progressive Muslime in Europa sagen zum Beispiel, dass es eine Art Euro-Islam geben muss, der westliche und traditionelle Werte verbindet. Was hältst du von dieser Idee?
Meiner Meinung nach muss der Islam nicht modernisiert werden, denn der Islam ist eine Religion, die die Zeit überdauert. Ich gehe davon aus, dass der Islam weiterhin wachsen wird. Für mich sind Religion und Tradition auch nicht gleichbedeutend. Traditionelle Regeln sind gesellschaftliche Regeln. Sie können unabhängig von Religion definiert werden. Ich glaube nicht, dass der Euro-Islam die Gesellschaft zum Positiven verändern kann. Kann aber auch sein, dass ich damit komplett falsch liege. In Indonesien können gesellschaftliche Werte nicht in Konkurrenz zu Religion erzwungen werden. Es wird immer Reibungen zwischen ihnen geben, denn traditionelle und religiöse Werte sind manchmal sehr widersprüchlich.
Was verachten konservative Muslime deiner Meinung nach am meisten am Punk? Ist es ein Symbol westlicher Dekadenz? Oder ist das einfach zu rebellisch gegen Gott oder den Propheten?
Ehrlich gesagt, in Indonesien wagt kein Punk, etwas gegen den Propheten oder Gott zu sagen. Konservative Muslime hassen Punk, weil wir uns oft betrinken, die LGBT-Bewegung unterstützen, obwohl das auch nicht alle Punks hier tun, oder einfach bis spät in die Nacht Shows spielen. Sie denken, Punk sei sinnlose Zeitverschwendung, ein nutzloser Teil der Gesellschaft. Viele Punks wissen aber auch nicht viel über die Prinzipien des Punk. Einige pöbeln nur rum, schnorren Geld und belästigen Frauen. Die erkennen gar nicht, dass sie mit dieser Einstellung Teil des Problems der Szene sind. Punk in Indonesien ist immer noch progressiv. An manchen Orten in Indonesien ist die Punk-Szene gut vernetzt, beteiligt sich an Hilfsaktionen für die Armen. Ich denke, Punk wird immer eine der besten alternativen Lebensweisen sein.
In Indonesien wird manchmal Punkrock oder Metal mit strengem Islam vermischt, wie zum Beispiel bei Punk Hijrah und dem One Finger Movement. Einige der Protagonist*innen nennen sich in Analogie zu den „neugeborenen Christen“ „neugeborene Muslime“. Was hältst du davon?
Sie sind mir egal. Denn dem gegenüber steht der Punk, der sich progressiver entwickelt hat als der Hijrah-Punk, oder wie auch immer man ihn nennt. Unser Punk sieht nach vorne und wir kümmern uns hier nicht um solche rückwärts gewandten Dinge. Je mehr wir über sie diskutieren, desto größer ist der Gefallen, den wir ihnen tun. Wir wollen ihnen keine Bühne bieten. Sie sind ein begrenztes Phänomen und keine Bedrohung für die Szene oder mich persönlich. Die „normale“ Szene ist wesentlich größer und, wie gesagt, sie ist lebendig durch gut besuchte Konzerte, Touren und gemeinsame Aktionen.
Das Logo des Frauenmarsches gegen Trump war die Silhouette einer Frau mit einem Hijab, ein traditionelles muslimisches Kopftuch, das moderne und weltliche Musliminnen nicht tragen müssen, soweit ich weiß. Was hältst du davon, liberale Frauenrechte in den USA mit einem traditionellen Vorbild für Frauen in der muslimischen Kultur zu verbinden?
Nun, bei uns ist das anders. Moderne Frauen beginnen den Hijab sogar bei politischen Aktionen zu tragen. Ich glaube nicht, dass es grundlegend ein Problem ist, denn wie wir wissen, treibt Trump immer Muslime in die Enge, deshalb finde ich das Hijab-Logo sehr gut. Ich denke, die Kombination aus liberalen Frauenrechten und Traditionen ist immer dann in Ordnung, solange auf Augenhöhe diskutiert wird. Darüber hinaus haben Frauen das Recht zu entscheiden, wie sie aussehen und was sie sein wollen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #145 August/September 2019 und Daniel Schubert